Lucius Annaeus Seneca wurde vor rund 2000 Jahren geboren. Als stoischer Philosoph, Tragödiendichter, Erzieher und Minister ist er eine der vielseitigsten Gestalten der Antike. Unter Kaiser Caligula verfolgt, unter Claudius verbannt und von Nero zum Selbstmord gezwungen, gab er der Nachwelt die Frage auf, ob und wie man philosophisches Denken und politisches Handeln vereinen kann. In seinen brillanten Essays weist er den Weg zur inneren Freiheit und Seelenruhe, zum "Leben gemäß der Natur", in Gemeinschaft mit den Menschen, die alle, auch die Sklaven, einen Funken des göttlichen Geistes in sich tragen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.1997Neros Nähe
Dicht: Marion Giebels Seneca
Die als Autorin, Übersetzerin und Herausgeberin für den Bereich der Antike vielfach bewährte, speziell durch Biographien über Sappho, Cicero, Vergil, Augustus und Ovid hervorgetretene Marion Giebel hat ein neues Glied in der Kette ihrer knappen und dichten Bildmonographien vorgelegt. Auch hier findet der Leser zuverlässige Informationen über einen ungewöhnlich vielseitigen Schriftsteller und dessen einflußreiches Werk, auch hier wird er durch klaren Ausdruck, flüssigen Stil und eine reichhaltige Bilddokumentation beeindruckt. Auch hier imponieren die Bemühung um ein ausgewogenes Urteil, die Einfühlung in ein vielseitiges Werk, das Verständnis für Verhalten und Handeln eines Intellektuellen in extremen Situationen.
Jede Biographie des Philosophen Lucius Annaeus Seneca (geboren zwischen 4 und 1 vor Christus - gestorben 65 nach Christus) hat nicht nur ein außergewöhnliches, wechselvolles Leben zu schildern, das tief in die Geschichte des julisch-claudischen Hauses, vor allem in den Prinzipat Neros, verstrickt war, sondern zugleich das OEuvre des großen stoischen Philosophen, Moralisten und Tragödiendichters in die römische Geistesgeschichte einzuordnen und dessen erstaunlich komplexes Nachleben wenigstens zu skizzieren. All dies wurde hier geleistet; der "Toreador der Tugend", wie ihn Nietzsche bezeichnete, ist selten so plastisch dargestellt worden wie in Marion Giebels Miniatur.
Intensive Bemühungen um antike Autoren laufen häufig Gefahr, die inneren Widersprüche der Persönlichkeit zugunsten eines in sich geschlossenen Bildes zu harmonisieren. Im Falle Senecas sind sie der Biographin nicht verborgen geblieben. Ein moderner Historiker dürfte freilich den Kontrast zwischen Senecas hohen moralischen und philosophischen Ansprüchen einerseits, dem faktischen Handeln andererseits schärfer ausleuchten, das Scheitern des Philosophen an der Macht noch stärker betonen, als es hier geschehen ist. Denn man mag Senecas Stil und Rhetorik bewundern, seine philosophischen Lehren und Aphorismen schätzen, Ethos und Pathos seiner Tragödien rühmen - von der Verantwortung für die fatalen Entwicklungen der Person und des Regiments Neros wird man ihn nie freisprechen können. Der Mangel an entschiedener Konsequenz gegenüber Verbrechen und Unrecht bleibt evident, die Korruption durch die Macht unverkennbar. KARL CHRIST
Marion Giebel: "Seneca". Rowohlts Monographien. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997. 160 S., Abb., br., 12,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dicht: Marion Giebels Seneca
Die als Autorin, Übersetzerin und Herausgeberin für den Bereich der Antike vielfach bewährte, speziell durch Biographien über Sappho, Cicero, Vergil, Augustus und Ovid hervorgetretene Marion Giebel hat ein neues Glied in der Kette ihrer knappen und dichten Bildmonographien vorgelegt. Auch hier findet der Leser zuverlässige Informationen über einen ungewöhnlich vielseitigen Schriftsteller und dessen einflußreiches Werk, auch hier wird er durch klaren Ausdruck, flüssigen Stil und eine reichhaltige Bilddokumentation beeindruckt. Auch hier imponieren die Bemühung um ein ausgewogenes Urteil, die Einfühlung in ein vielseitiges Werk, das Verständnis für Verhalten und Handeln eines Intellektuellen in extremen Situationen.
Jede Biographie des Philosophen Lucius Annaeus Seneca (geboren zwischen 4 und 1 vor Christus - gestorben 65 nach Christus) hat nicht nur ein außergewöhnliches, wechselvolles Leben zu schildern, das tief in die Geschichte des julisch-claudischen Hauses, vor allem in den Prinzipat Neros, verstrickt war, sondern zugleich das OEuvre des großen stoischen Philosophen, Moralisten und Tragödiendichters in die römische Geistesgeschichte einzuordnen und dessen erstaunlich komplexes Nachleben wenigstens zu skizzieren. All dies wurde hier geleistet; der "Toreador der Tugend", wie ihn Nietzsche bezeichnete, ist selten so plastisch dargestellt worden wie in Marion Giebels Miniatur.
Intensive Bemühungen um antike Autoren laufen häufig Gefahr, die inneren Widersprüche der Persönlichkeit zugunsten eines in sich geschlossenen Bildes zu harmonisieren. Im Falle Senecas sind sie der Biographin nicht verborgen geblieben. Ein moderner Historiker dürfte freilich den Kontrast zwischen Senecas hohen moralischen und philosophischen Ansprüchen einerseits, dem faktischen Handeln andererseits schärfer ausleuchten, das Scheitern des Philosophen an der Macht noch stärker betonen, als es hier geschehen ist. Denn man mag Senecas Stil und Rhetorik bewundern, seine philosophischen Lehren und Aphorismen schätzen, Ethos und Pathos seiner Tragödien rühmen - von der Verantwortung für die fatalen Entwicklungen der Person und des Regiments Neros wird man ihn nie freisprechen können. Der Mangel an entschiedener Konsequenz gegenüber Verbrechen und Unrecht bleibt evident, die Korruption durch die Macht unverkennbar. KARL CHRIST
Marion Giebel: "Seneca". Rowohlts Monographien. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997. 160 S., Abb., br., 12,90 DM.
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