Die drei Klassiker der europäischen Sozialtheorie, Alexis de Tocqueville, Max Weber und Theodor W. Adorno, haben in ihren Schriften, die während oder aus Anlaß ihrer Aufenthalte in Amerika entstanden sind, die Verhältnisse und Entwicklungen Europas immer vergleichend im Blick behalten. Zusammengenommen erstrecken sich ihre amerikanischen Beobachtungen auf einen Zeitraum von 120 Jahren.
Claus Offes Frankfurter Adorno-Vorlesungen haben diese einzigartige Konstellation zum Anlaß genommen, die Beobachtungen ihrerseits kritisch zu untersuchen und den Blick auf die fremde Kultur als Blick auf die eigene zu profilieren. Somit ergibt sich ein faszinierendes Vexierbild, das materialreich wie begrifflich luzide immer wieder neue theoretische wie historische Konstellationen auslotet. Dabei zielen die Beobachtungen, die die Amerikareisenden damals beschäftigten, auf Fragen, die gerade heute von großer Brisanz sind: Was können wir, die Bürger des »Alten Kontinents«, von den Verwandten auf der anderen Seite des Atlantiks lernen? Oder sie von uns? Wird Europa sich amerikanisieren oder umgekehrt Amerika sich europäisieren? Ist uns Amerika voraus, und wenn ja, im Guten oder im Schlechten? Aufgrund welcher Gemeinsamkeiten ist die Rede vom »Westen« überhaupt gerechtfertigt?
Claus Offes Frankfurter Adorno-Vorlesungen haben diese einzigartige Konstellation zum Anlaß genommen, die Beobachtungen ihrerseits kritisch zu untersuchen und den Blick auf die fremde Kultur als Blick auf die eigene zu profilieren. Somit ergibt sich ein faszinierendes Vexierbild, das materialreich wie begrifflich luzide immer wieder neue theoretische wie historische Konstellationen auslotet. Dabei zielen die Beobachtungen, die die Amerikareisenden damals beschäftigten, auf Fragen, die gerade heute von großer Brisanz sind: Was können wir, die Bürger des »Alten Kontinents«, von den Verwandten auf der anderen Seite des Atlantiks lernen? Oder sie von uns? Wird Europa sich amerikanisieren oder umgekehrt Amerika sich europäisieren? Ist uns Amerika voraus, und wenn ja, im Guten oder im Schlechten? Aufgrund welcher Gemeinsamkeiten ist die Rede vom »Westen« überhaupt gerechtfertigt?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2004Die Lasten der Kontinente
Claus Offe über Tocqueville, Max Weber und Adorno in Amerika
Als Donald Rumsfeld während des letzten Golfkrieges in einem seiner spitzen Statements das "alte Europa" gegen ein "neues" ausspielen wollte, konnte er auf einen fest verankerten rhetorischen Topos bauen. Denn seit langem heißt Europa zu begreifen, den Vergleich mit Amerika zu suchen. John Locke gibt 1690 eine dominante Tonlage vor: "Im Anbeginn war alle Welt Amerika." Dieses Land erscheint nicht nur als ein Experimentierfeld, auf dem die göttliche Vorsehung einen Neuanfang des Menschengeschlechts auf Erden inszeniert. Es läßt vor den Augen der Europäer exemplarisch die Weltgeschichte noch einmal sich vollziehen, von den ersten Siedlern, die als Jäger und Sammler durch die Natur streifen, über die Händler und Viehzüchter bis zu den Magnaten der Großindustrie. Amerika "hat es besser als unser Kontinent, der alte", kann Goethe 1827 in einer vielzitierten Zeile formulieren, denn der neue Kontinent wird nicht erdrückt von den Lasten der Tradition. Zur selben Zeit kann Hegel die Tonlage des Antiamerikanismus anklingen lassen, wenn er herablassend notiert, Europa verhalte sich zu Amerika wie Hamburg zu Altona oder Frankfurt zu Of-fenbach, Vororte, in denen sich der "Überfluß" der Reichsstädte sammelte, weil die Last der Abgaben für die Gewerbetreibenden nicht so schwer war.
Wenn Europäer Amerika beschreiben, beschreiben sie auch sich selbst. Das gilt von vornherein für die drei Autoren, denen Claus Offe seine Frankfurter Adorno-Vorlesungen gewidmet hat: Tocqueville, Max Weber und Adorno. Es gilt auch für Offe, wenn er versucht, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Amerika-Europa-Beschreibungen der drei Schrifteller und Wissenschaftler herauszuarbeiten. Dies schon deshalb, weil das gegenwärtige Verhältnis der beiden Kontinente markant durch den 11. September 2001 bestimmt ist.
Der zeitliche Bogen der Betrachtung spannt sich insofern vom frühen neunzehnten Jahrhundert bis in unsere Gegenwart. 1831/32 begibt sich Tocqueville für neuneinhalb Monate auf eine Studienreise durch die Vereinigten Staaten, 1904 nutzt Weber eine Konferenzeinladung zu einer dreimonatigen Rundreise, Adorno muß als Exilant von 1938 bis 1949 bleiben. Alle drei sind an Amerika als einem exemplarischen Fall der westlichen Modernisierung interessiert. Diesbezüglich, so Offe, gibt es drei Varianten der Beurteilung, die sich den Autoren zuordnen lassen.
Für Tocqueville ist Amerika in einem positiven Sinne Europa voraus. Zwar sieht er die selbstzerstörerischen Kräfte dieser Kultur, die "Tyrannei der Mehrheit" und die "Gleichgültigkeit als Frucht des Individualismus", aber er erkennt auch die Gegenkräfte, vor allem in den religiösen und sä-kularen Vergemeinschaftungen, so daß ihm am Ende die amerikanische Gesellschaft "hundertmal glücklicher" erscheint als die europäische. Daß "wir, wie die Amerikaner, früher oder später zu fast völliger Gleichheit gelangen werden," ist für Tocqueville eine aufmunternde Prognose.
Im Sinne eines verzagten Optimismus fällt die Beurteilung Webers aus. Auch ihm zufolge hat Amerika Kräfte in einem positiven Sinne entwickelt, aber es ist zweifelhaft, ob sie sich halten können, und noch zweifelhafter, ob sie einem erschöpften Europa als Vorbild dienen können. Webers pessimistische Theorie des "okzidentalen Rationalismus" grundiert sein AmerikaBild. Jedenfalls kann er sich, so Offe, nie zu einer klaren Antwort darauf durchringen, ob Amerika der okzidentalen Entwicklungslogik unterliegen oder sich als eigenständig behaupten werde. Ob Amerika für einen Ausweg aus dem "Gehäuse der Hörigkeit" steht oder für dessen globale Verfestigung, bleibt für Weber unentschieden.
Eindeutig ist dagegen die Antwort Adornos. Amerika bildet ihm zufolge die negative Avantgarde, an der sich die verhängnisvolle Zukunft Europas und die Tendenzen zur "verwalteten Welt" ablesen lassen. Freilich ist dieses Amerika-Bild durch einen auffälligen Bruch gekennzeichnet, den Offe an dem (von Adorno nicht autorisierten) Vortrag "Kultur und Culture" festmacht. Darin finden sich Passagen über die Vereinigten Staaten als Leuchtturm einer Zivilgesellschaft, die in ihrem Optimismus Tocqueville zu überbieten scheinen. Offe läßt keinen Zweifel daran, welchem der beiden Denker letztlich der Vorzug zu geben ist. Tocqueville gilt ihm als "Meister der Ambivalenz", während der Dialektiker Adorno inkonsequent im Gegensatz seiner Amerika-Beschreibungen verharre.
Offe weiß, daß seine Rekonstruktion der verführerischen Gefahr ausgesetzt ist, sich in die aktuelle politische Situation zu ver-wickeln. Gleichwohl liegt es auf der Hand, daß der Reiz seiner Darstellung aus dieser Situation hervorgeht. Offe gibt ihr über weite Strecken zurückhaltend, meist in Anmerkungen, nach. Erst zum Schluß kommt er offen auf seine Sicht der Vereinigten Staaten und deren Kampf gegen das "Böse" zu sprechen. Auch hier bleiben seine Ausführungen unaufgeregt, im sachlichen Tonfall des Sozialwissenschaftlers, der die verständliche Vorlesungssprache beibehalten hat. So empfiehlt sich das Buch allen, die inmitten der gegenwärtigen transatlantischen Entfremdung darüber nachdenken wollen, was es mit der Ferne und Nähe zwischen Amerika und Europa auf sich hat.
JOSEF FRÜCHTL.
Claus Offe: "Selbstbetrachtung aus der Ferne". Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 144 S., br., 14,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Claus Offe über Tocqueville, Max Weber und Adorno in Amerika
Als Donald Rumsfeld während des letzten Golfkrieges in einem seiner spitzen Statements das "alte Europa" gegen ein "neues" ausspielen wollte, konnte er auf einen fest verankerten rhetorischen Topos bauen. Denn seit langem heißt Europa zu begreifen, den Vergleich mit Amerika zu suchen. John Locke gibt 1690 eine dominante Tonlage vor: "Im Anbeginn war alle Welt Amerika." Dieses Land erscheint nicht nur als ein Experimentierfeld, auf dem die göttliche Vorsehung einen Neuanfang des Menschengeschlechts auf Erden inszeniert. Es läßt vor den Augen der Europäer exemplarisch die Weltgeschichte noch einmal sich vollziehen, von den ersten Siedlern, die als Jäger und Sammler durch die Natur streifen, über die Händler und Viehzüchter bis zu den Magnaten der Großindustrie. Amerika "hat es besser als unser Kontinent, der alte", kann Goethe 1827 in einer vielzitierten Zeile formulieren, denn der neue Kontinent wird nicht erdrückt von den Lasten der Tradition. Zur selben Zeit kann Hegel die Tonlage des Antiamerikanismus anklingen lassen, wenn er herablassend notiert, Europa verhalte sich zu Amerika wie Hamburg zu Altona oder Frankfurt zu Of-fenbach, Vororte, in denen sich der "Überfluß" der Reichsstädte sammelte, weil die Last der Abgaben für die Gewerbetreibenden nicht so schwer war.
Wenn Europäer Amerika beschreiben, beschreiben sie auch sich selbst. Das gilt von vornherein für die drei Autoren, denen Claus Offe seine Frankfurter Adorno-Vorlesungen gewidmet hat: Tocqueville, Max Weber und Adorno. Es gilt auch für Offe, wenn er versucht, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Amerika-Europa-Beschreibungen der drei Schrifteller und Wissenschaftler herauszuarbeiten. Dies schon deshalb, weil das gegenwärtige Verhältnis der beiden Kontinente markant durch den 11. September 2001 bestimmt ist.
Der zeitliche Bogen der Betrachtung spannt sich insofern vom frühen neunzehnten Jahrhundert bis in unsere Gegenwart. 1831/32 begibt sich Tocqueville für neuneinhalb Monate auf eine Studienreise durch die Vereinigten Staaten, 1904 nutzt Weber eine Konferenzeinladung zu einer dreimonatigen Rundreise, Adorno muß als Exilant von 1938 bis 1949 bleiben. Alle drei sind an Amerika als einem exemplarischen Fall der westlichen Modernisierung interessiert. Diesbezüglich, so Offe, gibt es drei Varianten der Beurteilung, die sich den Autoren zuordnen lassen.
Für Tocqueville ist Amerika in einem positiven Sinne Europa voraus. Zwar sieht er die selbstzerstörerischen Kräfte dieser Kultur, die "Tyrannei der Mehrheit" und die "Gleichgültigkeit als Frucht des Individualismus", aber er erkennt auch die Gegenkräfte, vor allem in den religiösen und sä-kularen Vergemeinschaftungen, so daß ihm am Ende die amerikanische Gesellschaft "hundertmal glücklicher" erscheint als die europäische. Daß "wir, wie die Amerikaner, früher oder später zu fast völliger Gleichheit gelangen werden," ist für Tocqueville eine aufmunternde Prognose.
Im Sinne eines verzagten Optimismus fällt die Beurteilung Webers aus. Auch ihm zufolge hat Amerika Kräfte in einem positiven Sinne entwickelt, aber es ist zweifelhaft, ob sie sich halten können, und noch zweifelhafter, ob sie einem erschöpften Europa als Vorbild dienen können. Webers pessimistische Theorie des "okzidentalen Rationalismus" grundiert sein AmerikaBild. Jedenfalls kann er sich, so Offe, nie zu einer klaren Antwort darauf durchringen, ob Amerika der okzidentalen Entwicklungslogik unterliegen oder sich als eigenständig behaupten werde. Ob Amerika für einen Ausweg aus dem "Gehäuse der Hörigkeit" steht oder für dessen globale Verfestigung, bleibt für Weber unentschieden.
Eindeutig ist dagegen die Antwort Adornos. Amerika bildet ihm zufolge die negative Avantgarde, an der sich die verhängnisvolle Zukunft Europas und die Tendenzen zur "verwalteten Welt" ablesen lassen. Freilich ist dieses Amerika-Bild durch einen auffälligen Bruch gekennzeichnet, den Offe an dem (von Adorno nicht autorisierten) Vortrag "Kultur und Culture" festmacht. Darin finden sich Passagen über die Vereinigten Staaten als Leuchtturm einer Zivilgesellschaft, die in ihrem Optimismus Tocqueville zu überbieten scheinen. Offe läßt keinen Zweifel daran, welchem der beiden Denker letztlich der Vorzug zu geben ist. Tocqueville gilt ihm als "Meister der Ambivalenz", während der Dialektiker Adorno inkonsequent im Gegensatz seiner Amerika-Beschreibungen verharre.
Offe weiß, daß seine Rekonstruktion der verführerischen Gefahr ausgesetzt ist, sich in die aktuelle politische Situation zu ver-wickeln. Gleichwohl liegt es auf der Hand, daß der Reiz seiner Darstellung aus dieser Situation hervorgeht. Offe gibt ihr über weite Strecken zurückhaltend, meist in Anmerkungen, nach. Erst zum Schluß kommt er offen auf seine Sicht der Vereinigten Staaten und deren Kampf gegen das "Böse" zu sprechen. Auch hier bleiben seine Ausführungen unaufgeregt, im sachlichen Tonfall des Sozialwissenschaftlers, der die verständliche Vorlesungssprache beibehalten hat. So empfiehlt sich das Buch allen, die inmitten der gegenwärtigen transatlantischen Entfremdung darüber nachdenken wollen, was es mit der Ferne und Nähe zwischen Amerika und Europa auf sich hat.
JOSEF FRÜCHTL.
Claus Offe: "Selbstbetrachtung aus der Ferne". Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 144 S., br., 14,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Josef Früchtl empfiehlt die unter dem Titel "Selbstbetrachtung aus der Ferne" erschienenen Frankfurter Adorno-Vorlesungen Claus Offes, in denen der Verfasser sich mit dem Amerikabild dreier Denker auseinandersetzt: Alexis de Tocqueville, Max Weber und Theodor W. Adorno. Besondere Würze erhält das Bändchen, dem Rezensenten zufolge, durch die gegenwärtige Weltlage, den besorgten Blick auf die letzte verbliebene Supermacht und Donald Rumsfelds "spitzes Statement" vom "alten Europa". Offe zeichnet an den euphorischen bis skeptischen Statements der drei Meisterdenker exemplarisch nach, welche Haltungen einem europäischen Intellektuellen zum unbedingten amerikanischen Vorwärtsstreben möglich sind. Da ist Tocquevilles Begeisterung von 1832, Max Webers "verzagter Optimismus" und die Griesgrämigkeit des Exilanten Adorno, die in den USA lediglich eine Avantgarde des Negativen zu sehen vermag. Allerdings zieht Offe einen von Adorno nicht autorisierten Vortrag über "Kultur und Culture" zum Vergleich heran, und dieser, so Früchtl, weise einen Optimismus auf, der "Tocqueville zu überbieten" scheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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