Bisher hat die Wissenssoziologie ihre Thematik nur mit einer sehr starken Einschränkung verfolgt. Es ging ihr primär um das Wissen »der anderen«. Im Unterschied dazu geht es in den hier vorgelegten Studien immer auch um das soziologische Wissen selbst. Ihre Frage lautet, wie dieses Wissen den semantischen Haushalt der modernen Gesellschaft verändert hat. Und ihre Antwort besagt, daß es neben der Selbstbeschreibung der sozialen Systeme nun auch eine Fremdbeschreibung gibt, die aus größerer Distanz zugleich mehr Wissen und weniger Wissen anbieten kann, als in den Systemen selbst verfügbar ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2004Beschreiben Sie mich fremd!
André Kieserling setzt Niklas Luhmann als Koordinator ein
Wie sagt die Wissenssoziologie so schön? Jede Beschreibung der Gesellschaft ist geprägt durch den gesellschaftlichen Standort, von dem aus sie verfertigt wird. Bei Marx waren es soziale Klassen und die ihnen zurechenbaren Interessen, bei Mannheim darüber hinaus Generationen, Schulen, Sekten und so weiter, die als Trägergruppen "seinsverbundener" (Mannheim) Deutungen der Gesellschaft galten. Marx betrieb Wissenssoziologie als Ideologiekritik, die ihre Direktiven von einer Gesellschaftstheorie erhielt, die sich als Theorie der Klassengesellschaft verstand. In Mannheims Wissenssoziologie werden die gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen diffus. Damit fehlt die Instanz, die einheitliche analytische Grundlagen für die Anleitung und Abstimmung von wissenssoziologischen Untersuchungen in unterschiedlichen Feldern bereitstellen könnte. Ohne die Führung durch eine Gesellschaftstheorie, so die Diagnose von André Kieserling, konnte sich die Wissenssoziologie nicht als ein einheitlicher Forschungszusammenhang etablieren, sondern mußte in eine Pluralität von Untersuchungsfeldern zerfallen, die sich verschiedenen soziologischen Subdisziplinen (zum Beispiel Religionssoziologie, Wissenschaftssoziologie) zuordnen.
Kieserlings Therapievorschlag: Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft sei das neue Koordinationszentrum der Wissenssoziologie. Demnach lauten die Direktiven: Beschreibungen der Gesellschaft hängen vom jeweils herrschenden Typus sozialer Differenzierung ab. Jedes Funktionssystem (Ökonomie, Politik, Recht, Wissenschaft) erfährt dadurch zugleich eine Pluralität von Fremdbeschreibungen durch andere Systeme. Diese Fremdbeschreibungen stellen jeweils die Interessen und Leistungswünsche des beschreibenden Systems in den Vordergrund, die mit den Strukturen des beschriebenen Systems nur beschränkt kompatibel sein können.
In der Konfrontation mit unpassenden Fremdbeschreibungen sieht Kieserling einen wesentlichen Anlaß für die Entstehung von Selbstbeschreibungen in den sozialen Teilsystemen. Systematisierte Selbstbeschreibungen in der Form von Reflexionstheorien, die ein affirmatives Verhältnis zum Code und zur Funktion ihres jeweiligen Bezugssystems pflegen, dienen der kommunikativen Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung eines Systems gegenüber einer Umwelt, die es mit wuchernden Fremdbeschreibungen und Leistungsanforderungen überziehen.
Eine Synthese, welche die Selbst- und Fremdbeschreibungen der verschiedenen sozialen Teilsysteme zu einer einheitlichen Gesamtbeschreibung zusammenfügt, kann es unter den Bedingungen einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr geben, wohl aber einen gesellschaftlichen Ort, an dem genau dies beobachtet wird - nämlich das Wissenschaftssystem beziehungsweise genauer: die Soziologie als disziplinäres Subsystem der Wissenschaft und hier wiederum: die Systemtheorie. In einer Serie eng verknüpfter und ebenso dicht geschriebener wie brillant formulierter Studien, die reich an interessanten Beobachtungen sind, untersucht Kieserling die Konsequenzen, die diese Ausgangslage für die Soziologie und ihre Selbstbeschreibung hat. Wer die systemtheoretischen Prämissen nicht teilt, für den gründen diese Analysen freilich auf einer petitio principii. Die Gültigkeit der Systemtheorie wird darin fraglos vorausgesetzt. Die Zwanglosigkeit, mit der sich viele Befunde dem systemtheoretischen Instrumentarium fügen, spricht gleichwohl für dessen Fruchtbarkeit.
Einiges daraus sei kurz erwähnt: Für die Selbstbeschreibung der Soziologie von besonderer Bedeutung ist hier zunächst, daß die Reflexionstheorien der verschiedenen Funktionssysteme sich typisch nicht dem von ihnen beschriebenen System, sondern der Wissenschaft zurechnen. So zum Beispiel die Theologie als Reflexionstheorie der Religion oder die Pädagogik und die Rechtsphilosophie als Selbstreflexion des Erziehungssystems beziehungsweise des Rechts. Die Soziologie sieht sich deshalb schon früh mit der Frage nach ihrer Identität in Abgrenzung zu den Reflexionstheorien der Funktionssysteme konfrontiert, die sie (im sogenannten "Werturteilsstreit") durch Distanzierung gegenüber Werturteilen zu beantworten suchte.
Für die soziologische Gesellschaftstheorie ist es eine weiterhin aktuelle Frage, inwiefern sie in ihren Beschreibungen der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft gegenüber deren Reflexionstheorien die Perspektive eines externen Beobachters einnimmt und Inkongruenz forciert oder ob sie sich auf deren Perspektive einläßt und die Diskussion aus der Teilnehmerperspektive sucht. Die erste Option behandelt Kieserling exemplarisch anhand Bourdieus Theorie der sozialen Felder, die Parallelen zur Theorie der funktionalen Differenzierung aufweist. Die letzte und für die Soziologie eher untypische sieht er in der Habermasschen Auseinandersetzung mit der Rechtstheorie, der politischen Theorie und der Ethik realisiert. Wie die Soziologie hier optiert, ist von entscheidender Bedeutung für die Rezeptionschancen der von ihr produzierten Fremdbeschreibungen. Operiert sie aus einer inkongruenten Beschreibungsperspektive und setzt auf die Beobachtung latenter Funktionen, dann kann sie allenfalls auf Resonanz in der Umwelt des jeweils beschriebenen Systems hoffen.
WOLFGANG LUDWIG SCHNEIDER
André Kieserling: "Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung". Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 305 S., br., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
André Kieserling setzt Niklas Luhmann als Koordinator ein
Wie sagt die Wissenssoziologie so schön? Jede Beschreibung der Gesellschaft ist geprägt durch den gesellschaftlichen Standort, von dem aus sie verfertigt wird. Bei Marx waren es soziale Klassen und die ihnen zurechenbaren Interessen, bei Mannheim darüber hinaus Generationen, Schulen, Sekten und so weiter, die als Trägergruppen "seinsverbundener" (Mannheim) Deutungen der Gesellschaft galten. Marx betrieb Wissenssoziologie als Ideologiekritik, die ihre Direktiven von einer Gesellschaftstheorie erhielt, die sich als Theorie der Klassengesellschaft verstand. In Mannheims Wissenssoziologie werden die gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen diffus. Damit fehlt die Instanz, die einheitliche analytische Grundlagen für die Anleitung und Abstimmung von wissenssoziologischen Untersuchungen in unterschiedlichen Feldern bereitstellen könnte. Ohne die Führung durch eine Gesellschaftstheorie, so die Diagnose von André Kieserling, konnte sich die Wissenssoziologie nicht als ein einheitlicher Forschungszusammenhang etablieren, sondern mußte in eine Pluralität von Untersuchungsfeldern zerfallen, die sich verschiedenen soziologischen Subdisziplinen (zum Beispiel Religionssoziologie, Wissenschaftssoziologie) zuordnen.
Kieserlings Therapievorschlag: Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft sei das neue Koordinationszentrum der Wissenssoziologie. Demnach lauten die Direktiven: Beschreibungen der Gesellschaft hängen vom jeweils herrschenden Typus sozialer Differenzierung ab. Jedes Funktionssystem (Ökonomie, Politik, Recht, Wissenschaft) erfährt dadurch zugleich eine Pluralität von Fremdbeschreibungen durch andere Systeme. Diese Fremdbeschreibungen stellen jeweils die Interessen und Leistungswünsche des beschreibenden Systems in den Vordergrund, die mit den Strukturen des beschriebenen Systems nur beschränkt kompatibel sein können.
In der Konfrontation mit unpassenden Fremdbeschreibungen sieht Kieserling einen wesentlichen Anlaß für die Entstehung von Selbstbeschreibungen in den sozialen Teilsystemen. Systematisierte Selbstbeschreibungen in der Form von Reflexionstheorien, die ein affirmatives Verhältnis zum Code und zur Funktion ihres jeweiligen Bezugssystems pflegen, dienen der kommunikativen Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung eines Systems gegenüber einer Umwelt, die es mit wuchernden Fremdbeschreibungen und Leistungsanforderungen überziehen.
Eine Synthese, welche die Selbst- und Fremdbeschreibungen der verschiedenen sozialen Teilsysteme zu einer einheitlichen Gesamtbeschreibung zusammenfügt, kann es unter den Bedingungen einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr geben, wohl aber einen gesellschaftlichen Ort, an dem genau dies beobachtet wird - nämlich das Wissenschaftssystem beziehungsweise genauer: die Soziologie als disziplinäres Subsystem der Wissenschaft und hier wiederum: die Systemtheorie. In einer Serie eng verknüpfter und ebenso dicht geschriebener wie brillant formulierter Studien, die reich an interessanten Beobachtungen sind, untersucht Kieserling die Konsequenzen, die diese Ausgangslage für die Soziologie und ihre Selbstbeschreibung hat. Wer die systemtheoretischen Prämissen nicht teilt, für den gründen diese Analysen freilich auf einer petitio principii. Die Gültigkeit der Systemtheorie wird darin fraglos vorausgesetzt. Die Zwanglosigkeit, mit der sich viele Befunde dem systemtheoretischen Instrumentarium fügen, spricht gleichwohl für dessen Fruchtbarkeit.
Einiges daraus sei kurz erwähnt: Für die Selbstbeschreibung der Soziologie von besonderer Bedeutung ist hier zunächst, daß die Reflexionstheorien der verschiedenen Funktionssysteme sich typisch nicht dem von ihnen beschriebenen System, sondern der Wissenschaft zurechnen. So zum Beispiel die Theologie als Reflexionstheorie der Religion oder die Pädagogik und die Rechtsphilosophie als Selbstreflexion des Erziehungssystems beziehungsweise des Rechts. Die Soziologie sieht sich deshalb schon früh mit der Frage nach ihrer Identität in Abgrenzung zu den Reflexionstheorien der Funktionssysteme konfrontiert, die sie (im sogenannten "Werturteilsstreit") durch Distanzierung gegenüber Werturteilen zu beantworten suchte.
Für die soziologische Gesellschaftstheorie ist es eine weiterhin aktuelle Frage, inwiefern sie in ihren Beschreibungen der Funktionssysteme der modernen Gesellschaft gegenüber deren Reflexionstheorien die Perspektive eines externen Beobachters einnimmt und Inkongruenz forciert oder ob sie sich auf deren Perspektive einläßt und die Diskussion aus der Teilnehmerperspektive sucht. Die erste Option behandelt Kieserling exemplarisch anhand Bourdieus Theorie der sozialen Felder, die Parallelen zur Theorie der funktionalen Differenzierung aufweist. Die letzte und für die Soziologie eher untypische sieht er in der Habermasschen Auseinandersetzung mit der Rechtstheorie, der politischen Theorie und der Ethik realisiert. Wie die Soziologie hier optiert, ist von entscheidender Bedeutung für die Rezeptionschancen der von ihr produzierten Fremdbeschreibungen. Operiert sie aus einer inkongruenten Beschreibungsperspektive und setzt auf die Beobachtung latenter Funktionen, dann kann sie allenfalls auf Resonanz in der Umwelt des jeweils beschriebenen Systems hoffen.
WOLFGANG LUDWIG SCHNEIDER
André Kieserling: "Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung". Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 305 S., br., 12,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dicht geschrieben und brillant formuliert findet Rezensent Wolfgang Ludwig Schneider diese Studien zur Ausgangslage der Soziologie und ihrer Selbstbeschreibung in der Systemtheorie, samt daraus resultierender Konsequenzen für den Diskurs an sich. Zwar werde in der Serie eng geknüpfter Analysen im vorliegenden Buch die Systemtheorie als fraglos gültig vorausgesetzt, merkt der Rezensent mit dezenter Skepsis an. Doch die Zwanglosigkeit, mit der sich viele von Andre Kieserlings Befunde für ihn schließlich doch dem systemtheoretischen Instrumentarium fügen, spricht in seinen Augen für dessen Gültigkeit. Dies deckt sich auf diesem Weg auch mit Kieserlings eigener Diagnose, dass sich die Wissenssoziologie ohne Führung durch eine Gesellschaftstheorie nicht als ein einheitlicher Forschungszusammenhang etablieren könne, sondern stattdessen in eine Pluralität von Untersuchungsfeldern zerfallen würde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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