Kleist-Preis 2004»Ein deutsch-türkisches Wintermärchen« Frankfurter Allgemeine Zeitung
Berlin, Mitte der 70er Jahre. Eine geteilte, eingeklemmte Stadt, und doch voller heftiger und stiller Aufbrüche in Ost und West. Genau dorthin zieht es 1976 eine junge türkische Schauspielerin aus Istanbul, noch niedergedrückt von Erinnerungen an die Militärdiktatur im eigenen Land, aber mit einem großen Traum: Das Theater Bertolt Brechts an der Ostberliner Volksbühne kennen zu lernen.
Mit staunenden Augen und umwerfendem Witz erzählt Emine Sevgi Özdamar von einem Berlin, das kein Deutscher so je gesehen hat: Das Leben ihrer WG-Mitbewohner im Westberliner Wedding und ihrer Ostberliner Freunde in Pankow, die türkischen Einwanderer in der Nachbarschaft, die politischen Ereignisse des »deutschen Herbstes« und - vor allem - ihre heftige Liebe zum Theater Heiner Müllers und Benno Bessons. Als Regieassistentin an der Volksbühne hält sie die Proben zu Müllers Die Bauern und Goethes Bürgergeneral in faszinierenden Skizzen fest, die diesem ganz besonderen Buch einen zusätzlichen Reiz und dokumentarischen Wert geben.
Berlin, Mitte der 70er Jahre. Eine geteilte, eingeklemmte Stadt, und doch voller heftiger und stiller Aufbrüche in Ost und West. Genau dorthin zieht es 1976 eine junge türkische Schauspielerin aus Istanbul, noch niedergedrückt von Erinnerungen an die Militärdiktatur im eigenen Land, aber mit einem großen Traum: Das Theater Bertolt Brechts an der Ostberliner Volksbühne kennen zu lernen.
Mit staunenden Augen und umwerfendem Witz erzählt Emine Sevgi Özdamar von einem Berlin, das kein Deutscher so je gesehen hat: Das Leben ihrer WG-Mitbewohner im Westberliner Wedding und ihrer Ostberliner Freunde in Pankow, die türkischen Einwanderer in der Nachbarschaft, die politischen Ereignisse des »deutschen Herbstes« und - vor allem - ihre heftige Liebe zum Theater Heiner Müllers und Benno Bessons. Als Regieassistentin an der Volksbühne hält sie die Proben zu Müllers Die Bauern und Goethes Bürgergeneral in faszinierenden Skizzen fest, die diesem ganz besonderen Buch einen zusätzlichen Reiz und dokumentarischen Wert geben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.05.2003Nackt am Frühstückstisch
Emine Özdamars herrliche Erinnerungen an Berlin
Manche Dinge muss man nur lang genug in Ruhe lassen, dann fangen sie beim Wiedersehen an zu leuchten. Ein Vierteljahrhundert lang hat Emine Sevgi Özdamar ihr Tage- und Skizzenbuch aus „Wedding-Pankow 1976/77” ruhen lassen, bis alle Aktualität aus ihnen verdampft war. Schwer kann man sich einen Bericht aus ferneren Tagen vorstellen, auch wenn manche der erwähnten Personen, Frank Castorf etwa, Wolf Biermann, Günter Gaus oder Gregor Gysi mit ihrem Wirken noch in die Gegenwart hineinragen. Vieles an diesem Buch erscheint auf eine fast sensationelle Weise von gestern: wann haben wir zuletzt von Otto Mühl und der AA-Kommune gelesen, wann von freier Liebe in Westberliner WG-Badewannen, von Benno Besson und der Brecht-Pflege an der Volksbühne oder von der befreienden Wirkung, die der „Gute Mensch von Sezuan” auf linke Oppositionelle in der Türkei haben konnte? Auch das Schwärmerische in Özdamars Ton, die Rotwein- und Zigarettenseligkeit, der Liebes- und Diskussionshunger ihrer nach der Natur gezeichneten Figuren, kommen von weit her, aus einer anderen Zeit, lange bevor die Mauer brach und Berlin zur „capital of cool” befördert wurde.
Es ist verblüffend, wie gut diesem Buch der Abstand zur Gegenwart bekommt. Vielleicht wäre es überhaupt ratsam, man würde eine Sperrfrist über die Gegenwart verhängen und dürfte erst in 25 Jahren von ihr schreiben. Alle Welt redet vom Berlin-Roman: hier ist einer. Alles an ihm ist urban, aber das Urbane ist in ihm, anders als im Gros der neuen Berlin-Literatur, kein Thema. Es ist einfach da. Keine Russenmafia, keine Love Parade, dafür ziemlich viel Grau auf beiden Seiten und dazwischen eine Mauer, die sich für Frau Özdamar aus Istanbul jeden Tag einen Spalt breit öffnet.
Ich liebe Brecht
In Berlin, hat sich die junge Schauspielerin vorgenommen, will sie das „Brechttheater lernen”. Eben ist in Istanbul ihre Ehe in die Brüche gegangen, und auch ihre Theaterkarriere scheint nach einem Militärputsch ruiniert zu sein. Zuletzt hatte sie daheim in „Mann ist Mann” die Witwe Begbick gespielt, aber jetzt ist das Theater geschlossen worden. Bei der Grenzkontrolle im Zug erklärt sie dem DDR-Beamten unaufgefordert: „Ich liebe Brecht”, aber sie erhält keine Antwort. In Westberlin stellt sie ihren Koffer am Bahnhof Zoo ab und fährt sofort weiter zu Benno Besson nach Ostberlin.
Eine Weile wird sie nun jeden Tag als Brecht-Pendlerin zwischen West und Ost unterwegs sein, wird in der Volksbühne hospitieren und abends in ihr Westberliner WG-Zimmer zurückkehren. Wie nur wenige darf sie „the best of both worlds” kennenlernen – die Westberliner Siebziger-Sub(ventions)kultur und die kritisch-loyale DDR-Hochkultur, Momentaufnahmen zweier Zivilisationen, den kein langes Leben mehr beschieden sein wird. „Herr Besson”, hat sie dem berühmten Regisseur zur Begrüßung gesagt, „ich bin gekommen, um von ihnen das Brechttheater zu lernen.” Der Wunsch wird ihr umstandslos erfüllt, wie sich überhaupt das Brechttheater dieser Novizin fast von selber öffnet. Erst übersetzt sie Bessons Probennotizen des Sezuan-Stücks für ihre Freunde in Istanbul, dann steigt sie zur Hospitantin in der Inszenierung von Heiner Müllers Stück „Die Bauern” auf, und schließlich bekommt sie einen festen Vertrag als Regieassistentin und übersiedelt eine Zeitlang nach Ostberlin – was nur den Nachteil hat, dass ihr DDR-Visum Westreisen für sechs Monate untersagt.
Man versteht, weshalb das Ostberliner Brecht-Milieu auf junge Enthusiastinnen wie Emine Özdamar so faszinierend gewirkt hat. Brechts Geist schwebt über allen Wassern, aber nicht einschüchternd, sondern zur Aneignung ermunternd. Auf Schritt und Tritt begegnen ihr die selbstbewussten Verwalter des Brechtschen Erbes, Männer wie Besson, Langhoff, Müller, Vaterfiguren und Idole, denen sie mit einem Mal sehr nahe ist. Das offizielle Pankow ist weit weg; man lässt die Brecht-Nachfahren gewähren, weil sie das erträumte Weltniveau repräsentieren. Der Dank für solche Bewegungsfreiheit ist kritische Loyalität mit der DDR, eine Haltung, die durch Biermanns Ausbürgerung im Herbst 1976 auf eine Probe gestellt wird, die sie nicht bestehen kann. „In der Kantine waren alle erregt” erinnert sich Özdamar, und die Erregung wird nicht mehr aufhören.
Dennoch, Politik spielt in Özdamars Erinnerungen an hochpolitische Zeiten eine erstaunlich geringe Rolle. Zwar hat sie alles mitgeschrieben, was ihr zu Ohren kam, vom RAF-Fieber bis zur Ausbürgerung Wolf Biermanns, aber eigentlich mischt sie sich in solche innerdeutschen Angelegenheiten nicht ein. Ihr Herz schlägt links, aber gewiss nicht für strenge Missionare vom Schlage Rudi Dutschkes. Ob sie sich in West- oder in Ostberlin aufhält, ob im Zigarettenrauch der heimischen WG oder dem der Volksbühnenkantine: im Grunde hat sie ihr Zuhause in den Wolken, irgendwo ungeheuer oben, von wo aus, mit der von ihr bewunderten Else Lasker-Schüler gesprochen, seltsame Sterne zur Erde starren. Von dort oben gelingen ihr schöne Nahaufnahmen, etwa auf das bukolische Leben einer WG-Küche: „die Türe war immer offen, man konnte (.. .) nackt herumlaufen, wir frühstückten nackt, unsere Brüste waren schön, die Brotmaschine arbeitete im Takt, immer badete jemand”.
„Unsere Brüste waren schön”, und deshalb gibt es eine Menge Männer, die der Brecht-Elevin aus Istanbul auf die eine oder andere Weise nachstellen. All das hat sie in ihren Notizen ausführlich vermerkt. „Du bist eine tolle Erscheinung”, ruft „Peters Freund Corinna” ihr beim Baden zu, und ein Mann namens „Heiner” sagt auf der Feier nach Bessons Hamlet-Premiere zu ihr: „Du bist ein Phänomen hier im Osten, du hast die wärmsten Augen der Stadt.” Ohne Unterlass wird geflirtet und geliebt und geküsst in diesem Buch, bis schließlich der Erzählerin die Lippen weh tun. Mit ihren warmen Augen hat sie West- und Ostberlin gleichermaßen verzaubert. Mit ihren warmen Augen hat sie in den fernen Jahren 1976/77 zwischen Wedding und Pankow manches beobachtet, das man auch 25 Jahre später mit merkwürdiger Anteilnahme liest.
CHRISTOPH
BARTMANN
EMINE SEVGI ÖZDAMAR: Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding-Pankow 1976/77. Kiepenheuer&Witsch Verlag, Köln 2003. 248 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Emine Özdamars herrliche Erinnerungen an Berlin
Manche Dinge muss man nur lang genug in Ruhe lassen, dann fangen sie beim Wiedersehen an zu leuchten. Ein Vierteljahrhundert lang hat Emine Sevgi Özdamar ihr Tage- und Skizzenbuch aus „Wedding-Pankow 1976/77” ruhen lassen, bis alle Aktualität aus ihnen verdampft war. Schwer kann man sich einen Bericht aus ferneren Tagen vorstellen, auch wenn manche der erwähnten Personen, Frank Castorf etwa, Wolf Biermann, Günter Gaus oder Gregor Gysi mit ihrem Wirken noch in die Gegenwart hineinragen. Vieles an diesem Buch erscheint auf eine fast sensationelle Weise von gestern: wann haben wir zuletzt von Otto Mühl und der AA-Kommune gelesen, wann von freier Liebe in Westberliner WG-Badewannen, von Benno Besson und der Brecht-Pflege an der Volksbühne oder von der befreienden Wirkung, die der „Gute Mensch von Sezuan” auf linke Oppositionelle in der Türkei haben konnte? Auch das Schwärmerische in Özdamars Ton, die Rotwein- und Zigarettenseligkeit, der Liebes- und Diskussionshunger ihrer nach der Natur gezeichneten Figuren, kommen von weit her, aus einer anderen Zeit, lange bevor die Mauer brach und Berlin zur „capital of cool” befördert wurde.
Es ist verblüffend, wie gut diesem Buch der Abstand zur Gegenwart bekommt. Vielleicht wäre es überhaupt ratsam, man würde eine Sperrfrist über die Gegenwart verhängen und dürfte erst in 25 Jahren von ihr schreiben. Alle Welt redet vom Berlin-Roman: hier ist einer. Alles an ihm ist urban, aber das Urbane ist in ihm, anders als im Gros der neuen Berlin-Literatur, kein Thema. Es ist einfach da. Keine Russenmafia, keine Love Parade, dafür ziemlich viel Grau auf beiden Seiten und dazwischen eine Mauer, die sich für Frau Özdamar aus Istanbul jeden Tag einen Spalt breit öffnet.
Ich liebe Brecht
In Berlin, hat sich die junge Schauspielerin vorgenommen, will sie das „Brechttheater lernen”. Eben ist in Istanbul ihre Ehe in die Brüche gegangen, und auch ihre Theaterkarriere scheint nach einem Militärputsch ruiniert zu sein. Zuletzt hatte sie daheim in „Mann ist Mann” die Witwe Begbick gespielt, aber jetzt ist das Theater geschlossen worden. Bei der Grenzkontrolle im Zug erklärt sie dem DDR-Beamten unaufgefordert: „Ich liebe Brecht”, aber sie erhält keine Antwort. In Westberlin stellt sie ihren Koffer am Bahnhof Zoo ab und fährt sofort weiter zu Benno Besson nach Ostberlin.
Eine Weile wird sie nun jeden Tag als Brecht-Pendlerin zwischen West und Ost unterwegs sein, wird in der Volksbühne hospitieren und abends in ihr Westberliner WG-Zimmer zurückkehren. Wie nur wenige darf sie „the best of both worlds” kennenlernen – die Westberliner Siebziger-Sub(ventions)kultur und die kritisch-loyale DDR-Hochkultur, Momentaufnahmen zweier Zivilisationen, den kein langes Leben mehr beschieden sein wird. „Herr Besson”, hat sie dem berühmten Regisseur zur Begrüßung gesagt, „ich bin gekommen, um von ihnen das Brechttheater zu lernen.” Der Wunsch wird ihr umstandslos erfüllt, wie sich überhaupt das Brechttheater dieser Novizin fast von selber öffnet. Erst übersetzt sie Bessons Probennotizen des Sezuan-Stücks für ihre Freunde in Istanbul, dann steigt sie zur Hospitantin in der Inszenierung von Heiner Müllers Stück „Die Bauern” auf, und schließlich bekommt sie einen festen Vertrag als Regieassistentin und übersiedelt eine Zeitlang nach Ostberlin – was nur den Nachteil hat, dass ihr DDR-Visum Westreisen für sechs Monate untersagt.
Man versteht, weshalb das Ostberliner Brecht-Milieu auf junge Enthusiastinnen wie Emine Özdamar so faszinierend gewirkt hat. Brechts Geist schwebt über allen Wassern, aber nicht einschüchternd, sondern zur Aneignung ermunternd. Auf Schritt und Tritt begegnen ihr die selbstbewussten Verwalter des Brechtschen Erbes, Männer wie Besson, Langhoff, Müller, Vaterfiguren und Idole, denen sie mit einem Mal sehr nahe ist. Das offizielle Pankow ist weit weg; man lässt die Brecht-Nachfahren gewähren, weil sie das erträumte Weltniveau repräsentieren. Der Dank für solche Bewegungsfreiheit ist kritische Loyalität mit der DDR, eine Haltung, die durch Biermanns Ausbürgerung im Herbst 1976 auf eine Probe gestellt wird, die sie nicht bestehen kann. „In der Kantine waren alle erregt” erinnert sich Özdamar, und die Erregung wird nicht mehr aufhören.
Dennoch, Politik spielt in Özdamars Erinnerungen an hochpolitische Zeiten eine erstaunlich geringe Rolle. Zwar hat sie alles mitgeschrieben, was ihr zu Ohren kam, vom RAF-Fieber bis zur Ausbürgerung Wolf Biermanns, aber eigentlich mischt sie sich in solche innerdeutschen Angelegenheiten nicht ein. Ihr Herz schlägt links, aber gewiss nicht für strenge Missionare vom Schlage Rudi Dutschkes. Ob sie sich in West- oder in Ostberlin aufhält, ob im Zigarettenrauch der heimischen WG oder dem der Volksbühnenkantine: im Grunde hat sie ihr Zuhause in den Wolken, irgendwo ungeheuer oben, von wo aus, mit der von ihr bewunderten Else Lasker-Schüler gesprochen, seltsame Sterne zur Erde starren. Von dort oben gelingen ihr schöne Nahaufnahmen, etwa auf das bukolische Leben einer WG-Küche: „die Türe war immer offen, man konnte (.. .) nackt herumlaufen, wir frühstückten nackt, unsere Brüste waren schön, die Brotmaschine arbeitete im Takt, immer badete jemand”.
„Unsere Brüste waren schön”, und deshalb gibt es eine Menge Männer, die der Brecht-Elevin aus Istanbul auf die eine oder andere Weise nachstellen. All das hat sie in ihren Notizen ausführlich vermerkt. „Du bist eine tolle Erscheinung”, ruft „Peters Freund Corinna” ihr beim Baden zu, und ein Mann namens „Heiner” sagt auf der Feier nach Bessons Hamlet-Premiere zu ihr: „Du bist ein Phänomen hier im Osten, du hast die wärmsten Augen der Stadt.” Ohne Unterlass wird geflirtet und geliebt und geküsst in diesem Buch, bis schließlich der Erzählerin die Lippen weh tun. Mit ihren warmen Augen hat sie West- und Ostberlin gleichermaßen verzaubert. Mit ihren warmen Augen hat sie in den fernen Jahren 1976/77 zwischen Wedding und Pankow manches beobachtet, das man auch 25 Jahre später mit merkwürdiger Anteilnahme liest.
CHRISTOPH
BARTMANN
EMINE SEVGI ÖZDAMAR: Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding-Pankow 1976/77. Kiepenheuer&Witsch Verlag, Köln 2003. 248 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2003Wir sind nur Hospitant auf Erden
V-Affekte: Emine Sevgi Özdamar lernt das Brecht-Theater
Mitte der siebziger Jahre geht eine junge türkische Schauspielerin von Istanbul nach Ost-Berlin. Ihre Ehe ist zerbrochen, und der Militärputsch hat verhindert, daß sie weiter die Witwe Begbick in Brechts "Mann ist Mann" spielt. Nun will sie, mit einem Empfehlungsschreiben des Zürcher Buchhändlers Pinkus in der Tasche, zu Benno Besson, um an der Volksbühne "das Brecht-Theater zu lernen". Drei Tage und drei Nächte fährt sie Zug und liest immer wieder in einem Buch, bis ein mitfahrender, mitfühlender Landsmann fragt: "Schönes Mädchen, machst du Liebe mit diesem Buch?" Ja, das tut sie, denn das Buch handelt - erraten! - von Benno Besson, und sein Foto zeigt auf der rechten Wange ein Muttermal.
Es ist ein deutsch-türkisches Wintermärchen, das Emine Sevgi Özdamar uns in "Seltsame Sterne starren zur Erde" erzählt. Diese von "Else" - das heißt Lasker-Schüler - entlehnten Sterne lassen sie "mit brennenden Armen die Liebe suchen". Es ist - einige Amouren abgerechnet - die Liebe zum Theater Bessons und Heiner Müllers. Emine erhält die gewünschte Hospitanz. Sie zeichnet und notiert, was sie auf der Probe sieht und hört, in linierte Schulhefte. Sie tritt in kleineren Rollen auf und wird Bessons Assistentin. Als dieser die DDR verläßt, lädt er sie nach Paris ein, ihm beim "Kaukasischen Kreidekreis" zu helfen. Wir verlieren die beiden in der Métro aus den Augen: "Du bist müde von der Reise, leg deinen Kopf auf meine Schulter und schlaf etwas." Das Märchen geht gut aus, nicht als Liebesgeschichte, sondern als Erfolgsstory.
Emine Sevgi Özdamar hat ein hübsches Erzähltalent. Im naiven Gestus ihrer Aufzeichnungen aus den Jahren 1976/77 sitzt manchmal der Schalk. Wer freilich Analysen der Theaterarbeit erwartet, ist an der falschen Adresse. Die reichlich eingestreuten Probenotizen bleiben unkommentiert. Allenfalls heißt es: "Fritz und alle Schauspieler sind nervös. Aber die Probe war sehr schön." Um so mehr ist die Autorin an Privatem interessiert. Sie läßt uns wissen, daß Besson wie Müller mit ihr flirten. Benno Besson trägt jeden Tag dasselbe Jackett, das er nur für die Premiere wechselt, und Heiner Müller schaut auf ihre Füße. "Ich hatte pinkfarbene Schuhe an."
Die junge Türkin aus Istanbul hat die Chance des fremden Blicks auf die zweigeteilte Stadt. Die Visumschwierigkeiten zwingen sie zu täglichen S-Bahn-Fahrten zwischen West- und Ost-Berlin. Sie findet Freunde in Pankow und wohnt in einer Weddinger WG. Sie kann ihre türkischen Landsleute als Nachbarn beobachten und bekommt die Ereignisse des "deutschen Herbstes" mit, die Schleyer-Entführung und die Stammheim-Toten - "ein Leben, das kein Deutscher so je gesehen hat", wie uns der Verlag verheißt.
Freilich versteht die Erzählerin sich weder als Ethnographin noch als Soziologin. Mit der Theaterarbeit und ihren privaten Affären beschäftigt, bleibt ihr nur die gelinde Verwunderung über die deutsch-deutschen Zustände. In Emines Weddinger Wohngemeinschaft ist es schmutzig, man diskutiert Orgasmusprobleme und läuft nackt durch die Wohnung. Im Osten genießt sie es, daß die Grenzposten nett zu ihr sind. Sie bemerkt, daß die Politiker wie Arbeiter aussehen, die gerade zu Vorarbeitern ernannt wurden. Sie findet, das DDR-Auto Trabant habe etwas von einer Kinderzeichnung: "Die Farben waren Babywäsche-Farben: Blau, Rosa, Grün." So weit reicht Özdamars fremder Blick. Aber auch nicht weiter.
HARALD HARTUNG
Emine Sevgi Özdamar: "Seltsame Sterne starren zur Erde". Wedding - Pankow 1976/77. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 248 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
V-Affekte: Emine Sevgi Özdamar lernt das Brecht-Theater
Mitte der siebziger Jahre geht eine junge türkische Schauspielerin von Istanbul nach Ost-Berlin. Ihre Ehe ist zerbrochen, und der Militärputsch hat verhindert, daß sie weiter die Witwe Begbick in Brechts "Mann ist Mann" spielt. Nun will sie, mit einem Empfehlungsschreiben des Zürcher Buchhändlers Pinkus in der Tasche, zu Benno Besson, um an der Volksbühne "das Brecht-Theater zu lernen". Drei Tage und drei Nächte fährt sie Zug und liest immer wieder in einem Buch, bis ein mitfahrender, mitfühlender Landsmann fragt: "Schönes Mädchen, machst du Liebe mit diesem Buch?" Ja, das tut sie, denn das Buch handelt - erraten! - von Benno Besson, und sein Foto zeigt auf der rechten Wange ein Muttermal.
Es ist ein deutsch-türkisches Wintermärchen, das Emine Sevgi Özdamar uns in "Seltsame Sterne starren zur Erde" erzählt. Diese von "Else" - das heißt Lasker-Schüler - entlehnten Sterne lassen sie "mit brennenden Armen die Liebe suchen". Es ist - einige Amouren abgerechnet - die Liebe zum Theater Bessons und Heiner Müllers. Emine erhält die gewünschte Hospitanz. Sie zeichnet und notiert, was sie auf der Probe sieht und hört, in linierte Schulhefte. Sie tritt in kleineren Rollen auf und wird Bessons Assistentin. Als dieser die DDR verläßt, lädt er sie nach Paris ein, ihm beim "Kaukasischen Kreidekreis" zu helfen. Wir verlieren die beiden in der Métro aus den Augen: "Du bist müde von der Reise, leg deinen Kopf auf meine Schulter und schlaf etwas." Das Märchen geht gut aus, nicht als Liebesgeschichte, sondern als Erfolgsstory.
Emine Sevgi Özdamar hat ein hübsches Erzähltalent. Im naiven Gestus ihrer Aufzeichnungen aus den Jahren 1976/77 sitzt manchmal der Schalk. Wer freilich Analysen der Theaterarbeit erwartet, ist an der falschen Adresse. Die reichlich eingestreuten Probenotizen bleiben unkommentiert. Allenfalls heißt es: "Fritz und alle Schauspieler sind nervös. Aber die Probe war sehr schön." Um so mehr ist die Autorin an Privatem interessiert. Sie läßt uns wissen, daß Besson wie Müller mit ihr flirten. Benno Besson trägt jeden Tag dasselbe Jackett, das er nur für die Premiere wechselt, und Heiner Müller schaut auf ihre Füße. "Ich hatte pinkfarbene Schuhe an."
Die junge Türkin aus Istanbul hat die Chance des fremden Blicks auf die zweigeteilte Stadt. Die Visumschwierigkeiten zwingen sie zu täglichen S-Bahn-Fahrten zwischen West- und Ost-Berlin. Sie findet Freunde in Pankow und wohnt in einer Weddinger WG. Sie kann ihre türkischen Landsleute als Nachbarn beobachten und bekommt die Ereignisse des "deutschen Herbstes" mit, die Schleyer-Entführung und die Stammheim-Toten - "ein Leben, das kein Deutscher so je gesehen hat", wie uns der Verlag verheißt.
Freilich versteht die Erzählerin sich weder als Ethnographin noch als Soziologin. Mit der Theaterarbeit und ihren privaten Affären beschäftigt, bleibt ihr nur die gelinde Verwunderung über die deutsch-deutschen Zustände. In Emines Weddinger Wohngemeinschaft ist es schmutzig, man diskutiert Orgasmusprobleme und läuft nackt durch die Wohnung. Im Osten genießt sie es, daß die Grenzposten nett zu ihr sind. Sie bemerkt, daß die Politiker wie Arbeiter aussehen, die gerade zu Vorarbeitern ernannt wurden. Sie findet, das DDR-Auto Trabant habe etwas von einer Kinderzeichnung: "Die Farben waren Babywäsche-Farben: Blau, Rosa, Grün." So weit reicht Özdamars fremder Blick. Aber auch nicht weiter.
HARALD HARTUNG
Emine Sevgi Özdamar: "Seltsame Sterne starren zur Erde". Wedding - Pankow 1976/77. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 248 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Was den Roman so besonders macht, ist der Blick der Autorin auf das Erlebte, ein kindlicher Blick, ein urteilsfreies Staunen, das eigentümlich starke Stimmungen erzeugt.« Kurier