Weggehen hieß bei Bonaparte wiederkehren - so ist es immer gewesen. Doch diesmal bleibt Bonaparte verschwunden. Und sie muss sich fragen, ob nur die obsessive Liebe zum Roulette es war, die sie miteinander verband? Julia Schoch erzählt von einer ungewöhnlichen Leidenschaft, messerscharf und doch poetisch. Bonaparte, notorischer Spieler und ihr Geliebter, ist weg. Immer wieder musste sie sich auf seine Abwesenheit einstellen. Doch diesmal ist es anders- zögerlich zunächst, aber auch beharrlich geht sie seinem Verschwinden nach, hinterfragt ihre Liebe und das, was sie mit ihm verbindet. Während sie als Fotografin ihre Arbeit macht und ostdeutsche Landschaften ins Visier nimmt, tastet sie nach den verborgenen Fäden in die Vergangenheit. Ist mit dem gemeinsamen Glücksspiel auch ihre Liebesgeschichte verlorengegangen?Vor dem Stillstand, der sie erfasst, vermag sie einzig die Leidenschaft zu retten.»Selbstporträt mit Bonaparte« ist ein ebenso knapper wie präziser Roman über die Liebe und die allumfassende Macht der Unbeständigkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2012Nichts geht mehr, aber alles ist möglich
Lieben und spielen: In einem subtilen Roman beschreibt Julia Schoch sehr stilsicher eine außergewöhnliche Paarbeziehung.
Jede Liebe hat ihre Geschichte, und jede Geschichte vollzieht sich in der Zeit - sie fängt irgendwann an und hört irgendwann auf. Doch kann es auch sein, dass eine Liebe vor allem ihren Ort hat? Einen Ort womöglich, an dem ausgerechnet die Zeit abwesend ist? In ihrem dritten Roman, "Selbstporträt mit Bonaparte", erzählt Julia Schoch von einer Liebe, die über beides verfügt, die gleichsam eine Vorder- und eine Rückseite besitzt. Spricht die namenlose Erzählerin von der Vorderseite, erfahren wir von einzelnen Erlebnissen, Höhepunkten und Wendungen, wir erfahren die Geschichte der Liebe. Spricht sie hingegen von der Rückseite, geraten ihr die zeitlichen Koordinaten durcheinander, weiß sie nicht zu sagen, ob sich etwas zum ersten oder hundertsten Mal ereignet hat.
Diesen Zustand empfindet sie nirgends so intensiv wie am zentralen Ort ihrer Liebe: dem Kasino. Mit den "uhren- und also zeitlosen Interieurs, ihren samtenen Abpolsterungen gegen das Draußen" sind Spielbanken für sie die "sichersten Orte der Welt". Die Geschichte der Liebe geht so: Während einer Konferenz lernt die Erzählerin einen Historiker kennen, den sie wegen einer in seiner Wohnung aufgestellten Napoleonbüste Bonaparte nennt. Gemeinsam besuchen sie ein Kasino, gewinnen das Siebenfache des Tagungshonorars und führen fortan eine Beziehung, die diesen Namen aufgrund ihrer Unverbindlichkeit kaum verdient. Bonaparte nimmt nicht am Leben der Protagonistin teil, er hat dort unregelmäßige Auftritte, er richtet kein einziges zärtliches Wort an sie, doziert aber über die Zahlen, die man beim Spiel im Auge behalten muss. Beide verbringen Stunden, ja Tage und Wochen am Roulettekessel. Als Bonaparte fortgeht und entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nicht zurückkommt, stellt sich die Erzählerin die einfachste und zugleich schwierigste Frage: warum?
Auf der Suche nach einer Antwort schreibt sie ihre Liebes- und Teile ihrer Lebensgeschichte nieder. Im Proustschen Sinne möchte sie in der Erinnerung eine verlorene Wirklichkeit zurückholen und begreifen. Das war schon in Julia Schochs letztem Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" die wichtigste Erzählmotivation. Die unfassbare Begebenheit war dort der Tod der Schwester, hier ist es das Verschwinden des Geliebten. Seine Abwesenheit mag die Erzählerin nicht hinnehmen. Reflektierend und tastend arbeitet sie sich durch die Schichten ihres Gedächtnisses und stößt auf große Momente und Nebensächliches. Dabei will sie mit einem regelrecht hermeneutischen Eifer verstehen, was vielleicht gar nicht zu verstehen ist, bis es schließlich nur noch um die Erinnerung selbst zu gehen scheint, die laut Jean Paul das einzige Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Das weiß auch die Verlassene, wenn sie bekennt: "Die Erinnerung an die Leidenschaft kann heftiger sein als die Leidenschaft selbst."
Bis zum Ende bleibt die Liebesgeschichte seltsam unvollständig, sie verleiht dem Roman seine enigmatische Kraft. Sein Flair und Reflexionszentrum erhält er jedoch durch den Ort der Liebe. Das Kasino als "Inbegriff einer gänzlich anderen Welt" ist für die in der DDR aufgewachsene Protagonistin ein Symbol mondäner Freiheit. Sie analysiert die vielen Spielertypen, die eine kleine Gemeinschaft bilden, und schwärmt vom Kasino auf Malta, vom Spielbank-Palazzo in Venedig und vom Palast in Monaco. Es verwundert nicht, dass das Kasino in ihren Schilderungen zu einem geradezu sakralen Ort wird, denn im Innern vollziehen sich gleich zwei Transsubstantiationen der besonderen Art - Jetons verwandeln sich in Geld, und Zeit verwandelt sich in Ewigkeit. "In der ewigen Gegenwart des Spiels", heißt es lakonisch, "gleicht sich alles an. Für jemanden, der in der Wiederholung lebt, wird die Zeit zu einem Block, massiv und undurchdringlich, die Unterscheidung von zuerst und später sinnlos."
Das ist der Kern des Romans: Unaufhörlich fällt die Erzählerin aus der Zeit, beim Lieben wie beim Spielen, und beides ist letztlich eins. So gehört die normale "Paarzeitrechnung" zu den Dingen, "die mit Bonaparte nichts zu tun haben". Liebe, Spiel, Zeit und Erinnerung: Auf engstem Raum geht es hier ums Ganze. Das birgt die Gefahr schulmeisterlich-pathetischer oder larmoyant-sentimentaler Schilderungen. Julia Schoch allerdings ist viel zu stilsicher dafür. Meisterhaft bedient sie sich einer präzisen Sprache, deren Eleganz über jeden Zweifel erhaben ist. Etliche Sätze taugen zu Aphorismen von entwaffnender Evidenz. Mit Leichtigkeit werden Figuren und Ereignisse so aufeinander bezogen, dass ein verdichtetes Gefüge thematischer Korrespondenzen entsteht. Dabei erfahren wir etwa, dass die Erzählerin nicht nur beim Lieben und Spielen den chronologischen Zeitfluss verlässt, sondern ebenso beim Schreiben: "In Wirklichkeit ist Schreiben eine Form des Wartens. Solange ich dies schreibe, ist nichts zu Ende, kann es eine Wiederholung geben." Falls das auch für Julia Schoch gilt, sind Wiederholungen unbedingt erwünscht. Hauptsache, sie schreibt weiter.
KAI SPANKE
Julia Schoch: "Selbstporträt mit Bonaparte".
Roman.
Piper Verlag, München 2012. 142 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lieben und spielen: In einem subtilen Roman beschreibt Julia Schoch sehr stilsicher eine außergewöhnliche Paarbeziehung.
Jede Liebe hat ihre Geschichte, und jede Geschichte vollzieht sich in der Zeit - sie fängt irgendwann an und hört irgendwann auf. Doch kann es auch sein, dass eine Liebe vor allem ihren Ort hat? Einen Ort womöglich, an dem ausgerechnet die Zeit abwesend ist? In ihrem dritten Roman, "Selbstporträt mit Bonaparte", erzählt Julia Schoch von einer Liebe, die über beides verfügt, die gleichsam eine Vorder- und eine Rückseite besitzt. Spricht die namenlose Erzählerin von der Vorderseite, erfahren wir von einzelnen Erlebnissen, Höhepunkten und Wendungen, wir erfahren die Geschichte der Liebe. Spricht sie hingegen von der Rückseite, geraten ihr die zeitlichen Koordinaten durcheinander, weiß sie nicht zu sagen, ob sich etwas zum ersten oder hundertsten Mal ereignet hat.
Diesen Zustand empfindet sie nirgends so intensiv wie am zentralen Ort ihrer Liebe: dem Kasino. Mit den "uhren- und also zeitlosen Interieurs, ihren samtenen Abpolsterungen gegen das Draußen" sind Spielbanken für sie die "sichersten Orte der Welt". Die Geschichte der Liebe geht so: Während einer Konferenz lernt die Erzählerin einen Historiker kennen, den sie wegen einer in seiner Wohnung aufgestellten Napoleonbüste Bonaparte nennt. Gemeinsam besuchen sie ein Kasino, gewinnen das Siebenfache des Tagungshonorars und führen fortan eine Beziehung, die diesen Namen aufgrund ihrer Unverbindlichkeit kaum verdient. Bonaparte nimmt nicht am Leben der Protagonistin teil, er hat dort unregelmäßige Auftritte, er richtet kein einziges zärtliches Wort an sie, doziert aber über die Zahlen, die man beim Spiel im Auge behalten muss. Beide verbringen Stunden, ja Tage und Wochen am Roulettekessel. Als Bonaparte fortgeht und entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nicht zurückkommt, stellt sich die Erzählerin die einfachste und zugleich schwierigste Frage: warum?
Auf der Suche nach einer Antwort schreibt sie ihre Liebes- und Teile ihrer Lebensgeschichte nieder. Im Proustschen Sinne möchte sie in der Erinnerung eine verlorene Wirklichkeit zurückholen und begreifen. Das war schon in Julia Schochs letztem Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" die wichtigste Erzählmotivation. Die unfassbare Begebenheit war dort der Tod der Schwester, hier ist es das Verschwinden des Geliebten. Seine Abwesenheit mag die Erzählerin nicht hinnehmen. Reflektierend und tastend arbeitet sie sich durch die Schichten ihres Gedächtnisses und stößt auf große Momente und Nebensächliches. Dabei will sie mit einem regelrecht hermeneutischen Eifer verstehen, was vielleicht gar nicht zu verstehen ist, bis es schließlich nur noch um die Erinnerung selbst zu gehen scheint, die laut Jean Paul das einzige Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Das weiß auch die Verlassene, wenn sie bekennt: "Die Erinnerung an die Leidenschaft kann heftiger sein als die Leidenschaft selbst."
Bis zum Ende bleibt die Liebesgeschichte seltsam unvollständig, sie verleiht dem Roman seine enigmatische Kraft. Sein Flair und Reflexionszentrum erhält er jedoch durch den Ort der Liebe. Das Kasino als "Inbegriff einer gänzlich anderen Welt" ist für die in der DDR aufgewachsene Protagonistin ein Symbol mondäner Freiheit. Sie analysiert die vielen Spielertypen, die eine kleine Gemeinschaft bilden, und schwärmt vom Kasino auf Malta, vom Spielbank-Palazzo in Venedig und vom Palast in Monaco. Es verwundert nicht, dass das Kasino in ihren Schilderungen zu einem geradezu sakralen Ort wird, denn im Innern vollziehen sich gleich zwei Transsubstantiationen der besonderen Art - Jetons verwandeln sich in Geld, und Zeit verwandelt sich in Ewigkeit. "In der ewigen Gegenwart des Spiels", heißt es lakonisch, "gleicht sich alles an. Für jemanden, der in der Wiederholung lebt, wird die Zeit zu einem Block, massiv und undurchdringlich, die Unterscheidung von zuerst und später sinnlos."
Das ist der Kern des Romans: Unaufhörlich fällt die Erzählerin aus der Zeit, beim Lieben wie beim Spielen, und beides ist letztlich eins. So gehört die normale "Paarzeitrechnung" zu den Dingen, "die mit Bonaparte nichts zu tun haben". Liebe, Spiel, Zeit und Erinnerung: Auf engstem Raum geht es hier ums Ganze. Das birgt die Gefahr schulmeisterlich-pathetischer oder larmoyant-sentimentaler Schilderungen. Julia Schoch allerdings ist viel zu stilsicher dafür. Meisterhaft bedient sie sich einer präzisen Sprache, deren Eleganz über jeden Zweifel erhaben ist. Etliche Sätze taugen zu Aphorismen von entwaffnender Evidenz. Mit Leichtigkeit werden Figuren und Ereignisse so aufeinander bezogen, dass ein verdichtetes Gefüge thematischer Korrespondenzen entsteht. Dabei erfahren wir etwa, dass die Erzählerin nicht nur beim Lieben und Spielen den chronologischen Zeitfluss verlässt, sondern ebenso beim Schreiben: "In Wirklichkeit ist Schreiben eine Form des Wartens. Solange ich dies schreibe, ist nichts zu Ende, kann es eine Wiederholung geben." Falls das auch für Julia Schoch gilt, sind Wiederholungen unbedingt erwünscht. Hauptsache, sie schreibt weiter.
KAI SPANKE
Julia Schoch: "Selbstporträt mit Bonaparte".
Roman.
Piper Verlag, München 2012. 142 S., geb., 16,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Roman Bucheli ist es dann doch nicht zupackend genug, wie Julia Schoch diese Geschichte einer Liebe und einer Spielsucht eben nicht erzählt, sondern ausspart und recht eigentlich zum Anlass nimmt, um über das Schreiben aus der Erinnerung heraus zu erzählen. Verantwortlich macht Bucheli die konsequente Innenperspektive, den Verzicht auf jegliche Distanz und Analyse. Die nüchternen Fragmente der Geschichte, die Schoch stattdessen liefert, überzeugen Bucheli nicht. Ihm fehlt das Fleisch in diesem Buch, sozusagen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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