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Die Untersuchung einzigartigen Quellenmaterials aus dem frühen 19. Jahrhundert legt überraschende Konzepte von Körper und Krankheit offen.In der Medizin im frühen 19.??Jahrhundert wurden Körper und Gemüt als Einheit gesehen und zusammen behandelt. Personen, die sich als krank beschrieben, brachten also gleichermaßen ihre Wahrnehmungen am Körper wie am Gemüt zum Ausdruck.Bettina Brockmeyer untersucht Briefe von Patientinnen und Patienten an Samuel Hahnemann (1755-1843), den Begründer der Homöopathie, und weitere Selbstzeugnisse aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie gewähren zum Teil…mehr

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Produktbeschreibung
Die Untersuchung einzigartigen Quellenmaterials aus dem frühen 19. Jahrhundert legt überraschende Konzepte von Körper und Krankheit offen.In der Medizin im frühen 19.??Jahrhundert wurden Körper und Gemüt als Einheit gesehen und zusammen behandelt. Personen, die sich als krank beschrieben, brachten also gleichermaßen ihre Wahrnehmungen am Körper wie am Gemüt zum Ausdruck.Bettina Brockmeyer untersucht Briefe von Patientinnen und Patienten an Samuel Hahnemann (1755-1843), den Begründer der Homöopathie, und weitere Selbstzeugnisse aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie gewähren zum Teil ungewöhnlich intime Einblicke in Empfindungen, Erlebnisse und Alltagswelten von Frauen und Männern verschiedener sozialer Schichten. Daneben analysiert die Autorin zeitgenössische Perspektiven auf die aus der Antike stammende populäre Diätetik, auf Geschlechterrollen, Religion, Geschlechtlichkeit, Körperfunktionen und auf den Umgang mit dem Sterben von Angehörigen. Die Studie erschließt sowohl zeitgenössische Alltagspraktiken und Körper- sowie Gemütswahrnehmungen als auch Zugänge zur Vorstellung der Menschen von sich selbst. Die hier untersuchten Quellen bieten einen atemberaubenden Kontrast zu bisherigen Vorstellungen vom 'Prozess der Zivilisation'.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2009

Heilsame Selbstüberwachung

Post von friedlosen Seelen: Bettina Brockmeyer liest Patientenbriefe an Samuel Hahnemann, den Gründer der Homöopathie.

Wer heute in Deutschland zu Ärzten geht, muss nicht erwarten, dass sich deren Ausbildung und Behandlungsweisen grundlegend unterscheiden. Auch die Anforderungen, welche die Behandlung an den Patienten stellt, sehen ähnlich aus. Wir begeben uns in die Praxis, auf Labordaten und Diagnose folgen zügig Maßnahmen. Viel Dialog findet nicht statt.

Wie anders es in der deutschsprachigen Welt noch vor hundertachtzig Jahren aussah, lässt die Studie ahnen, die Bettina Brockmeyer über die "Selbstverständnisse" von Menschen geschrieben hat, die um 1830 mit dem Homöopathiebegründer Samuel Hahnemann korrespondierten. Da Hahnemanns neue Heilmethode damals bereits weithin bekannt war, schrieb man ihm Briefe und trug sein Leiden vor. Er wiederum behandelte Ratsuchende auf dieser schriftlichen Basis, führte also briefliche Anamnesegespräche, versandte Medikamente gegen Honorar und begleitete den teils langwierigen Verlauf einer Kur. Mehr als 5500 Patientenbriefe und Krankentageblätter aus den Jahren 1831 bis 1835 sind erhalten. 800 Briefe, geschrieben von etwa 50 Personen, wertet Brockmeyer nun aus.

Ihre Arbeitsfragen zielen weit über medizingeschichtliche Details hinaus: Wie spiegeln sich im Dialog mit dem Arzt die Körperwahrnehmungen der Zeit? Wie kommt die Religion, wie kommen das Geschlecht und geschlechtsspezifische Sorgen um sich selbst zum Tragen? Und schließlich: Wie stellen sich die um Gesundheit ringenden Ratsuchenden in Ichform dar? Wie konstituiert sich in den Briefen - wie Brockmeyer auf den Spuren Foucaults formuliert - ein "Selbst"?

Tatsächlich reizt das Material zu solchen Fragen. Denn die Spielregeln von Hahnemanns Homöopathie verlangen den Kranken eine ungewöhnliche Anstrengung ab: Möglichst genau und unbefangen sollen sie ihren Körper, Körperempfindungen und überhaupt Gemütsregungen schildern, damit der Arzt ihren Zustand präzise beurteilen und das richtige Medikament wählen kann. In der Intimität der Patientenbriefe kommen in gefühlter Authentizität Dinge zur Sprache, über die man sonst schweigt: schuppige Hautstellen, Schleim und Ausflüsse aller Art, Gerüche, Beschaffenheit des Stuhls.

Was den speziellen Ansatz der Homöopathie angeht, zeigt Brockmeyer vor allem, wie Hahnemann nicht nur willfährige, sondern auch skeptische und angesichts der Vielzahl medizinischer Schulen ungeduldige Patienten vor sich hat. Das Einvernehmen zwischen Arzt und Ratsuchendem ist fragil. Behandlungsabbrüche von beiden Seiten sind nicht selten. Auch der Laie hat eine Meinung.

Als besonders sanft gilt nicht nur das - zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits altmodische - Simile-Prinzip der Kur von Gleichem mit Gleichem, das der Homöopathie zugrunde liegt, sondern auch dass Hahnemann so stark auf Sprache setzt. Brockmeyer zeigt, wie die Selbstbeschreibung ein eigenes, vielgestaltiges Genre hervorbringt, das jenseits von Autobiographie, Beichte oder Geständnis liegt. Die homöopathische Selbstbeobachtung kann die Ratsuchenden bis zur Lust an der Selbstdarstellung heranführen, treibt aber auch die Selbstüberwachung voran. Dazu die Überwachung anderer: Besorgte Ehemänner schreiben für und über ihre Frauen, besorgte Mütter oder Väter über ihre Söhne und Töchter. Brockmeyer spricht von einem "präzisen Aufschreibesystem", das Hahnemann entwarf. Sie sieht es als Stärkung des schreibenden Selbst, die homöopathische Diätetik als Angebot einer "erreichbaren Meisterschaft", weniger als Disziplinierung.

Ansonsten mischen Hahnemanns Patienten munter, was die Wissenschaftsgeschichte zu trennen versucht: religiöse Versatzstücke und naturalistische Schilderungen, angelesene Homöopathie und traditionelle Säftelehre. Heterogene Gewissheiten stehen nebeneinander, ohne dass dies als Widerspruch erscheint.

Keineswegs durchgehend bedeutsam erscheint auch die Rolle des Geschlechts. Brockmeyer sieht eine entscheidende Trennlinie in der Ehe, mit der sich für beide Geschlechter die Bedeutung ihrer Körperzeichen ändert. Unverheiratete Männer sprechen als Subjekte von Sexualmoral. Sie berichten exzessiv von ihrem Geschlechtstrieb, Angst und Selbstkontrollbemühungen kreisen um Onanie und Pollution. Ledige Frauen thematisieren weder einen solchen Trieb noch das Thema Masturbation. Verheiratete hingegen verlagern ihre Aufmerksamkeit ganz auf eheliche Pflichten und Kinderzeugung. Im Zusammenhang des Beischlafs der Ehegatten gleicht sich die Bedeutung der Geschlechtsorgane und des Triebes an.

Wer sich für die Frage der Konstitution eines "Selbst" interessiert, muss sich mit den genannten Punkten begnügen. Ein knappes Kapitel zu Sterbeschilderungen reißt das Problem allenfalls an, womit das Buch, das differenziert begonnen hat, seltsam abrupt dann doch im Ungefähren endet. Was Ziel der Exploration sein sollte, bleibt am Ende begrifflich leer. Brockmeyers vorsichtig geäußerte Thesen beschränken sich auf Distanznahme. Sie wollen allzu grelle Einschätzungen aus der diskursorientierten Medizin- und Geschlechtergeschichte relativieren. Ein eigener Ansatz in Sachen Selbst ergibt sich aus ihnen nicht.

"Subjektivitäten" entstünden in der Beziehung zu anderen, so lautet ein Hinweis, um 1800 forme sich also keineswegs "das" autonome Subjekt. An einer anderen Stelle ist zu lesen, "Subjektivität" sei im Untersuchungszeitraum in einem Konglomerat aus Materiellem und Immateriellem anzusiedeln. Begriffe wie Konstruktion, Diskurs oder auch Erfahrung brächten Subjektivität aber nicht auf einen Nenner. Auch der Titelbegriff, der zum Nachdenken einlud - Selbstverständnisse -, bleibt am Ende unerläutert. Bei aller Materialfülle: Das enttäuscht dann doch.

PETRA GEHRING

Bettina Brockmeyer: "Selbstverständnisse". Dialoge über Körper und Gemüt im frühen 19. Jahrhundert. Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 452 S., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Materialreich, aber letztlich doch enttäuschend findet Rezensentin Petra Gehring Bettina Brockmeyers Auswertung von über 800 Briefen der weit umfangreicheren Korrespondenz des Homöopathiebegründers Samuel Hahnemann mit seinen Patienten. Die schriftlichen  Anamnesegespräche, die die Autorin hinsichtlich religiöser, geschlechtsspezifischer sowie das Selbst- und Körperverständnis der Patienten betreffenden Fragestellungen untersucht, findet Gehring durchaus spannend. Schließlich eröffnen sie der Rezensentin einen intimen Raum, erzählen von Körperflüssigkeiten und Trieben und konstituieren sogar ein eigenes Genre, das Gehring jenseits von Autobiografie und Beichte verortet und das für sie sowohl die Lust als auch die Last der Selbstbeobachtung bezeugt. Allzu vage jedoch bleibt Gehring der Band in puncto Sterbeschilderung. Vor allem jedoch vermisst sie die Formulierung von ergebnisorientierten Thesen und Begriffen.

© Perlentaucher Medien GmbH
'Die Studie liefert sowohl einen Beitrag zur Erforschung der Wissenschaftsgeschichte und ihrer eigenen Beschreibungs- und Deutungsmuster als auch zur Differenzierung der Ansichten von bürgerlicher Subjektivität im 19. Jahrhundert, des Körperverständnisse