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'Selbstbestimmung' ist im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte zu einem geläufigen Begriff im abendländischen Denken geworden. In der Alltagskommunikation taucht er ebenso selbstverständlich auf wie im Recht, in der Politik, der Öffentlichkeit oder der Philosophie. Die Vielfalt der diskutierten Themen, bei denen heute, verstärkt seit den 1990er Jahren, mit dem Selbstbestimmungsbegriff operiert wird, umfasst Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe, aber ebenso geistige und körperliche Behinderung ('Selbstbestimmung der Persönlichkeit'). Sie reicht weiter über den Feminismus ('Selbstbestimmung…mehr

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Produktbeschreibung
'Selbstbestimmung' ist im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte zu einem geläufigen Begriff im abendländischen Denken geworden. In der Alltagskommunikation taucht er ebenso selbstverständlich auf wie im Recht, in der Politik, der Öffentlichkeit oder der Philosophie. Die Vielfalt der diskutierten Themen, bei denen heute, verstärkt seit den 1990er Jahren, mit dem Selbstbestimmungsbegriff operiert wird, umfasst Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe, aber ebenso geistige und körperliche Behinderung ('Selbstbestimmung der Persönlichkeit'). Sie reicht weiter über den Feminismus ('Selbstbestimmung der Frau'); Völkerrecht ('Selbstbestimmung' des Volkes bzw. Staates) bis hin zum Datenschutz ('informationelle Selbstbestimmung') oder zum Tierrecht bzw. zur Tierschutzethik.

Ist die thematisch vielseitige Verwendbarkeit des Selbstbestimmungsbegriffs Indikator für einen allgemeinen Erfahrungswandel, der sich im Normen- und Wertesystem der modernen Gesellschaft niederschlägt? Fungiert 'Selbstbestimmung' als politischer Schlüsselbegriff mit einer ähnlichen Signalwirkung wie traditionelle Grundwerte des modernen Abendlandes - etwa 'Freiheit', 'Gerechtigkeit' oder 'Emanzipation'?
Autorenporträt
Uwe Krähnke war Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie II der Technischen Universität Chemnitz. Im SS 2011: Vertretungsprofessur am Institut für Kultur-, Literatur- und Musikwissenschaft, Alpen-Adria Universität Klagenfurt. Aktuelle ist er Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2007

Kennen Sie den Diskursjoker?
Uwe Krähnke fragt, was das denn heißen soll: Selbstbestimmung

Ob im Datenschutz, in der Biopolitik oder in der Tierrechtsbewegung - die Rede von der "Selbstbestimmung" gleicht einem rhetorischen Selbstläufer. Hält der Begriff, was er verspricht? Uwe Krähnke hat da seine Zweifel.

Hat man diesen Verdacht nicht schon lang gehegt: Dass es dort, wo von "Selbstbestimmung" die Rede ist, alles andere als - im sprachlogischen Sinne - klar bestimmt zugeht? Dass mit der Selbstbestimmung und ihrer lateinischen Halbschwester, der "Autonomie", verbaler Parteinahmenebel heraufzieht? Dass "Selbstbestimmung" ein Gutwort sein könnte, und damit das Gegenteil von gut? Dass wir einen Diskursjoker vor uns haben? Einen Umverteiler von Zustimmungsbereitschaft und damit von Macht?

Der Chemnitzer Soziologe Uwe Krähnke ist solchen Fragen nachgegangen - und fündig geworden: Selbstbestimmung sei eine "normative Leitidee", die in der Philosophie allenfalls eine äußerst lückenhafte Vorgeschichte hat. Ihre erste öffentliche Karriere machte die Selbstbestimmung interessanterweise nicht in innenpolitischen Debatten, auch nicht in der Ethik, sondern im Völkerrecht: Ethnien fordern im Namen der Selbstbestimmung die Ablösung vom postkolonialen Staat. Seit den siebziger Jahren hat das Wort dann dort Konjunktur, wo sich moderne demokratische Öffentlichkeiten mit sich selbst und über den Umgang mit dem internen Pluralismus ihrer selbst verständigen. Krähnke spricht davon, dass Selbstbestimmung "eine diskursstrukturierende und -organisierende Funktion ausübt", der Terminus bringe Sichtweisen und Haltungen auf den Begriff und werde so nicht zuletzt zu einem "Faktor symbolischer Kämpfe".

Wie aber funktioniert der Terminus, wo wird er wie verwendet und gewinnt wie Wirksamkeit? Hat die Weite des Begriffs auch eine produktive Funktion? Zwar versucht Krähnke sich der Sache unvoreingenommen und vor allem gründlich - nämlich mittels umfangreicher Vorklärungen "ideengeschichtlicher" und "sprachanalytischer" Art sowie zur Mediensoziologie - zu stellen. Leider wird das tolle Thema weitgehend verschenkt.

Krähnke leitet nicht her, er beweist. Die Selbstbestimmung steht von vornherein unter Ideologieverdacht: In zwei Schritten wird sie erstens der philosophischen sowie sprachlogischen Ambivalenz und zweitens aktuell widersprüchlicher Verwendungsweisen überführt. Widersprüchlichkeit wird dabei mit "willkürlich besetzbar" gleichgesetzt. In den Debattenfeldern seit den siebziger Jahren finden sich unterschiedliche Selbstbestimmungsforderungen in der Behindertenbewegung, in der Frauenbewegung, im Bildungsbereich, im Antiimperialismus, im Datenschutz und in der Tierrechtsbewegung.

Krähnke denunziert diesen Sprachgebrauch nicht, analysiert aber auch nicht wirklich die Diskurse oder die mikrologische Funktionsweise des ominösen Begriffs mitsamt den jeweils dazugehörigen Argumentationswelten. Stattdessen wählt Krähnke eine mittlere Ebene: Er umschreibt lediglich, was er Begriffsverwendung nennt - und zwar für die genannten Politikfelder jeweils nur sehr kurz, in eigenen Worten und nahezu ohne wörtliche Belege.

Vereinzelt finden sich quantitative Angaben als Quellen: Wie viele Treffer hat "Selbstbestimmung" in großen Suchmaschinen? Ansonsten mutet das Buch - und zwar ausgerechnet in seinem mediensoziologischen Kapitel - seinen Lesern Ausführungen zu, die gar nicht erst in die Frage der tatsächlichen Begriffsverwendungen einsteigen. Ausgerechnet für brisante Kontexte fehlt jegliches direkt zitierte Material. Auch das zentrale Beispiel des Buches, die Abtreibungsdebatte, wird fast ohne Belegstellen, quasi nur als kurze Story, und damit nicht diskursanalytisch, sondern lediglich paraphrasierend vorgestellt. Wobei Krähnke just in der Entfaltung seines Fallbeispiels plötzlich angibt, nicht mehr den "Begriff", sondern nur noch den "Deutungsrahmen" Selbstbestimmung zu untersuchen - sprich: Nun werden auch Aussagen mitgerechnet, in denen das Wort gar nicht fällt.

Damit freilich sackt dann der Boden weg. Man hat nur Meinung. Im Falle der Abtreibung deutet Krähnke die Rede von der Selbstbestimmung als Teil einer (erfolgreichen) "moralisierenden" Begriffsbesetzung durch die Abtreibungsbefürworter, gibt als Belege jedoch nur den Wortlaut des Verbotsurteils von 1975 und die Verwendungshäufigkeit von "Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren" an. Ersteres präferiert bekanntlich den Lebensschutz, zweiteres ist ebenfalls eher eine rechtstechnische als eine feministische Wendung.

Es gebe die separatistische und die partizipative Selbstbestimmung, die eine präferiere "Andersartigkeit" und "Anarchie", die andere Anerkennung, Gleichheit und Gerechtigkeit, bilanziert Krähnke. Hinter dem feministischen Slogan "Mein Bauch gehört mir" stehe etwa "das Muster der separatistischen Selbstbestimmung". Vage Klassifikation und undeutlicher Entlarvungsgestus halten sich in solchen Ergebnissen die Waage. Dahinter steht wohl auch ein methodisches Problem. Krähnke ist Kultursoziologe. Er will nicht Bedeutungen untersuchen, sondern beim "Gebrauch" ansetzen, kann sich dann aber nicht entscheiden, wie er mit dem Sinnphänomen Begriff überhaupt umgehen soll.

Schade, denn es werden mindestens drei klärungswichtige Dimensionen versäumt. Zum einen machte die bei Krähnke, was die Gegenwart angeht, völlig isoliert betrachtete "Selbstbestimmung" ihren Weg gewiss nicht allein: Zum Wort gehören Argumente - und auch die Differenzen zu anderen Begriffen, allen voran "Freiheit" und "Autonomie". Zum zweiten prüft Krähnke nicht die Rolle des Rechts für die Karriere des Begriffs. In der Abtreibungsfrage oder im Datenschutz hat "Selbstbestimmung" aber jenseits einfacher Rhetorikbefunde auch eine direkt an juristische Dogmatik gebundene Kontur.

Zum dritten bleibt die Frage, was sich der Kultursoziologe wohl unter begrifflicher "Klarheit" vorstellt. Denn irgendwie ist für ihn nicht die Funktion des Begriffs, sondern der Begriff selbst das Problem. Selbstbestimmung sei "aufgrund fehlender substanzialistischer Definitionen" so offen, heißt es an einer Stelle im Text. Schaffen wir also am besten alle nicht substanzialistisch definierten Konzepte, alle Abstrakta und - konsequenterweise - auch alle "Ideen" ab? - Hoffentlich schreibt bald jemand weniger dilettantisch zum Thema.

PETRA GEHRING

Uwe Krähnke: "Selbstbestimmung". Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer normativen Leitidee. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2007. 227 S., br., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Rezensentin Petra Gehring teilt zwar offensichtlich Krähnkes Skepsis gegenüber dem Begriff der "Selbstbestimmung" und auch gleich gegenüber dem Fremd- und Schwesterwort "Autonomie". Ob es sich dabei nicht um einen "Diskursjoker" handle, fragt sie, und legt kurz die Geschichte des Begriffs dar, die offensichtlich mit antikolonialistischen Befreiungsbewegungen begann. Leider ist Gehring aber ganz und gar nicht zufrieden mit den Methoden, die Krähnke einsetzt, um den Begriff zu analysieren. "Krähnke leitet nicht her, er beweist", beschwert sie sich. Besonders fehlt ihr eine Darlegung, die mit Beispielen und Belegstellen operiert, wie sie etwa an Krähnkes Ausführungen zur Abtreibungsdebatte moniert. Gehring bemängelt auch, dass Krähnke die Karriere des Begriffs isoliert betrachtet, ohne ihn zu Freiheit und Autonomie in Bezug zu setzen. Am Schluss wünscht sie sich eine "weniger dilettantische" Annäherung an das Thema.

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