Wie ist der menschliche Geist aufgebaut? Wie entsteht Subjektivität? Wie funktioniert Denken? Und was hat es mit dem ominösen freien Willen auf sich? Fragen wie diese beschäftigen seit jeher die Philosophie, aber auch die Psychologie. Wolfgang Prinz, einer der herausragenden Vertreter dieses Fachs, legt nun mit »Selbst im Spiegel« eine Theorie des Geistes vor, die den traditionellen kognitionspsychologischen Rahmen maßgeblich erweitert und zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Philosophie, zu den Neurowissenschaften und zu den Sozialwissenschaften bietet. Kraftzentrum des Buches ist die These, dass der individuelle menschliche Geist ein radikal offenes System ist, das keineswegs »fertig« auf die Welt kommt. Seine Architektur und seine zentralen Funktionen müssen erst geschaffen und geformt werden - und zwar von ihm selbst in Interaktion mit anderen geistbegabten Wesen. Prinz zeigt, wie angeborene Repräsentationsmechanismen und soziale Praktiken - Spiegelsysteme und Spiegelspiele - zusammen ein mächtiges Instrument bilden: zur Abstimmung einzelner geistbegabter Wesen aufeinander, aber auch zur Gestaltung des eigenen Geistes nach dem Vorbild anderer. Erst im Spiegel der anderen sehen und verstehen wir, was Denken und Handeln ist. Erst nachdem wir Subjektivität bei anderen entdeckt haben, schreiben wir sie uns selbst zu. Sie ist ein soziales Artefakt - ebenso wie der freie Wille und andere Überzeugungen über den menschlichen Geist. Dass sie gleichwohl keine Illusionen sind, sondern ebenso real wie Naturtatsachen, ist eine der Pointen dieser bahnbrechenden Untersuchung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2013In der Cloud sind wir doch immer schon!
Wolfgang Prinz führt kognitionswissenschaftlich aus, warum der Geist absolut keine private Angelegenheit ist
Am Anfang stand eine Einsicht, die Grundsätze von Lehrbüchern der Psychologie auf den Kopf stellte: Handeln und Wahrnehmen haben eine gemeinsame neuronale Grundlage. Ob ich eine Tasse nehme oder einen anderen eine Tasse nehmen sehe, ist neuronal erst einmal kein großer Unterschied. Gut fünfundzwanzig Jahre später und bestätigt durch die Entdeckung der berühmten Spiegelneuronen, ist aus dieser Einsicht eine ganzes Forschungsfeld geworden. Wolfgang Prinz, Psychologe und Vater der Theorie des Common Coding, der geteilten Kodierung von Wahrnehmung und Handlung, macht das Spiegeln in seinem neuen Buch zur Grundlage eine ganzen Kognitionstheorie. Philosophische Dauerbrenner, etwa wie wir vom Geist der Mitmenschen wissen können oder wozu das bewusste Erleben gut ist oder wie Wollen zu Handeln führen kann, werden darin ebenso behandelt wie die Frage nach dem Ursprung der Sprache.
Prinz setzt an bei unseren alltagspsychologischen Intuitionen über Fähigkeiten des Geistes. Ihrem Wahrheitsgehalt stellt er ein schlechtes Zeugnis aus: Was das tatsächliche Funktionieren des Geistes angehe, könne man ihnen nicht über den Weg trauen. Kein privilegierter innerer Zugang zu sich selbst verhelfe dem Menschen zu einer guten Kenntnis seiner selbst. Dass wir uns frei fühlen, heiße nicht, dass wir es auch sind. Um die eigenen Gefühle und Handlungen zu verstehen, gibt es nach Prinz nur einen Weg: sich von außen wahrzunehmen, und zwar im Spiegel der anderen.
Denn zuerst mache sich der Mensch einen Reim auf die Handlungen der anderen. Er interpretiere sie als Ergebnis von Wünschen, Absichten und Plänen der Mitmenschen statt bloß als Reaktion auf die Umstände. Erst wenn die anderen ihrerseits das eigene Verhalten auf diese Weise interpretieren und zurückspiegelten, wende er diese Erklärungsmuster auch auf die eigenen Handlungen an. Erst in diesem Prozess werde er zu einem Akteur mit eigenem Selbst und eigenem Willen. Allerdings ohne dass diese Selbstzuschreibung etwas über die Mechanismen sage, die seine Handlungen tatsächlich hervorbringen.
Doch auch wenn auf unsere alltagspsychologischen Intuitionen kein Verlass ist, geht es dem Autor nicht darum, uns eines Besseren zu belehren. Denn was wir vom Funktionieren unseres Geistes glauben, das beeinflusst für Prinz, wie er tatsächlich funktioniert. Indem Menschen etwa Willensfreiheit für sich und andere in Anspruch nehmen, lassen sie sich darauf ein, als verantwortliche Akteure betrachtet und für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Die Frage, wie wir vom Geist anderer wissen können, erledigt sich so von selbst: Wir bilden den eigenen Geist nach dem Vorbild des Geistes der anderen. Das Gehirn hat also eher ein Problem damit, die Geister auseinanderzuhalten, als den Geist des anderen auf irgendwelchen Umwegen zu erschließen. Wir sind schon in frühester Kindheit mit Mechanismen ausgestattet, Handlungspläne unserer Mitmenschen zu erfassen und zu übernehmen, erklärt Prinz. Das öffne den individuellen Geist für die kollektive Erfahrung und die sozialen Regeln, ermögliche dem Individuum, die eigenen Handlungen in den Begriffen der gemeinsamen Sprache zu beschreiben, und damit letztendlich das Leben in Gesellschaften. Die Interaktion ist die zentrale Voraussetzung für die Entwicklung des Geistes - und sorgt zugleich für die Einheitlichkeit der Form des Geistes in der Gesellschaft.
Das Bild vom sozial konstruierten Geist ist in der Philosophiegeschichte nicht neu. Neu ist, nach Art der Kognitionsforschung auszubuchstabieren, wie die Spiegelspiele im Detail vor sich gehen könnten, nicht nur beim Menschen, sondern in jedem kognitiven System, im Prinzip auch in einem Roboter oder seiner Steuerung. Das Bild des offenen Geistes, wie Prinz es zeichnet, hat zudem nicht nur Folgen für unser Selbstverständnis, sondern auch für die Forschung: Die Kognitionswissenschaft sollte sich auf Geister in Interaktion konzentrieren, statt die Versuchspersonen allein vor ihre Monitore zu setzen. Leider leidet die Lesbarkeit des Buches unter sperrigen Kunstwörtern wie "Agentivität" oder "Animativität", in denen sich bemerkbar macht, dass Kognitionsforschung auf Englisch stattfindet.
Der Geist sitzt nicht im Kopf, auch wenn sich das so anfühlen mag. Eher bildet er eine Cloud, in die sich jeder einloggt, der sprechen und denken lernt. Nicht umsonst nennt Prinz seine Theorie "radikal kollektivistisch". Eine faszinierende, aber nicht unbedingt angenehme Vorstellung. Der Preis für soziale Unterstützung war schon immer der Verzicht auf Selbstbestimmung, versucht der Autor zu trösten. Zudem gilt: Die alltagspsychologische Intuition, dass der Mensch mehr kann, als sich von der Gesellschaft mitreißen zu lassen, kann auch wirken, wenn sie falsch ist.
MANUELA LENZEN
Wolfgang Prinz: "Selbst im Spiegel". Die soziale Konstruktion von Subjektivität.
Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 502 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolfgang Prinz führt kognitionswissenschaftlich aus, warum der Geist absolut keine private Angelegenheit ist
Am Anfang stand eine Einsicht, die Grundsätze von Lehrbüchern der Psychologie auf den Kopf stellte: Handeln und Wahrnehmen haben eine gemeinsame neuronale Grundlage. Ob ich eine Tasse nehme oder einen anderen eine Tasse nehmen sehe, ist neuronal erst einmal kein großer Unterschied. Gut fünfundzwanzig Jahre später und bestätigt durch die Entdeckung der berühmten Spiegelneuronen, ist aus dieser Einsicht eine ganzes Forschungsfeld geworden. Wolfgang Prinz, Psychologe und Vater der Theorie des Common Coding, der geteilten Kodierung von Wahrnehmung und Handlung, macht das Spiegeln in seinem neuen Buch zur Grundlage eine ganzen Kognitionstheorie. Philosophische Dauerbrenner, etwa wie wir vom Geist der Mitmenschen wissen können oder wozu das bewusste Erleben gut ist oder wie Wollen zu Handeln führen kann, werden darin ebenso behandelt wie die Frage nach dem Ursprung der Sprache.
Prinz setzt an bei unseren alltagspsychologischen Intuitionen über Fähigkeiten des Geistes. Ihrem Wahrheitsgehalt stellt er ein schlechtes Zeugnis aus: Was das tatsächliche Funktionieren des Geistes angehe, könne man ihnen nicht über den Weg trauen. Kein privilegierter innerer Zugang zu sich selbst verhelfe dem Menschen zu einer guten Kenntnis seiner selbst. Dass wir uns frei fühlen, heiße nicht, dass wir es auch sind. Um die eigenen Gefühle und Handlungen zu verstehen, gibt es nach Prinz nur einen Weg: sich von außen wahrzunehmen, und zwar im Spiegel der anderen.
Denn zuerst mache sich der Mensch einen Reim auf die Handlungen der anderen. Er interpretiere sie als Ergebnis von Wünschen, Absichten und Plänen der Mitmenschen statt bloß als Reaktion auf die Umstände. Erst wenn die anderen ihrerseits das eigene Verhalten auf diese Weise interpretieren und zurückspiegelten, wende er diese Erklärungsmuster auch auf die eigenen Handlungen an. Erst in diesem Prozess werde er zu einem Akteur mit eigenem Selbst und eigenem Willen. Allerdings ohne dass diese Selbstzuschreibung etwas über die Mechanismen sage, die seine Handlungen tatsächlich hervorbringen.
Doch auch wenn auf unsere alltagspsychologischen Intuitionen kein Verlass ist, geht es dem Autor nicht darum, uns eines Besseren zu belehren. Denn was wir vom Funktionieren unseres Geistes glauben, das beeinflusst für Prinz, wie er tatsächlich funktioniert. Indem Menschen etwa Willensfreiheit für sich und andere in Anspruch nehmen, lassen sie sich darauf ein, als verantwortliche Akteure betrachtet und für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Die Frage, wie wir vom Geist anderer wissen können, erledigt sich so von selbst: Wir bilden den eigenen Geist nach dem Vorbild des Geistes der anderen. Das Gehirn hat also eher ein Problem damit, die Geister auseinanderzuhalten, als den Geist des anderen auf irgendwelchen Umwegen zu erschließen. Wir sind schon in frühester Kindheit mit Mechanismen ausgestattet, Handlungspläne unserer Mitmenschen zu erfassen und zu übernehmen, erklärt Prinz. Das öffne den individuellen Geist für die kollektive Erfahrung und die sozialen Regeln, ermögliche dem Individuum, die eigenen Handlungen in den Begriffen der gemeinsamen Sprache zu beschreiben, und damit letztendlich das Leben in Gesellschaften. Die Interaktion ist die zentrale Voraussetzung für die Entwicklung des Geistes - und sorgt zugleich für die Einheitlichkeit der Form des Geistes in der Gesellschaft.
Das Bild vom sozial konstruierten Geist ist in der Philosophiegeschichte nicht neu. Neu ist, nach Art der Kognitionsforschung auszubuchstabieren, wie die Spiegelspiele im Detail vor sich gehen könnten, nicht nur beim Menschen, sondern in jedem kognitiven System, im Prinzip auch in einem Roboter oder seiner Steuerung. Das Bild des offenen Geistes, wie Prinz es zeichnet, hat zudem nicht nur Folgen für unser Selbstverständnis, sondern auch für die Forschung: Die Kognitionswissenschaft sollte sich auf Geister in Interaktion konzentrieren, statt die Versuchspersonen allein vor ihre Monitore zu setzen. Leider leidet die Lesbarkeit des Buches unter sperrigen Kunstwörtern wie "Agentivität" oder "Animativität", in denen sich bemerkbar macht, dass Kognitionsforschung auf Englisch stattfindet.
Der Geist sitzt nicht im Kopf, auch wenn sich das so anfühlen mag. Eher bildet er eine Cloud, in die sich jeder einloggt, der sprechen und denken lernt. Nicht umsonst nennt Prinz seine Theorie "radikal kollektivistisch". Eine faszinierende, aber nicht unbedingt angenehme Vorstellung. Der Preis für soziale Unterstützung war schon immer der Verzicht auf Selbstbestimmung, versucht der Autor zu trösten. Zudem gilt: Die alltagspsychologische Intuition, dass der Mensch mehr kann, als sich von der Gesellschaft mitreißen zu lassen, kann auch wirken, wenn sie falsch ist.
MANUELA LENZEN
Wolfgang Prinz: "Selbst im Spiegel". Die soziale Konstruktion von Subjektivität.
Aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 502 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Kollektive oder Einzelseele? Für Hans Bernhard Schmid ist das nicht unbedingt die Frage. Er kann sich auch ein plurales Vertrautsein des Menschen mit sich selbst vorstellen, das vor aller Spiegelung des Selbst im andern Gegenüber liegt. Was der Psychologe Wolfgang Prinz in seinem Buch gleichsam von der Spitze der Forschung herunter über die Spiegelung als Urmechanismus der Seelenbildung zu sagen hat, findet er dennoch spannend und gut zu lesen. Kein Wunder, bietet ihm Prinz doch empirisches Material in Fülle und bringt den "konstruktivistischen Kollektivismus" nun auch gegen das philosophische "Rätsel der Subjektivität" in Stellung. Eben hier allerdings scheint der Rezensent nicht ganz überzeugt und möchte sich eine vor aller Spiegelung liegende "basale Ebene des Selbstseins" nicht ausreden lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Das Bild des offenen Geistes, wie Prinz es zeichnet, hat ... nicht nur Folgen für unser Selbstverständnis, sondern auch für die Forschung.« Manuela Lenzen Frankfurter Allgemeine Zeitung 20130619