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Viktor Schklowskijs Sentimentale Reise durch die Schreckensjahre 1917-1922 ist ganz und gar unsentimental - das "anatomische Präparat" nicht nur eines Zeitzeugen, sondern eines aktiv Handelnden. Schklowskij, ein Soldat, stellte sich im Februar 1917 mit seiner Einheit auf die Seite der Revolution und war in der Zeit der provisorischen Regierung Armeekommissar an der galizischen Front und später in Persien. Im Petrograd nach der Oktoberrevolution begründete er zwischen 1919-1922 eine "neue Richtung der Literaturwissenschaft", lehrte als Professor am Institut für Kunstgeschichte, spielte eine…mehr

Produktbeschreibung
Viktor Schklowskijs Sentimentale Reise durch die Schreckensjahre 1917-1922 ist ganz und gar unsentimental - das "anatomische Präparat" nicht nur eines Zeitzeugen, sondern eines aktiv Handelnden. Schklowskij, ein Soldat, stellte sich im Februar 1917 mit seiner Einheit auf die Seite der Revolution und war in der Zeit der provisorischen Regierung Armeekommissar an der galizischen Front und später in Persien. Im Petrograd nach der Oktoberrevolution begründete er zwischen 1919-1922 eine "neue Richtung der Literaturwissenschaft", lehrte als Professor am Institut für Kunstgeschichte, spielte eine führende Rolle im literarischen Leben der roten Stadt, um dann im Bürgerkrieg gegen die Weißen zu kämpfen, aber über die zugefrorene Ostsee nach Finnland und schließlich nach Berlin zu fliehen, als ihm wegen "konterrevolutionärer Umtriebe" die Haft drohte. 1923 kehrte er nach Moskau zurück, überlebte den Stalinismus und arbeitete als Literatur-, Theater- und Filmkritiker und -theoretiker, Drehbuchautor und Essayist und wurde in Deutschland mit dem in viele Sprachen veröffentlichten Buch Zoo oder Briefe nicht über die Liebe (erstmals 1965 übersetzt) bekannt - seine theoretischen Abhandlungen sind jedem Literaturstudenten ein Begriff. 1984 starb Schklowskij 91-jährig in Moskau.
Autorenporträt
Viktor Schklowskij (1839-1984) war ein russischer und sowjetischer Kritiker, Schriftsteller, Film- und Literaturtheoretiker. geb. 1965, studierte Slawistik und Komparatistik. Sie ist Autorin, Übersetzerin und seit 2008 Redakteurin der Zeitschrift ¿Osteuropä. Radetzkaja übersetzt vorwiegend aus dem Russischen. So übertrug sie u. a. Werke von Lew Tolstoi, Julius Margolin, Vladimir Sorokin, Evgenij Vodolazkin und Maria Stepanova ins Deutsche. Außerdem ist sie Co-Autorin des Dokumentarfilms ¿Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen¿ (2003).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.08.2017

Der Trompeter der Verfremdung
Bruder Störenfried und die Russische Revolution:
In Viktor Schklowskijs „Sentimentaler Reise“ zerbrechen Welt, Leben und Sprache
VON BRUNO PREISENDÖRFER
Der Unterschied zwischen Literatur und Leben besteht darin, dass das Leben in der Literatur nicht weh tut. „Das Blut ist in der Kunst nicht blutig“, schreibt Viktor Schklowskij in einem Aufsatz über den „Tristram Shandy“ von Laurence Sterne. Der Aufsatz erscheint 1921 in Petersburg. Der Verfasser ist seit ein paar Monaten Literaturprofessor. Ein hungernder und frierender Professor, der mit Büchern heizt. Bücher können beim Lesen das Herz erwärmen, aber wenn man sie in den Ofen steckt, bleiben die Finger kalt.
Im März 1922 allerdings rettet der Frost Schklowskij das Leben. Das Eis der Newa ist so dick, dass wie zur Zarenzeit Pferdefuhrwerke über den Fluss hätten fahren können. Schklowskij, dem als Sozialrevolutionär die Verhaftung durch ein bolschewistisches Kommando droht, flieht zu Fuß über das Eis nach Finnland. Dort schreibt er Teile der „Sentimentalen Reise“, die im Jahr darauf in einem russischen Emigrantenverlag in Berlin erscheint. Andere Teile waren 1919 in Petersburg entstanden und unter dem Titel „Revolution und Front“ bereits veröffentlicht.
Warum nennt ein russischer Literaturprofessor, der im Krieg Panzerwagen befehligt hat, ein Buch, in dem er von „Revolution und Front“ erzählt und vom Hungerleiderleben in Petersburg – warum benennt dieser von der russischen Revolution 1917 hin- und hergeschleuderte Mensch seinen Schreckensbericht nach den schlüpfrigen Reisegeschichten eines saturierten englischen Pfarrers aus dem 18. Jahrhundert? Weil dieser englische Pfarrer Laurence Sterne war, weil Laurence Sterne den „Tristram Shandy“ geschrieben hat, und weil dieser Roman „der typischste Roman der Weltliteratur“ ist. So steht es in Schklowskijs Aufsatz von 1921.
Die Adaption des Sterne-Titels „Sentimental Journey“ (traditionell mit „Empfindsame Reise“ eingedeutscht) für ein Buch über die Jahre unmittelbar vor und nach der Revolution von 1917 ist eineliterarische Ehrenbezeugung und eine lebenstolle Kapriole. Schklowskij kokettierte damit, dass er die Wissenschaft tanze, und in den literarischen Kreisen, in denen er lebte, rief man ihn anerkennend Brat Skandalist, Bruder Störenfried. Er war der Ausrufer der Kunst als Verfahren, der Trompeter der Verfremdung. Man könnte ironisch fragen, ob es der Revolution bedurfte, um aus dem Unruhestifter einen Literaturprofessor zu machen.
Ausgerechnet einen Roman, der sich kunstvoll in Abschweifungen auflöst und dabei alle Tricks (und Ticks) des Breitbanderzählens demonstrativ bloßlegt, ausgerechnet ein solches Werk als typisch für die gesamte Gattung zu annoncieren, war für die akademischen Traditionalisten ein Eklat. Und es sollte auch einer sein, eine Ohrfeige, jener ähnlich, die Majakowski und Chlebnikow im Dezember 1912 austeilten, als sie ihr futuristisches Manifest präsentierten: „Eine Ohrfeige dem allgemeinen Geschmack“. Dem Weitergeben des Althergebrachten sollte das Erwarten des Neuen entgegengesetzt werden, der Einpassung ins Gewohnte die Bereitschaft zum Umsturz: Auf unerprobte Weise leben, lesen, schreiben und jung sein! Schklowskij war erst 23, als er 1916 den Aufsatz „Die Kunst als Verfahren“ veröffentlichte, das theoretische Gründungspamphlet des „Russischen Formalismus“.
Majakowski hatte erklärt: „Dies sind unsere Rhythmen – der Missklang der Kriege und Revolutionen.“ Schklowskijs „Sentimentale Reise“ ist ein missklingendes Buch. Nicht, weil der Autor es literarisch darauf anlegte, sondern weil das Leben es aufzwang. Wie können erzählende Sätze geordnet dahinmarschieren wie blank geputzte Soldaten bei der Parade, wenn bei dem, was zu erzählen ist, die Soldaten äußerlich und innerlich verlumpen, und der Schlamm des Krieges in Stiefelschäfte und Seelen schwappt? Viele Passagen des Buches sind unmittelbar aus dem Geschehen heraus geschrieben, manchmal sogar unter genauer Angabe von Zeit und Ort, andere vergegenwärtigen Ereignisse, die noch gar nicht vergangen sind oder nur kurz zurückliegen. Das geschieht fast immer in kurzen, parolenhaften Sätzen, unterbrochen von Wertungen, Rechtfertigungen, Reflexionen. Und es kommt zu Ausbrüchen der Verzweiflung und des Hohns: „Ich beschreibe nur Elend und noch mehr Elend. Ich bin es leid.“
Als die „Sentimentale Reise“ 1965 erstmals auf Deutsch erschien (in unvollständiger Fassung), bezeichnete Hans Magnus Enzensberger das Buch als „Faktographie“. Es war das Jahr, in dem er das Kursbuch gründete, eine Spätfolge seiner Aufforderung von 1957: „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: sie sind genauer.“ Ob das bei den heutigen Pünktlichkeitsverhältnissen noch stimmt, sei dahingestellt. Aber die Inanspruchnahme der „Sentimentalen Reise“ für Enzensbergers Programm war schon damals fragwürdig, eine literarische Projektion derjenigen ähnlich, mit der Schklowskij selbst sich einst gespiegelt (und andere geblendet) hatte.
Die Lage der „Sentimentalen Reise“ im Stellungskrieg zwischen Literatur und Leben lässt sich genauer bestimmen, wenn man sie mit der „Reiterarmee“ von Isaak Babel und Leo Trotzkis „Geschichte der Russischen Revolution“ vergleicht. Die ersten Erzählungen aus Babels „Reiterarmee“ erschienen 1923, Trotzkis Revolutionsgeschichte entstand im Exil Ende der Zwanzigerjahre. Schklowskij fuhr in Panzerwagen durch Krieg und Bürgerkrieg, Babel erlebte sie auf Pferderücken, Trotzki reiste als Organisator der Roten Armee in Eisenbahnwaggons durch die Kampfgebiete. Übrigens hatten alle drei, das sei nebenbei erwähnt, jüdische Wurzeln.
Babel verwandelte das Grauen, das er hatte durchleben müssen, in literarische Expressionen, farblich abgestimmt und symbolisch strukturiert. Das ist keine Kritik, nur eine Feststellung. Trotzki verwandelte die Ereignisse, die er zu beeinflussen versucht hatte, in gesetzmäßig sich vollziehende Geschichte, von hoch oben geschildert und politisch motiviert. Das ist ebenfalls keine Kritik, nur eine Feststellung. Schklowskij wiederum berichtet aus dem Geschehen heraus, und dieses Geschehen zerfällt ihm unter der Literatenhand in lauter einzelne Sätze. Deren erzählerische Wahrheitsleistung besteht darin, dass kein historischer Sinn konstruiert wird wie bei Trotzki und kein ästhetisches Gebilde entsteht wie bei Babel. Die Welt zerbricht, das Leben zerbricht, die Sprache zerbricht. Und doch darf man nicht vergessen, wie der „Tristram Shandy“ funktioniert und wie der „Don Quijote“ gemacht ist. Auch über diesen Roman aller Romane schrieb Schklowskij einen Aufsatz.
Während er in Berlin herumirrte und sich um die Publikation der „Sentimentalen Reise“ kümmerte, arbeitete Schklowskij an einem weiteren Buch. Dieses Buch war wirklich sentimental. Und sehr schön, und sehr kunstvoll. Es heißt „Zoo oder Briefe nicht über die Liebe“. Der Autor führt darin vor, wie aus Leben Literatur wird, wie schön das Leben in der Literatur ist und wie groß dennoch die Sehnsucht, aus der Literatur ins Leben zurückzukehren – was hier bedeutete, heimzukehren nach Russland. Das gelang ihm im September 1923. Doch war ein Preis zu zahlen. „Ich werde lügen müssen“, schrieb er an Maxim Gorkij, der die Rückkehr vermittelt hatte.
Die ersten Lügen, oder jedenfalls die Hinnahme zensierender Eingriffe, wurden nötig, als 1924 eine Ausgabe der „Sentimentalen Reise“ im gerade frisch zu Leningrad umgetauften Petersburg erschien. Die neue und von Olga Radetzkaja auch neu übersetzte Ausgabe bietet uns den vollständigen Text – oder mutet ihn uns zu. Das ist keine Kritik und nicht bloß eine Feststellung, sondern ein Lob.
In einer Passage dieses zumutungsvollen Textes wird berichtet, wie ein Bataillon, dem es an Waffen und Munition fehlte, den Sturm auf feindliche Gräben verweigerte. „Ich besorgte Gewehre und Patronen und schickte sie in den Kampf. Fast das ganze Bataillon kam in einer einzigen Attacke um. Ich kann diese Männer verstehen. Sie begingen Selbstmord.“ Dann wird erzählt, wie er hungernde Soldaten daran hindern will, unreifes Getreide zu mähen. Schließlich heißt es: „Die vorderste Linie zog sich dicht vor den letzten Häusern entlang, die Gegend war unruhig. Im Lauf des Tages brachten die Soldaten zwei Juden um, die angeblich dem Feind Signale gaben. Ich bin sicher, dass das nicht stimmte. Trotzdem klebt das Blut dieser Männer irgendwie auch an meinen Händen.“ Wenn im Leben gemordet und gestorben wird hört die Literatur auf. Die „Sentimentale Reise“ ist, den gewohnheitsmäßigen Kunstgriffen ihres Verfassers zum Trotz, kein Kunstwerk.
Viktor Schklowskij: Sentimentale Reise. Aus dem Russischen übersetzt und mit einer Nachbemerkung versehen von Olga Radetzkaja. Bereichert mit Anmerkungen und einem Nachwort von Anselm Bühling. Die Andere Bibliothek, Berlin 2017, 492 Seiten, 42 Euro.
„Ich beschreibe nur
Elend und noch mehr Elend.
Ich bin es leid.“
„Ich kann diese Männer
verstehen. Sie
begingen Selbstmord.“
Eine heroische Geschichte des Bürgerkrieges präsentierte der Film „Tschapajew“ im Jahr 1934. Schklowskij war in die Sowjetunion zurückgekehrt.
Foto: bp k
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"5 Jahre Umwälzung, Krieg und Bürgerkrieg, Revolution und Angst umspannt dieser Bericht. Großartig und erschreckend unsentimental geschrieben." Bayern 2 20170805