Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2004Unserer Lehrerin ihr Liebling
In Frankreich sind neue Geschichten vom „Kleinen Nick” wiederentdeckt und als Buch veröffentlicht worden - prima!
Es ist so, als habe man gerade Neues aus Lönneberga oder Lummerland erfahren, aus Titiwu, von Grimm oder Andersen. Wie schön. Die Sensation nahm vor einiger Zeit in Paris ihren Lauf. Anne Goscinny, Tochter und einziges Kind des vor 27 Jahren gestorbenen Erzählers René Goscinny, besuchte den Zeichner Jean-Jacques Sempé. Sempé - wegen seiner Stimmungsschwankungen nicht nur bei Journalisten gefürchtet - lachte. Er lachte laut. Sein Gelächter hallte durch die Wohnung. Nach vierzig Jahren betrachtete er erstmals wieder Zeichnungen, die er einst für die Geschichten vom kleinen Nick geschaffen hatte. Anfang der sechziger Jahre waren gut 160 dieser „Le petit Nicolas”-Folgen von der französischen Regionalzeitung Sud-Ouest Dimanche gedruckt worden. Texter Goscinny und Zeichner Sempé hatten sie sich bei Wein und Zigaretten ausgedacht. Gut die Hälfte der Kolumnen wurden später als Buch in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und mehr als acht Millionen Mal verkauft. Nicht schlecht. Die achtzig übrigen Satiren galten lange Zeit als verschollen. Anne Goscinny entdeckte sie erst vor vier Jahren bei einem Umzug. „Meine Mutter hat von dem Schatz gewusst. Sie hätte die Geschichten am liebsten selbst herausgebracht”, sagt Anne. „Aber auch sie starb viel zu früh.”
Mit Sempés Einverständnis gründete Anne Goscinny, Mitte dreißig und Mutter von zwei Kindern, den winzigen Verlag IMAV (ein Kompositum aus den hebräischen Wörtern für Vater und Mutter). Hier brachte sie die „Histoires inédites du Petit Nicolas” als Buch heraus. Und seit dem 7. Oktober nun liegen die Abenteuer von Nick und seinen Freunden Otto, Chlodwig, Franz, Georg, Roland und Adalbert, „Klassenerster und unserer Lehrerin ihr Liebling”, in den französischen Buchläden. Schon rutschte das 630 Seiten starke Werk auf Platz zwei der Verkaufsliste, 73 000 Stück waren im Nu weg, 150 000 mussten bereits nachgedruckt werden. An die dreißig ausländische Verlage bemühen sich um die Rechte. Für die deutsche Version wird wieder der Diogenes-Verlag zuständig sein, wie schon vor dreißig Jahren. „Wir sind unglaublich glücklich”, heißt es dazu bei Diogenes. Sempés Münchner Galeristin jubelt: „Es ist, als habe man eine ungedruckte Jane Austen entdeckt.” Die FAZ gar schlägt waghalsige Parallelen zur „Leitmotivtechnik” bei Thomas Mann. Das also ist echte Freude. Hans-Georg Lenzen, 83, emeritierter Design-Professor aus Grevenbroich, sowie Übersetzer der früheren Nick-Geschichten, erfuhr vergangenen Donnerstag durch die SZ vom Fund. „Früher bin ich täglich zwei Stunden von Moers nach Düsseldorf in der Straßenbahn gefahren”, sagt er. „Da habe ich Nick auf dem Notizblock übersetzt und meine Aufzeichnungen später einer Sekretärin diktiert.” Ist doch keine Frage: Lenzen muss auch die neuen „Histoires” übersetzen. Am besten in der Straßenbahn. Man kann nur hoffen, dass die Diogenes-Lektoren das auch so sehen.
Als die ersten deutschen Bände vom kleinen Nick veröffentlicht wurden, hagelte es Beschimpfungen. „Was die Sprache angeht, teilen sich Verfasser und Übersetzer die plumpe Unverfrorenheit, mit der sie ein idiotisches Kauderwelsch als originale Kindersprache ausgeben”, wetterte eine, nun ja, Münchner Zeitung. Ähnlich äußerten sich Lehrerverbände. Diogenes fügte der Übersetzung ein Vorwort bei: „Satzbau, Zeichensetzung und Rechtschreibung dieses Buches sind dem kleinen Nick angepasst, nicht dem ,kleinen Duden.”
René Goscinnys Idee, die Welt in der unausgereiften Sprache eines Kindes abzubilden, war schon damals nicht neu. Aber der als Sohn französischer Eltern in Buenos Aires aufgewachsene Mann, der später an seiner Schreibmaschine in Paris auch Asterix und Lucky Luke miterfand, schuf mit „Le petit Nicolas” etwas Einzigartiges. Wie die Goscinnyschen Ausdrücke „Tirer plus vite que son ombre” (Der Cowboy, der „schneller schießt als sein Schatten”) und „Ils sont fous, ces Romains” („Die spinnen, die Römer”) in die Alltagssprache eingingen, so wurde „chouette” („prima”) ein Erkennungszeichen der weltweiten Nick-Gemeinde. Ihr Held ist, anders als Asterix, viel zu normal, als dass man einen Freizeitpark nach ihm benennen könnte.
Die neuentdeckten Kurzgeschichten sind ebenso zeitlos und perfekt wie die bereits bekannten. Sagenhaft komisch, niemals anbiedernd, für Kinder und Erwachsene. In „Wir kommen zurück” trauert Nicolas - auf Sempés Vorschlag nach einem Weinhändler benannt - dem Familienurlaub am Meer nach, weil es „am schönsten ist, wenn die Freunde einen bewundern, wie braun man ist”. Da er „lieber sterben” möchte, als weiß zu werden, schicken ihn seine Eltern in den Garten. Allerdings ohne das für ihn gewünschte Ergebnis. Nicks Geschrei führt zum Ehekrach, und als schließlich des Nachbarn hübsche Tochter Marie-Hedwig dem kleinen Nick gegenübertritt, wird dieser statt braun knallrot. In einem anderen Kapitel springt Junglehrer Mouchabìere für Hilfslehrer Bouillon als Pausenaufsicht ein (in der deutschen Fassung heißt Bouillon Hühnerbrüh, wegen seiner trüben Augen). Mouchabìere versucht, das Kriegsspiel der Kinder zu verbieten. Vergeblich. Jungs wollen Kampfflieger sein. All das endet tragisch für Junglehrer Mouchabìere. Das Leben beim kleinen Nick ist eben so: Für die einen gibt es keinen, für die anderen gleich doppelten Nachtisch. Das verstehe, wer will. Aber das Dasein ist eben unlogisch und ungerecht. Sempé weiß das schon lange. Seine Nasenmännchen gehören seit jeher zu unseren besten Freunden.
„Ich glaube nicht an Marktuntersuchungen”, sagte René Goscinny einmal. „Wenn Sie jemanden fragen, was er gerne lesen möchte, dann ist das schon das Ende. Schließlich wollen sie den Leser ja überraschen.” Das Leben indes diktiert ganz andere Regeln. Das muss auch der kleine Nick erfahren. Als er mit seinen Freunden beschließt, eine Zeitung herauszugeben, trifft man sich zur Redaktionskonferenz: „,Und wie soll die Zeitung heißen? habe ich gefragt. Da haben wir uns aber ziemlich gestritten, nämlich jeder wollte was anderes. Ein paar haben gesagt ,Der Rächer, aber die anderen wollten ,Der Sieger und wieder andere haben gesagt, die Zeitung soll ,Richard Löwenherz heißen. Max wollte sie unbedingt ,Max-Nachrichten nennen, und er ist ganz böse geworden, als Otto gesagt hat, das ist ein blöder Name. Und Otto hat gesagt, die Zeitung muss ,Schlemmer-Ecke heißen, nämlich das ist der Name von der Bäckerei nebenan, wo er immer seine Kekse kauft.” So bleibt es. Das ganze Leben lang.
MARTIN ZIPS
„In der Schule war es heute prima.” Der kleine Nick und seine Bande kehren ins Bücherregal zurück.
Abb.: Sempé, „Der kleine Nick”,Diogenes
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In Frankreich sind neue Geschichten vom „Kleinen Nick” wiederentdeckt und als Buch veröffentlicht worden - prima!
Es ist so, als habe man gerade Neues aus Lönneberga oder Lummerland erfahren, aus Titiwu, von Grimm oder Andersen. Wie schön. Die Sensation nahm vor einiger Zeit in Paris ihren Lauf. Anne Goscinny, Tochter und einziges Kind des vor 27 Jahren gestorbenen Erzählers René Goscinny, besuchte den Zeichner Jean-Jacques Sempé. Sempé - wegen seiner Stimmungsschwankungen nicht nur bei Journalisten gefürchtet - lachte. Er lachte laut. Sein Gelächter hallte durch die Wohnung. Nach vierzig Jahren betrachtete er erstmals wieder Zeichnungen, die er einst für die Geschichten vom kleinen Nick geschaffen hatte. Anfang der sechziger Jahre waren gut 160 dieser „Le petit Nicolas”-Folgen von der französischen Regionalzeitung Sud-Ouest Dimanche gedruckt worden. Texter Goscinny und Zeichner Sempé hatten sie sich bei Wein und Zigaretten ausgedacht. Gut die Hälfte der Kolumnen wurden später als Buch in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und mehr als acht Millionen Mal verkauft. Nicht schlecht. Die achtzig übrigen Satiren galten lange Zeit als verschollen. Anne Goscinny entdeckte sie erst vor vier Jahren bei einem Umzug. „Meine Mutter hat von dem Schatz gewusst. Sie hätte die Geschichten am liebsten selbst herausgebracht”, sagt Anne. „Aber auch sie starb viel zu früh.”
Mit Sempés Einverständnis gründete Anne Goscinny, Mitte dreißig und Mutter von zwei Kindern, den winzigen Verlag IMAV (ein Kompositum aus den hebräischen Wörtern für Vater und Mutter). Hier brachte sie die „Histoires inédites du Petit Nicolas” als Buch heraus. Und seit dem 7. Oktober nun liegen die Abenteuer von Nick und seinen Freunden Otto, Chlodwig, Franz, Georg, Roland und Adalbert, „Klassenerster und unserer Lehrerin ihr Liebling”, in den französischen Buchläden. Schon rutschte das 630 Seiten starke Werk auf Platz zwei der Verkaufsliste, 73 000 Stück waren im Nu weg, 150 000 mussten bereits nachgedruckt werden. An die dreißig ausländische Verlage bemühen sich um die Rechte. Für die deutsche Version wird wieder der Diogenes-Verlag zuständig sein, wie schon vor dreißig Jahren. „Wir sind unglaublich glücklich”, heißt es dazu bei Diogenes. Sempés Münchner Galeristin jubelt: „Es ist, als habe man eine ungedruckte Jane Austen entdeckt.” Die FAZ gar schlägt waghalsige Parallelen zur „Leitmotivtechnik” bei Thomas Mann. Das also ist echte Freude. Hans-Georg Lenzen, 83, emeritierter Design-Professor aus Grevenbroich, sowie Übersetzer der früheren Nick-Geschichten, erfuhr vergangenen Donnerstag durch die SZ vom Fund. „Früher bin ich täglich zwei Stunden von Moers nach Düsseldorf in der Straßenbahn gefahren”, sagt er. „Da habe ich Nick auf dem Notizblock übersetzt und meine Aufzeichnungen später einer Sekretärin diktiert.” Ist doch keine Frage: Lenzen muss auch die neuen „Histoires” übersetzen. Am besten in der Straßenbahn. Man kann nur hoffen, dass die Diogenes-Lektoren das auch so sehen.
Als die ersten deutschen Bände vom kleinen Nick veröffentlicht wurden, hagelte es Beschimpfungen. „Was die Sprache angeht, teilen sich Verfasser und Übersetzer die plumpe Unverfrorenheit, mit der sie ein idiotisches Kauderwelsch als originale Kindersprache ausgeben”, wetterte eine, nun ja, Münchner Zeitung. Ähnlich äußerten sich Lehrerverbände. Diogenes fügte der Übersetzung ein Vorwort bei: „Satzbau, Zeichensetzung und Rechtschreibung dieses Buches sind dem kleinen Nick angepasst, nicht dem ,kleinen Duden.”
René Goscinnys Idee, die Welt in der unausgereiften Sprache eines Kindes abzubilden, war schon damals nicht neu. Aber der als Sohn französischer Eltern in Buenos Aires aufgewachsene Mann, der später an seiner Schreibmaschine in Paris auch Asterix und Lucky Luke miterfand, schuf mit „Le petit Nicolas” etwas Einzigartiges. Wie die Goscinnyschen Ausdrücke „Tirer plus vite que son ombre” (Der Cowboy, der „schneller schießt als sein Schatten”) und „Ils sont fous, ces Romains” („Die spinnen, die Römer”) in die Alltagssprache eingingen, so wurde „chouette” („prima”) ein Erkennungszeichen der weltweiten Nick-Gemeinde. Ihr Held ist, anders als Asterix, viel zu normal, als dass man einen Freizeitpark nach ihm benennen könnte.
Die neuentdeckten Kurzgeschichten sind ebenso zeitlos und perfekt wie die bereits bekannten. Sagenhaft komisch, niemals anbiedernd, für Kinder und Erwachsene. In „Wir kommen zurück” trauert Nicolas - auf Sempés Vorschlag nach einem Weinhändler benannt - dem Familienurlaub am Meer nach, weil es „am schönsten ist, wenn die Freunde einen bewundern, wie braun man ist”. Da er „lieber sterben” möchte, als weiß zu werden, schicken ihn seine Eltern in den Garten. Allerdings ohne das für ihn gewünschte Ergebnis. Nicks Geschrei führt zum Ehekrach, und als schließlich des Nachbarn hübsche Tochter Marie-Hedwig dem kleinen Nick gegenübertritt, wird dieser statt braun knallrot. In einem anderen Kapitel springt Junglehrer Mouchabìere für Hilfslehrer Bouillon als Pausenaufsicht ein (in der deutschen Fassung heißt Bouillon Hühnerbrüh, wegen seiner trüben Augen). Mouchabìere versucht, das Kriegsspiel der Kinder zu verbieten. Vergeblich. Jungs wollen Kampfflieger sein. All das endet tragisch für Junglehrer Mouchabìere. Das Leben beim kleinen Nick ist eben so: Für die einen gibt es keinen, für die anderen gleich doppelten Nachtisch. Das verstehe, wer will. Aber das Dasein ist eben unlogisch und ungerecht. Sempé weiß das schon lange. Seine Nasenmännchen gehören seit jeher zu unseren besten Freunden.
„Ich glaube nicht an Marktuntersuchungen”, sagte René Goscinny einmal. „Wenn Sie jemanden fragen, was er gerne lesen möchte, dann ist das schon das Ende. Schließlich wollen sie den Leser ja überraschen.” Das Leben indes diktiert ganz andere Regeln. Das muss auch der kleine Nick erfahren. Als er mit seinen Freunden beschließt, eine Zeitung herauszugeben, trifft man sich zur Redaktionskonferenz: „,Und wie soll die Zeitung heißen? habe ich gefragt. Da haben wir uns aber ziemlich gestritten, nämlich jeder wollte was anderes. Ein paar haben gesagt ,Der Rächer, aber die anderen wollten ,Der Sieger und wieder andere haben gesagt, die Zeitung soll ,Richard Löwenherz heißen. Max wollte sie unbedingt ,Max-Nachrichten nennen, und er ist ganz böse geworden, als Otto gesagt hat, das ist ein blöder Name. Und Otto hat gesagt, die Zeitung muss ,Schlemmer-Ecke heißen, nämlich das ist der Name von der Bäckerei nebenan, wo er immer seine Kekse kauft.” So bleibt es. Das ganze Leben lang.
MARTIN ZIPS
„In der Schule war es heute prima.” Der kleine Nick und seine Bande kehren ins Bücherregal zurück.
Abb.: Sempé, „Der kleine Nick”,Diogenes
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