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Man mache die eigene Person zur Linse, um sich selbst im klaren Licht zu erblicken, aber auch das, was einem zustößt. Das ist die ungewöhnliche Perspektive, mittels derer Marc Degens ein Stück Klatsch aus der intellektuellen Gegenwart Berlins in eine autobiografische Operation am offenen Herzen verwandelt. Seine Bühne ist der Kreis um Katharinaund Michael Rutschky, in dessen vor zwei Jahren ver öffentlichten Tagebüchern der Autor sich selbst wiederfand, eher erschrocken als geschmeichelt. Sein Bericht über ein Stück höfische Kultur im 21. Jahrhundert und was sie anzurichten imstande ist, hat…mehr

Produktbeschreibung
Man mache die eigene Person zur Linse, um sich selbst im klaren Licht zu erblicken, aber auch das, was einem zustößt. Das ist die ungewöhnliche Perspektive, mittels derer Marc Degens ein Stück Klatsch aus der intellektuellen Gegenwart Berlins in eine autobiografische Operation am offenen Herzen verwandelt. Seine Bühne ist der Kreis um Katharinaund Michael Rutschky, in dessen vor zwei Jahren ver öffentlichten Tagebüchern der Autor sich selbst wiederfand, eher erschrocken als geschmeichelt. Sein Bericht über ein Stück höfische Kultur im 21. Jahrhundert und was sie anzurichten imstande ist, hat es in sich. Wie das eigene Leben von den hierarchischen Zufällen in einem eifersüchtig umtanzten Zirkel hin- und hergeworfen wird und welche Kollateralschäden dabei drohen, diese überaus ernsthafte Burleske wurde so noch niemals aufgeschrieben.
Autorenporträt
Marc Degens, geboren 1971 in Essen, ist Schriftsteller und Programmleiter des SUKULTUR Verlags. Er veröffentlichte bislang vier Romane und zuletzt seine kanadischen Aufzeichnungen »Toronto« (Mairisch). Seine Romankolumne »Unsere Popmoderne« erschien in der FAZ und in Volltext. Er ist Herausgeber von »Sonnenbrand - Reihe für Autofiktionen«. Nach Jahren in Armenien und Kanada lebt er jetzt in Hamburg.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Lothar Müller merkt, wie schwach der "Abwehrzauber" gegen die "Zumutungen der Autofiktion" tatsächlich ist, während er sich mit Marc Degens' Auseinandersetzung mit den Tagebüchern von Michael Rutschky befasst. Die Kränkung des Schülers, der in den Aufzeichnungen seines Mentors schlecht wegkommt, ist für Müller im Buch deutlich wahrnehmbar. Dass die Geste der "Revanche" bei Degens nicht stärker ausfällt, findet Müller immerhin bemerkenswert. Eine "Restverehrung" des Autors für Rutschky bleibt für den Rezensenten spürbar.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2022

Blick zurück mit einer Prise Zorn

Eine Mischung aus Adorno, Kracauer, illegitimen Künsten und MTV: Marc Degens beschreibt in "Selfie ohne Selbst" die Kunst Michael Rutschkys, in der er auch selbst geschult wurde.

Als im Frühjahr 2019, ein Jahr nach Michael Rutschkys Tod, der dritte Band seiner Tagebücher unter dem Titel "Gegen Ende" veröffentlicht wurde, war das Erstaunen, vielleicht sogar das Entsetzen groß unter den Angehörigen jener Gemeinde, deren Mechanismen Stephan Wackwitz später in dem Artikel "Der Rutschky-Kreis" in der "Zeit" analysiert hat. Denn im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Bänden war dieser gegenüber den Gemeindemitgliedern, die eigene Frau Katharina und den Freund Kurt Scheel eingeschlossen, weitgehend gnadenlos und nicht ohne Häme. Der Band umfasste die Jahre 1996 bis 2009 (Katharina Rutschky ist im Januar 2010 gestorben) und enthüllte unter anderem die Geheimnisse und Abgründe einer Alkoholiker-Ehe, vor allem aber die zunehmende Verbitterung eines Mannes, dessen Karriere mit dem Buch "Erfahrungshunger" (1980) sehr vielversprechend begonnen, dann aber nicht die erhoffte Fortsetzung gefunden hatte.

Allerdings scharte Rutschky spätestens nach dem Ende seiner Münchner Redakteurstätigkeit für den "Merkur" und dann für Enzensbergers "Transatlantik" nach seinem Umzug nach Westberlin bald jenen Kreis etwas oder sehr viel Jüngerer um sich, zu dem auch der Autor Marc Degens gehörte, der nun das Buch "Selfie ohne Selbst" vorgelegt hat, in dem es wesentlich um das Echo auf Rutschkys Tagebuch geht. Zugleich ist das schmale, aber gehaltvolle Bändchen - auf eine Gattungsbezeichnung haben Verlag und Autor wohlweislich verzichtet - auch eine Reflexion über den kulturellen Betrieb und über literarische Gruppen und Cliquen wie Bloomsbury, Tel Quel und den George-Kreis.

Die Strahlkraft der "Rutschky-Schule" reichte allerdings kaum über Berlin hinaus, wie der Autor im Gespräch mit Frankfurter Freunden erfahren muss: ". . . und in Bezug auf Rutschkys in seinem Tagebuch offenkundig zur Schau gestellten Neid stellt Andreas lapidar fest, dass Rutschky außerhalb Berlins völlig unbekannt und unbedeutend gewesen sei". Das ist zwar in der Schärfe nicht ganz richtig, lässt sich aber etwa auf diese Formel bringen: In Berlin, vor allem in Kreuzberg, war Rutschky weltberühmt, anderswo höchstens bekannt.

Diese Erkenntnis, das ist leicht verständlich, greift nachträglich auch das Selbstverständnis der Mitglieder der "Rutschky-Schule" an. Degens' Buch ist allerdings keine Abrechnung, sondern vor allem eine Arbeit der Reflexion und Selbstreflexion. Es ist Autofiktion und Memoir und doch beides wieder nicht, weil hier bei aller Liebe zum Klatsch, die der Autor an einer Stelle freimütig zugibt, immer die Ebene der Analyse präsent ist. Katharina Rutschky etwa erfährt die Gerechtigkeit, die ihr Mann ihr in seinem dritten Tagebuchband strikt verweigert. "Überdies waren die Rutschkys ein Paarmodell", schreibt Degens. "Ein platonisches Kugelwesen, dessen Hälften ein Ganzes bildeten. Zwei intellektuell ebenbürtige Ehepartner ohne Gefälle, so West-Berlin wie die taz, die Genialen Dilletanten oder das SO36."

Dass von diesem Bild nach Lektüre des dritten Tagebuchbandes nicht mehr viel übrig bleiben kann, versteht sich. Degens entkommt jedoch der Versuchung zur Abrechnung durch eine geniale Volte, die er im Buch auch offen eingesteht. Er hat Rutschkys dritten Tagebuchband bis heute nur kursorisch gelesen. Das ermöglicht es ihm, die Distanz zu halten.

Eine Distanz, die er zu Lebzeiten Rutschkys veflucht hat. Das Ärgernis, dass "Herr Rutschky" sich von seinem Kreis nicht duzen ließ (mit Ausnahme von Kurt Scheel), beschäftigt Degens an mehreren Stellen des Buches. Dabei sind die Gründe einigermaßen klar. Nicht nur, dass zwischen Rutschky und der Mehrzahl aus seinem engeren Umfeld ein erheblicher Altersunterschied lag. Entscheidend ist, dass im Umgang mit dem Paten (einem von Michael Rutschkys Lieblingfilmen) dessen herausgehobene Position beachtet werden muss. "Herr Rutschky" war der Name einer Kunstfigur, für die auf der Bühne die Hauptrolle so reserviert war wie für Madame Verdurin in ihrem "kleinen Kreis" gegenüber ihren "Getreuen".

Gerade weil Degens sich bisher erfolgreich gegen die Lektüre von "Gegen Ende" gewehrt hat, gelingt ihm eine im Großen und Ganzen zutreffende Einschätzung der Bedeutung von Rutschkys Arbeit: "Michael Rutschkys Verdienst ist die Feuilletonisierung des Essays und umgekehrt. Die an Sigmund Freud und Pierre Bourdieu geschulte Neue Innerlichkeit seiner Texte zeigt eine Verbindung aus Frankfurter und Neuer Frankfurter Schule, Dialektik, Witz und Melancholie. Eine Mischung aus Adorno, Kracauer, illegitimen Künsten und MTV." Dies ist vielleicht die bisher pointierteste Skizze von Rutschkys Arbeit und kennzeichnet selbst größere Projekte wie die 1998 erschienenen "Lebensromane", die man durchaus auf eine Stufe mit "Erfahrungshunger" stellen kann.

Seinen eigenen Lebensroman hat Michael Rutschky dann auf die drei Tagebücher verteilt, auch das analysiert Marc Degens sehr schlüssig: "Sollte man alle drei Tagebuchbände als motivisch miteinander verwobene Romane klassifizieren, würde ich sie als 'Angestelltenroman' (Band 1), 'Wenderoman' (Band 2) und 'Künstlerroman' (Band 3) deuten." Wobei der Wenderoman, könnte man hinzufügen, der ja schon den vorwärtsstürmenden Titel "In die neue Zeit" trägt, deutlich am wenigsten schlechte Laune transportiert.

Aus ebendiesem Band liest Degens auf einer Veranstaltung des Berliner Literaturhauses im März 2019 vor. Es ist die Notiz vom 8. September 1989. Ort der Handlung ist das Haus von Joachim Sartorius und Karin Graf, offenbar ein Empfang mit internationalen Gästen. Rutschky (genauer: "R.", wie immer, wenn Rutschky sich selbst zur Kunstfigur machte) beschreibt zunächst seine Unsicherheit beim Bedienen vom Buffet, ein Ungeschick, das von anderen beobachtet wird. Plötzlich: "Dann steht Joachim Sartorius hinter seinem Stuhl. 'Kommen Sie', sagt er, 'ich möchte Sie Susan Sontag vorstellen.'" Ende der Notiz.

Ganz richtig liest Degens dies als eine Schlüsselszene. Dabei handelt es sich weniger um Namedropping, sondern um unbewusste (?) Hierarchisierung. R. spottet über die, denen er sich überlegen fühlt, schweigt aber über die, die er bewundert. "Es ist gewissermaßen ein Nach-unten-Treten. (. . .) Er schreibt über meine Freunde, aber über Susan Sontag schweigt er." Auch deshalb, so muss man hinzufügen, weil R. zu diesem Zeitpunkt längst weiß, dass er nicht Susan Sontag oder Joan Didion oder gar Pierre Bourdieu werden kann, sondern höchstens der Pate eines regionalen männerbündischen Intellektuellenzirkels.

"Vor allen Dingen möchte ich im Nachhinein auch nicht böse auf Herrn Rutschky sein", schreibt Degens an einen Freund. Das gelingt ihm, bis während einer Studioaufnahme im Gespräch mit Miriam Zeh über autofiktionales Schreiben die Wut in ihm hochsteigt und beinahe zwei Seiten zorniger Abrechnung folgen, dies aber auf hohem reflexiven Niveau. Das Selfie ohne Selbst ist an keiner Stelle ohne (Selbst-)Reflexion, und das macht den Rang dieses großen kleinen Buches aus. JOCHEN SCHIMMANG

Marc Degens:

"Selfie ohne Selbst".

Berenberg Verlag, Berlin 2022. 83 S., br., 18,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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