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Produktdetails
  • Verlag: Brill Fink
  • Artikelnr. des Verlages: 1883096
  • 1997.
  • Seitenzahl: 287
  • Deutsch
  • Abmessung: 237mm x 233mm x 25mm
  • Gewicht: 506g
  • ISBN-13: 9783770532322
  • ISBN-10: 3770532325
  • Artikelnr.: 07127664

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Autorenporträt
Prof. Dr. Klaus Düsing hat Philosophie, Germanistik und Klassische Philologie studiert und lehrte in Bochum und Siegen, bevor er seine Tätigkeit als Professor und Vorstandsmitglied des Philosophischen Seminars in Köln aufnahm. Der Experte für klassische deutsche Philosophie wurde zum 1. Oktober 2005 emeritiert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.1997

Seele im Elfenbeinturm
Klaus Düsings Selbstbewußtsein sollte gesprächiger werden

"Wie hast du's denn so weit gebracht? Mein Kind! ich hab' es klug gemacht, ich habe nie über das Denken gedacht." In dieser zahmen Xenie drückt sich keineswegs die Furcht des anschauenden Denkers Goethe vor der Arbeit des Begriffs aus. Es geht ihm darum, daß das Selbst nicht auf dem Weg nach innen, in Abkehr von Welt und Menschen zu fassen sei. Ein später Aufsatz stellt das Erkenne-dich-selbst als Priesterlist hin, den Menschen durch unerreichbare Forderungen zu verwirren. "Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt. Am allerfördersamsten aber sind unsere Nebenmenschen, welche den Vorteil haben, uns mit der Welt aus ihrem Standpunkt zu vergleichen. Ich habe daher große Aufmerksamkeit gehegt, inwiefern andere mich wohl erkennen möchten, damit ich an ihnen, wie an so vielen Spiegeln, über mein Inneres deutlicher werden könnte."

Nun gewiß, würde Klaus Düsing, einer der wenigen Klugen im weiten Land der Hegelforschung, antworten. Die Resultate seiner langjährigen Bemühungen um das Selbstbewußtsein hat er jetzt systematisch ausgebreitet. Ein erster Teil erwidert die verschiedenen Typen von Einwänden gegen die Möglichkeit von Selbstbewußtsein, ein zweiter reiht die Formen des Selbstbezugs, in deren Vielheit erst die konkrete Subjektivität angemessen zu denken sei. Gewiß also, würde er Goethe antworten, wir müssen unser Selbstbild durch das Handeln in der Welt bewähren, und andere können uns auf Selbstbetrug aufmerksam machen. Aber immer ist es doch an uns, aus unseren Irrtümern zu lernen und die Urteile der anderen zu akzeptieren. Und philosophisch relevant sei eben diese Frage, was da geschieht, wenn wir uns etwas zuschreiben.

Düsings liebstes Beispiel ist das Urteil "Ich bin ein Melancholiker". Es entsteht, indem das des öfteren wahrgenommene Gefühl der Traurigkeit reflexiv zum relevanten Persönlichkeitsmerkmal erhoben wird. Das Selbstbewußtsein von Gefühlen, Affekten, Stimmungen sei Düsing dabei zugegeben - auch wenn die medizinische Anamnese ständig das Problem der körperbildabhängigen Beschreibung von Beschwerden hat, auch wenn Therapeuten oft Jahre brauchen, um Haßgefühle bewußt zu machen, auch wenn es die Stimmung schwüler erotischer Erwartung vielleicht erst seit Wagner gibt. Aber bin ich ein Melancholiker? Woher kann ich wissen, daß Melancholie zu meinem unabänderlichen Wesen gehört? Vielleicht bin ich nur unglücklich verheiratet, was ich wiederum nur durch eine Trennung überprüfen könnte. Und was heißt hier Melancholiker? Vielleicht bin ich vielmehr depressiv. Vielleicht hänge ich meiner Unfähigkeit, lebenswichtige Entscheidungen zu fällen, nur den purpurnen Mantel eines Begriffs um, der seit der Antike eine tiefere Weisheit verspricht.

Michael Theunissen hat in einem berühmten Satz Melancholiker dadurch qualifiziert, daß sie "empfänglicher sind für die objektive Trostlosigkeit des Radfahrens". Darin wird die ideologische Stilisierung privater oder gesellschaftlicher Mißstände handgreiflich. Objektiv trostlos ist ein Sonntagsspaziergang durch den Berliner Bezirk Friedrichshain, die letzten Läden sind Einkaufszentren gewichen, in den Torbögen stehen unrasierte ältere Arbeitslose im schmutzigen Trainingsanzug, aus den Fenstern dringen Kohlwrasen, Gekeife und haßstrotzende Song-Texte.

Das Problem an der Introspektion ist nicht, daß vor mein Wesen ein Vorhang gehängt wäre, hinter den ich gleichsam nicht kommen könnte. Hier schafft Düsing viel Klarheit, indem er an Unterscheidungen anknüpft, die im Heidelberg der siebziger Jahre im Umkreis von Dieter Henrich entwickelt und später von Manfred Frank plattgetreten wurden. Der klassische Einwand gegen die Möglichkeit des Selbstbewußtseins liegt darin, daß das Selbst, das sich seiner als Objekt bewußt ist, sich selbst als Subjekt bereits voraussetzen müsse.

Dies Argument, das er in allen seinen Spielarten referiert, beantwortet Düsing in zweierlei Richtungen. Erstens werde unsinnigerweise vom Ziel einer vollständigen Identität von erkennendem und erkanntem Ich ausgegangen. In Wahrheit sei Selbstbewußtsein immer asymmetrisch, es richtet sich auf Vergangenes oder einzelne Charakterzüge. Zweitens orientiere sich der Zirkeleinwand ausschließlich an einer Reflexionstheorie von Selbstbewußtsein. Das Selbst, das sich zum Gegenstand macht, fußt jedoch auf elementareren Formen des Selbstbewußtseins. Das reflexive Urteil "Ich bin Melancholiker" ist die Synthese von Erinnerungen an wiederholte Wahrnehmungen einzelner Gefühle. Gefühle und Sinneseindrücke aber werden von einem präreflexiven Bewußtsein, daß ich es bin, der zum Beispiel traurig ist, begleitet. Diese präreflexiven Bewußtseinszustände können thematisiert, zusammengefaßt und gedeutet werden. Im Zentrum von Düsings Arbeit steht die Auseinanderfaltung der verschiedenen Arten von Synthesen, die erst zu einem Persönlichkeitsbild, zu einem Lebensentwurf führen.

Das Problem ist nicht, daß es kein Gespräch der Seele mit sich selbst gäbe. Das Problem ist vielmehr, daß Düsing sich die Seele nach dem Vorbild des zurückgezogenen Gelehrten denkt. Selbst die mönchische Existenz findet aber in der Welt statt. Jede Handlung wirkt in einer mit anderen geteilten Welt. Ihre Folgen sind prinzipiell unabsehbar. Was an ihr dran war, zeigt erst das Resultat. Und das ist allen zugänglich. Im Handeln setzen wir uns dem Licht der Öffentlichkeit aus. Das heißt auch, daß wir für unsere Handlungen kein Deutungsprivileg haben. Nicht zuletzt ist der Symbolvorrat, aus dem heraus wir deuten, ein kollektiver.

So allgemein sieht Düsing das wohl auch. Selbstbewußtsein und Anerkennung gelten ihm - diese Sichtweise ist heutzutage üblich - als miteinander verwoben. Nur haben die Formeln vom Mitgegebensein des anderen und der Sprache als Basis des Selbstbewußtseins keinerlei Einfluß auf die systematische Konstruktion. Im Gegenteil. Gegen dogmatischen Soziologismus oder psychopathologische Diagnostik insistiert Düsing, daß "Selbstzuschreibungen" stets "auf ursprünglichen, evident gegebenen, nur introspektiv zugänglichen Erlebnisgehalten" beruhten - "das Selbst verschafft sich seine Charakterzüge wesentlich durch seine eigene willentliche Aktivität". Adornos streng hegelianische These vom Vorrang des Objekts etwa wird als "undifferenzierter Empirismus" bezeichnet und Spott über seine Behauptung ausgegossen, die Autonomie des Subjekts sei bürgerliche Ideologie. Es mag ja sein, daß Adorno transzendentale Fragen unbeantwortet ließ. Indes wird die Vorstellung, das höchste Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit, nicht dadurch schon zur transzendentalen Wahrheit, daß Fragen der Ideologiekritik als empirische beiseite geschoben werden.

Der verständliche Ärger über diejenigen, die das Subjekt zum Produkt von Trieben, zur Ideologie oder (von Düsing gar nicht mehr wahrgenommen) zur Wirkung von Sprache machen und in vollkommener Ahnungslosigkeit die klassische deutsche Philosophie als Bewußtseinsphilosophie verwerfen, treibt Düsing trotzig ins andere Extrem. Dort aber wiederholt er nur, von seinen Gegnern infiziert, die schlechte Dichotomie von Gesellschaft und Individuum, Sprache und Subjekt. Dabei hätte er bei Hegel lesen können, daß die Gewißheit seiner selbst Wahrheit erst im Sprechen der Gemeinde über ihren Geist finden könne. GUSTAV FALKE

Klaus Düsing: "Selbstbewußtseinsmodelle". Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität. Wilhelm Fink Verlag, München 1997. 287 S., br., 58,- DM.

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