Eine WG in Frankfurt am Main: Eva (Mode-Redakteurin, Kunsthistorikerin, »Prinzessin«), Genoveva (autodidaktische Sexualwissenschaftlerin, Forschungsschwerpunkte: Autogynophilie und Selfie Culture) und Venus (androgynes Model, Kulturwissenschaftlerin, Forschungsschwerpunkt:die Kolonien deutscher Vormärz-Auswanderer in Texas, insbesondere die Geschichte der nach Bettina von Arnim benannten libertären Kommune am Llano River). Sie schießen Modestrecken auf der Baustelle der EZB, werden Zeuge der polizeilichen Erstürmung des Instituts für Vergleichende Irrelevanz, gehen tanzen im »Robert Johnson« und suchen nach Zärtlichkeit jenseits einer von Freud, Foucault oder Butler als Gefängnis geschilderten Sexualität. Sie sind die Hauptfiguren in einem mal platonischen, mal erotischen Postgender-Liebesreigen, inszeniert von Thomas Meinecke, feministischer Autor, Anhänger weiblichen Schreibens und Schriftsteller-Darsteller im eigenen Roman.»Studieren wir also: die feinen Verästelungen, die sich zwischen Subkultur und Höhenkammartistik, kanonisierter Geschichte und historischerKolportage ergeben.« Daniel Haas, FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016Leb wohl, leb wohl, das ist mir zu frivol
Thomas Meinecke wirft in seinem Roman "Selbst" einen durch Geschlechter- und Popdiskurs geschärften Blick auf die Liebesentwürfe von heute.
Von Mark Siemons
Thomas Meinecke ist auch als Romanautor ein DJ; beim Schreiben, sagte er einmal, solle man sich ihn statt neben einer Kiste Platten neben einem Stapel Bücher vorstellen, die er nach Belieben sampelt, mixt, rekontextualisiert und sich dabei überlegt: "Nach einer gewissen Strecke Butler wäre es mal wieder Zeit für ein bisschen Weininger oder Mark Twain oder de Maistre." Das hat sich seit 1998, als er auf diese Weise "Tomboy" montierte, nicht groß geändert.
In "Selbst" gibt es bloß eine Minimalhandlung, die allein die Funktion zu haben scheint, die verschiedenen Text- und Theoriebausteine lose miteinander zu verknüpfen. Drei schöne junge Frauen namens Eva, Genoveva und Venus leben zusammen in einer WG in Frankfurt am Main, bald noch ergänzt durch ihre Liebhaber Henri und Sirius. Die fünf haben keine Vergangenheit und keine Entwicklung, die der Rede wert wäre, sie bekommen allein durch ein paar Lokalitäten im Rhein-Main-Gebiet wie den Club Robert Johnson oder das linke Institut für Irrelevanz eine gewisse zeitgenössische Verortung, vor allem aber lesen und diskutieren sie unentwegt, insbesondere darüber, wie sich Geschlechter umwandeln, verkleiden oder neu interpretieren lassen. Das beschäftigt sie allerdings nicht aus irgendeiner persönlichen Notwendigkeit heraus, wie bei Leuten, die sich im falschen Geschlecht fühlen und nun zum Beispiel ihre wahre Sexualität suchen. Derlei würde den diskursfreudigen WG-Bewohnern wahrscheinlich so vorkommen, als werde da bloß der eine Essentialismus durch einen anderen ersetzt.
Feminismus und Gender interessieren sie vielmehr abstrakt, als Muster eines gerade nicht essentialistischen, nicht festgelegten Lebens, wie es ähnlich auch Techno oder Mode für sie sind. Ständig klopfen sie die neuesten Theorien und Praktiken darauf ab, was dabei für eine solchen Verflüssigung herausspringt. Ausführliche Zitatstrecken von Anäis Nin, Susan Sontag oder Barbara Vinken, zum Teil auf Englisch, gehen ebenso durch sie hindurch wie Berichte über Nina Kraviz oder Lana Del Rey oder Texte zu Bettina von Arnim oder sozialistische deutsche Siedler in Amerika. So verschwimmen Text- und Gendergrenzen gleichzeitig: Was von den Protagonisten erörtert wird, realisiert der Roman parallel mit seiner Sampling-Methode, Inhalt und Form bestätigen sich gegenseitig und fügen sich zu einem in sich geschlossenen Hohelied der Uneigentlichkeit.
Für den Kritiker wirft ein solches Verfahren Fragen auf. Lässt sich so eine Art Literatur überhaupt rezensieren? Oder kann man wie bei einer Clubnacht allenfalls etwas darüber sagen, ob die Effekte an den Schnittstellen funktionieren, ob irgendein Flow, womöglich ein Gemeinschaftsgefühl innerhalb eines bestimmten Milieus, zustande kommt? Oder geht es vielleicht doch noch um etwas anderes?
Mehrere Umstände lassen stutzen. Die WG-Bewohner unterhalten sich zwar permanent über Geschlechtergrenzüberschreitungen und Sex, doch die beiden Paare unter ihnen sind eher konventionell heterosexuell, und überdies kommt es bei ihnen gar nicht zum Geschlechtsakt. Diese "ewigen Vorspiele" erhalten vor dem Hintergrund der Theorien Jean-Luc Nancys etwas geradezu Metaphysisches als der Punkt, "an dem das Anrühren des Sinns identisch mit seinem Rückzug ist". Die Möglichkeit eines Sinns spielt inmitten der Feier des Fließens und des immer neuen Durchkreuzens alles Fixierten, Festgezurrten, also durchaus eine Rolle, als ein Pol im Hintergrund, der dem Textrauschen überhaupt erst Spannung gibt. Denn das unablässige, allenfalls durch Ausstellungs- und Clubbesuche unterbrochene Schwadronieren wird zwar als das Selbstverständlichste der Welt dargestellt, aber das ist es innerhalb der Text-Dramaturgie keineswegs, sonst würde es über fast fünfhundert Seiten hinweg nicht so ausdauernd geschildert.
In die Affirmation mischt sich, nicht ohne Sinn für komische Nebeneffekte, ein ethnologisch distanzierter Blick auf dieses eigenartige Leben in der Abstraktion, das sich so sehr in Texten bewegt, dass ihm schließlich auch alles andere zu Text wird. Einmal wird von Henri berichtet, dass er zärtlich Evas "Körper in einzelnen Partien (Kapiteln gleich) inspiziert". Kapiteln gleich: Auch wenn diese Leute miteinander reden, dann in Zitaten, die sie augenblicklich als solche erkennen. "E: Findest du mich hübsch? H: Jean-Luc Godards LE MEPRIS jetzt schon wieder? E: Es war ein Zitat, aber auch eine Frage." Der Nachsatz ist die Pointe: Die habituelle Dekonstruktion soll nicht hindern, dass man es zugleich auch ernst, real meint.
Einmal schauen Venus und Sirius voller Faszination auf eine Hausfassade in Berlin Neukölln, hinter der sie etwas vermuten, das "hochaktuell" ist, "wie aus einem Video Ryan Trecartins". Doch dann sieht der Türsteher des Clubs eher analog aus, "wahrscheinlich HEAVY METAL", und die beiden gehen lieber doch nicht hinein, denken stattdessen darüber nach, ob sie sich nicht "schon so sehr an die Oberfläche POST-INTERNET gewöhnt" haben, dass sie ständig Gefahr laufen, in deren Fallen zu gehen: " Macht aber nichts, ergänzt Venus, genau das hält uns ja wach." Läuft darauf all dieser bombastische Aufwand an Theorie und Distinktionsanstrengung hinaus: dass er uns "wach" hält, als Aufputschmittel gegen eine allzeit drohende Apathie?
Das Überraschende ist, dass es dem Roman inmitten seines Uneigentlichkeits-Stakkatos wirklich um etwas zu gehen scheint, das man, frei gegen Adorno, so zusammenfassen könnte: Es gibt ein echtes Leben im künstlichen. Auf der letzten Seite klingen alle Hintergrundgeräusche, zu denen man auch das Kulturgesumm zählen könnte, plötzlich wie Musik, wie "körperlose Boten, die Botschaft der Fleischwerdung verkündend", bevor sie sich dann wieder "in die übliche Kakophonie" auflösen. Diese Erscheinung hat "Thomas" selbst, der im Text sich aufhebende Autor, der zuvor immer wieder als Freund der Protagonisten aufgetaucht war. Die Frage ist nur: Hätte man diese Erleuchtung nicht auch weniger mühevoll haben können, mit etwas weniger Geräuschen, mehr Musik?
Thomas Meinecke: "Selbst". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 472 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Meinecke wirft in seinem Roman "Selbst" einen durch Geschlechter- und Popdiskurs geschärften Blick auf die Liebesentwürfe von heute.
Von Mark Siemons
Thomas Meinecke ist auch als Romanautor ein DJ; beim Schreiben, sagte er einmal, solle man sich ihn statt neben einer Kiste Platten neben einem Stapel Bücher vorstellen, die er nach Belieben sampelt, mixt, rekontextualisiert und sich dabei überlegt: "Nach einer gewissen Strecke Butler wäre es mal wieder Zeit für ein bisschen Weininger oder Mark Twain oder de Maistre." Das hat sich seit 1998, als er auf diese Weise "Tomboy" montierte, nicht groß geändert.
In "Selbst" gibt es bloß eine Minimalhandlung, die allein die Funktion zu haben scheint, die verschiedenen Text- und Theoriebausteine lose miteinander zu verknüpfen. Drei schöne junge Frauen namens Eva, Genoveva und Venus leben zusammen in einer WG in Frankfurt am Main, bald noch ergänzt durch ihre Liebhaber Henri und Sirius. Die fünf haben keine Vergangenheit und keine Entwicklung, die der Rede wert wäre, sie bekommen allein durch ein paar Lokalitäten im Rhein-Main-Gebiet wie den Club Robert Johnson oder das linke Institut für Irrelevanz eine gewisse zeitgenössische Verortung, vor allem aber lesen und diskutieren sie unentwegt, insbesondere darüber, wie sich Geschlechter umwandeln, verkleiden oder neu interpretieren lassen. Das beschäftigt sie allerdings nicht aus irgendeiner persönlichen Notwendigkeit heraus, wie bei Leuten, die sich im falschen Geschlecht fühlen und nun zum Beispiel ihre wahre Sexualität suchen. Derlei würde den diskursfreudigen WG-Bewohnern wahrscheinlich so vorkommen, als werde da bloß der eine Essentialismus durch einen anderen ersetzt.
Feminismus und Gender interessieren sie vielmehr abstrakt, als Muster eines gerade nicht essentialistischen, nicht festgelegten Lebens, wie es ähnlich auch Techno oder Mode für sie sind. Ständig klopfen sie die neuesten Theorien und Praktiken darauf ab, was dabei für eine solchen Verflüssigung herausspringt. Ausführliche Zitatstrecken von Anäis Nin, Susan Sontag oder Barbara Vinken, zum Teil auf Englisch, gehen ebenso durch sie hindurch wie Berichte über Nina Kraviz oder Lana Del Rey oder Texte zu Bettina von Arnim oder sozialistische deutsche Siedler in Amerika. So verschwimmen Text- und Gendergrenzen gleichzeitig: Was von den Protagonisten erörtert wird, realisiert der Roman parallel mit seiner Sampling-Methode, Inhalt und Form bestätigen sich gegenseitig und fügen sich zu einem in sich geschlossenen Hohelied der Uneigentlichkeit.
Für den Kritiker wirft ein solches Verfahren Fragen auf. Lässt sich so eine Art Literatur überhaupt rezensieren? Oder kann man wie bei einer Clubnacht allenfalls etwas darüber sagen, ob die Effekte an den Schnittstellen funktionieren, ob irgendein Flow, womöglich ein Gemeinschaftsgefühl innerhalb eines bestimmten Milieus, zustande kommt? Oder geht es vielleicht doch noch um etwas anderes?
Mehrere Umstände lassen stutzen. Die WG-Bewohner unterhalten sich zwar permanent über Geschlechtergrenzüberschreitungen und Sex, doch die beiden Paare unter ihnen sind eher konventionell heterosexuell, und überdies kommt es bei ihnen gar nicht zum Geschlechtsakt. Diese "ewigen Vorspiele" erhalten vor dem Hintergrund der Theorien Jean-Luc Nancys etwas geradezu Metaphysisches als der Punkt, "an dem das Anrühren des Sinns identisch mit seinem Rückzug ist". Die Möglichkeit eines Sinns spielt inmitten der Feier des Fließens und des immer neuen Durchkreuzens alles Fixierten, Festgezurrten, also durchaus eine Rolle, als ein Pol im Hintergrund, der dem Textrauschen überhaupt erst Spannung gibt. Denn das unablässige, allenfalls durch Ausstellungs- und Clubbesuche unterbrochene Schwadronieren wird zwar als das Selbstverständlichste der Welt dargestellt, aber das ist es innerhalb der Text-Dramaturgie keineswegs, sonst würde es über fast fünfhundert Seiten hinweg nicht so ausdauernd geschildert.
In die Affirmation mischt sich, nicht ohne Sinn für komische Nebeneffekte, ein ethnologisch distanzierter Blick auf dieses eigenartige Leben in der Abstraktion, das sich so sehr in Texten bewegt, dass ihm schließlich auch alles andere zu Text wird. Einmal wird von Henri berichtet, dass er zärtlich Evas "Körper in einzelnen Partien (Kapiteln gleich) inspiziert". Kapiteln gleich: Auch wenn diese Leute miteinander reden, dann in Zitaten, die sie augenblicklich als solche erkennen. "E: Findest du mich hübsch? H: Jean-Luc Godards LE MEPRIS jetzt schon wieder? E: Es war ein Zitat, aber auch eine Frage." Der Nachsatz ist die Pointe: Die habituelle Dekonstruktion soll nicht hindern, dass man es zugleich auch ernst, real meint.
Einmal schauen Venus und Sirius voller Faszination auf eine Hausfassade in Berlin Neukölln, hinter der sie etwas vermuten, das "hochaktuell" ist, "wie aus einem Video Ryan Trecartins". Doch dann sieht der Türsteher des Clubs eher analog aus, "wahrscheinlich HEAVY METAL", und die beiden gehen lieber doch nicht hinein, denken stattdessen darüber nach, ob sie sich nicht "schon so sehr an die Oberfläche POST-INTERNET gewöhnt" haben, dass sie ständig Gefahr laufen, in deren Fallen zu gehen: " Macht aber nichts, ergänzt Venus, genau das hält uns ja wach." Läuft darauf all dieser bombastische Aufwand an Theorie und Distinktionsanstrengung hinaus: dass er uns "wach" hält, als Aufputschmittel gegen eine allzeit drohende Apathie?
Das Überraschende ist, dass es dem Roman inmitten seines Uneigentlichkeits-Stakkatos wirklich um etwas zu gehen scheint, das man, frei gegen Adorno, so zusammenfassen könnte: Es gibt ein echtes Leben im künstlichen. Auf der letzten Seite klingen alle Hintergrundgeräusche, zu denen man auch das Kulturgesumm zählen könnte, plötzlich wie Musik, wie "körperlose Boten, die Botschaft der Fleischwerdung verkündend", bevor sie sich dann wieder "in die übliche Kakophonie" auflösen. Diese Erscheinung hat "Thomas" selbst, der im Text sich aufhebende Autor, der zuvor immer wieder als Freund der Protagonisten aufgetaucht war. Die Frage ist nur: Hätte man diese Erleuchtung nicht auch weniger mühevoll haben können, mit etwas weniger Geräuschen, mehr Musik?
Thomas Meinecke: "Selbst". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 472 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Eva Bucher wird bei all der Dekonstruktion in Thomas Meineckes Postgender-Roman "Selbst" ganz schwindelig zumute. Sie switcht mit Meinecke in und aus dem Text heraus, landet in Literatur und Philosophiegeschichte, vor allem aber beim second screen und bei Youtube, und versucht inmitten der "Inkonsistenzwolken" so etwas wie Handlung und Figurenkonturen auszumachen. Dass es Meinecke gelingt, in seinem eklektischen Diskurs einen Bogen von griechischen Dichtern über die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken bis zum Haar von Conchita Wurst zu spannen, findet die Kritikerin nicht nur beachtlich, sondern auch unterhaltsam. Irgendwann fragt sich Bucher allerdings, ob der Text nicht seine eigene Persiflage ist. Und dass Erzähler Thomas selbst ohne größeren "Gendertrouble" durch den Text kommt, findet die Rezensentin ziemlich inkonsequent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Meinecke wirbelt eben nicht Staub auf, sondern bläst sanft über ihn hinweg. Und selber kann man sich über neu eröffnete Wege und Abwege freuen.« Hans-Peter Kunisch Süddeutsche Zeitung 20170123