selbst bestimmt sterben ist ein Buch, das zum Nachdenken über die eigene Einstellung zum Leben und zum Sterben anregt. Es bietet keine Patentrezepte - wohl aber konkrete Hinweise darauf, wie man sich auf die letzte Lebensphase so vorbereiten kann, dass sie den eigenen Wünschen entspricht. Gian Domenico Borasio erläutert in klar verständlicher Sprache, worauf es auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Lebensende wirklich ankommt. Die öffentliche Debatte über das Lebensende wird auf unverantwortliche Weise auf die Frage nach Euthanasie bzw. Suizidhilfe reduziert. Dabei betreffen diese Möglichkeiten, aus dem Leben zu scheiden, selbst dort wo sie gesetzlich erlaubt werden, nur einen winzigen Teil der Bevölkerung. Was ist aber mit der riesengroßen Mehrheit an Menschen, für die es nicht darum geht, den eigenen Todeszeitpunkt selbst bestimmen zu wollen? Was bedeutet "selbstbestimmtes Sterben" in der modernen Gesellschaft? Und was hat es mit all diesen verwirrenden Begriffen auf sich, die durcheinandergebracht werden: aktive, passive, indirekte Sterbehilfe, Behandlungsabbruch, Suizidhilfe und so weiter? Der Autor schöpft aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Betreuen und Begleiten von Schwerstkranken und Sterbenden, um mit vielen weit verbreiteten Missverständnissen aufzuräumen. Ausgehend von den neuesten wissenschaftlichen Studien führt das Buch den Leser Schritt für Schritt dazu, seine ganz eigenen Vorstellungen über das Lebensende zu entwickeln, und beschreibt Mittel und Wege, um diesem Ziel - trotz aller Hindernisse - möglichst nahe zu kommen.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Seit einigen Jahren wird die Debatte um aktive und passive Sterbehilfe wieder vehement geführt, weiß Gabriele von Arnim, nach wie vor ist umstritten, ob Ärzte die "Intention der Lebensverkürzung" unterstützen, oder am klassischen Anspruch, "Leben um jeden Preis zu retten" festhalten sollten. Am Anfang von Gian Domenico Borasios Buch "selbst bestimmt sterben" lauert eine merkwürdige Formulierung, verrät die Rezensentin, vom "Sterben für Fortgeschrittene" ist dort die Rede, ein unglücklicher Einstieg, findet von Arnim. Der Rest des Buches zeugt aber von den beeindruckenden Kenntnissen des Palliativmediziners, der überraschenderweise sogar den Auszug eines Gesetzesentwurfes vorlegt, den er mit drei Kollegen verfasst hat, und der, unter strengen Restriktionen wohlgemerkt, eine Legalisierung des assistierten Suizids vorsieht, erklärt die Rezensentin. Borasio macht also einen entschiedenen Schritt aus dem üblichen Lagerdenken hinaus, lobt von Arnim.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2015Die Individualität des Sterbens
Ein leidenschaftliches Plädoyer gegen staatliche Einmischung in die letzten Momente
Niemandem darf die eigene Anschauung über das Sterben übergestülpt werden, jeder stirbt anders, weil jeder anders gelebt hat. Diese Erkenntnis gehört zu den bemerkenswerten Grundeinsichten des erfahrenen Palliativmediziners Gian Domenico Borasio, der schon Ende des vergangenen Jahres ein Buch mit dem Titel "Selbstbestimmt sterben" vorgelegt hat, das nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Denn vor dem Herbst der Entscheidung über den künftigen Umgang mit dem assistierten Suizid in Deutschland häufen sich die Stimmen derer, die schon immer besser wussten, was für andere gut ist.
Borasio versucht jedoch unter seinen eigenen Fachkollegen und in der Gesellschaft dafür zu werben, Todgeweihten hörend zu begegnen. Er wehrt sich strikt gegen den Versuch, Menschen, die auf der letzten Strecke ihres Lebens sind und das auch wissen, bevormundend oder gar paternalistisch zu begegnen. "Die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein, oder sie wird nicht sein", schreibt Borasio und weiß, wie viel Empathie und Zeit der behandelnde Arzt des Vertrauens dem Todgeweihten widmen muss, um tatsächlich zu verstehen, was er und die Angehörigen wollen und auf welcher ethischen oder religiösen Grundlage und vor allem auf welchem Lebenshintergrund er seine Entscheidungen getroffen hat. Denn am Ende geht es nicht in erster Linie um die Wahl des Todeszeitpunktes, sondern um das "Sterben in Würde", das aufs engste mit dem Leben verknüpft ist: "In der Palliativmedizin lassen sich Entscheidungen, die auf einen Außenstehenden etwas irrational wirken können, oft mit einem Blick auf die Lebensgeschichte der Patienten erklären." Das zwingt den Arzt in der Tat, diese auch einfühlsam zu ergründen, aber auch genügend Zeit in die Gespräche mit Angehörigen zu investieren. Nur die Kommunikation mit allen Beteiligten wird dem Patientenwillen Geltung verschaffen können, und zwar besser, als ein im stillen Kämmerlein ausgefülltes Formular es je vermocht hätte. Die Patientenverfügung sieht er deshalb als Ausdruck von und nicht als Ersatz für einen solchen Dialog.
Leidenschaftlich plädiert Borasio dafür, Verweigerungshaltungen Kranker zu akzeptieren. Selbst unter einer optimalen Palliativversorgung wird es seiner Erfahrung nach auch in Zukunft Patienten geben, die angesichts einer schweren Krankheit sagen, dass sie das, was ihnen noch bevorsteht, nicht mehr erleben wollen. Es sei "nicht Aufgabe des Staates, in diesem höchstpersönlichen Bereich den Bürgern ethisch einseitige Vorgaben zu machen", schreibt der Inhaber des palliativmedizinischen Lehrstuhls in Lausanne, der auch an der TU München einen Lehrauftrag hat. Mit einigen Fachkollegen zusammen hat er deshalb einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, der einen ärztlich assistierten Suizid unter strengen Restriktionen ermöglichen soll.
Mit entschiedener Ablehnung begegnet Borasio einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen, wie sie in den Niederlanden üblich ist, aber auch einem völligen Verbot jeder Form einer "Hilfe zum Sterben", wie in Österreich oder Italien. Ihm geht es um nicht mehr und nicht weniger als um eine nüchterne, sachgerechte und alle wichtigen Aspekte umfassende Diskussion über die Selbstbestimmung am Lebensende, die unterschiedliche Wünsche und Wertvorstellungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen aufmerksam ergründet und sie vor allem respektiert. Viele der jetzt im Bundestag vorliegenden Gruppenanträge für eine mögliche Gesetzesänderung scheinen allerdings mehr dazu angetan zu sein, eigene Erfahrungen und Wertvorstellungen zu Leitlinien der ganzen Gesellschaft zu erheben als Wege zu eröffnen, auch andere Entscheidungen als begründet und in ihrer jeweiligen Individualität biographisch stimmig zu akzeptieren. Wie auch immer der Bundestag im November entscheidet, sollte die künftige Regelung Freiräume sichern und Entscheidungsspielräume erhalten.
Borasios Buch ist als Fortsetzung seines Bestsellers "Über das Sterben" gedacht, lässt sich jedoch genauso gut eigenständig wahrnehmen. Wer rasch über die wichtigsten Argumente in der Auseinandersetzung über den assistierten Suizid Klarheit gewinnen will, vor allem aber über sein eigenes Ende und eine Patientenverfügung nachzudenken beginnt, wird es mit Gewinn lesen.
HEIKE SCHMOLL
Gian Domenico Borasio, Selbst bestimmt sterben. C.H. Beck, 206 Seiten, 17,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein leidenschaftliches Plädoyer gegen staatliche Einmischung in die letzten Momente
Niemandem darf die eigene Anschauung über das Sterben übergestülpt werden, jeder stirbt anders, weil jeder anders gelebt hat. Diese Erkenntnis gehört zu den bemerkenswerten Grundeinsichten des erfahrenen Palliativmediziners Gian Domenico Borasio, der schon Ende des vergangenen Jahres ein Buch mit dem Titel "Selbstbestimmt sterben" vorgelegt hat, das nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Denn vor dem Herbst der Entscheidung über den künftigen Umgang mit dem assistierten Suizid in Deutschland häufen sich die Stimmen derer, die schon immer besser wussten, was für andere gut ist.
Borasio versucht jedoch unter seinen eigenen Fachkollegen und in der Gesellschaft dafür zu werben, Todgeweihten hörend zu begegnen. Er wehrt sich strikt gegen den Versuch, Menschen, die auf der letzten Strecke ihres Lebens sind und das auch wissen, bevormundend oder gar paternalistisch zu begegnen. "Die Medizin der Zukunft wird eine hörende sein, oder sie wird nicht sein", schreibt Borasio und weiß, wie viel Empathie und Zeit der behandelnde Arzt des Vertrauens dem Todgeweihten widmen muss, um tatsächlich zu verstehen, was er und die Angehörigen wollen und auf welcher ethischen oder religiösen Grundlage und vor allem auf welchem Lebenshintergrund er seine Entscheidungen getroffen hat. Denn am Ende geht es nicht in erster Linie um die Wahl des Todeszeitpunktes, sondern um das "Sterben in Würde", das aufs engste mit dem Leben verknüpft ist: "In der Palliativmedizin lassen sich Entscheidungen, die auf einen Außenstehenden etwas irrational wirken können, oft mit einem Blick auf die Lebensgeschichte der Patienten erklären." Das zwingt den Arzt in der Tat, diese auch einfühlsam zu ergründen, aber auch genügend Zeit in die Gespräche mit Angehörigen zu investieren. Nur die Kommunikation mit allen Beteiligten wird dem Patientenwillen Geltung verschaffen können, und zwar besser, als ein im stillen Kämmerlein ausgefülltes Formular es je vermocht hätte. Die Patientenverfügung sieht er deshalb als Ausdruck von und nicht als Ersatz für einen solchen Dialog.
Leidenschaftlich plädiert Borasio dafür, Verweigerungshaltungen Kranker zu akzeptieren. Selbst unter einer optimalen Palliativversorgung wird es seiner Erfahrung nach auch in Zukunft Patienten geben, die angesichts einer schweren Krankheit sagen, dass sie das, was ihnen noch bevorsteht, nicht mehr erleben wollen. Es sei "nicht Aufgabe des Staates, in diesem höchstpersönlichen Bereich den Bürgern ethisch einseitige Vorgaben zu machen", schreibt der Inhaber des palliativmedizinischen Lehrstuhls in Lausanne, der auch an der TU München einen Lehrauftrag hat. Mit einigen Fachkollegen zusammen hat er deshalb einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, der einen ärztlich assistierten Suizid unter strengen Restriktionen ermöglichen soll.
Mit entschiedener Ablehnung begegnet Borasio einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen, wie sie in den Niederlanden üblich ist, aber auch einem völligen Verbot jeder Form einer "Hilfe zum Sterben", wie in Österreich oder Italien. Ihm geht es um nicht mehr und nicht weniger als um eine nüchterne, sachgerechte und alle wichtigen Aspekte umfassende Diskussion über die Selbstbestimmung am Lebensende, die unterschiedliche Wünsche und Wertvorstellungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen aufmerksam ergründet und sie vor allem respektiert. Viele der jetzt im Bundestag vorliegenden Gruppenanträge für eine mögliche Gesetzesänderung scheinen allerdings mehr dazu angetan zu sein, eigene Erfahrungen und Wertvorstellungen zu Leitlinien der ganzen Gesellschaft zu erheben als Wege zu eröffnen, auch andere Entscheidungen als begründet und in ihrer jeweiligen Individualität biographisch stimmig zu akzeptieren. Wie auch immer der Bundestag im November entscheidet, sollte die künftige Regelung Freiräume sichern und Entscheidungsspielräume erhalten.
Borasios Buch ist als Fortsetzung seines Bestsellers "Über das Sterben" gedacht, lässt sich jedoch genauso gut eigenständig wahrnehmen. Wer rasch über die wichtigsten Argumente in der Auseinandersetzung über den assistierten Suizid Klarheit gewinnen will, vor allem aber über sein eigenes Ende und eine Patientenverfügung nachzudenken beginnt, wird es mit Gewinn lesen.
HEIKE SCHMOLL
Gian Domenico Borasio, Selbst bestimmt sterben. C.H. Beck, 206 Seiten, 17,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wer rasch über die wichtigsten Argumente in der Auseinandersetzung über den assistierten Suizid Klarheit gewinnen will wird es mit Gewinn lesen." Heike Schmoll, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. August 2015