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Autobiographische Versuche, 'Kriegstagebuch' und bislang unveröffentlichte Selbstzeugnisse sowie das 'Neapolitanische Tagebuch' aus Bachmanns aufregender frühen Zeit als freie Schriftstellerin: Aus diesen Texten, erstmals versammelt im neuen Band der Salzburger Bachmann Edition, lassen sich bisher unbekannte biographische Einblicke gewinnen; stereotype und medial vermittelte Bilder der Autorin werden in Frage gestellt und korrigiert.
Sichtbar werden die Schattenseiten eines Vagabundierens zwischen vielen Orten und Sprachen - von der italienischen Wohngemeinschaft mit Hans Werner Henze auf
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Produktbeschreibung
Autobiographische Versuche, 'Kriegstagebuch' und bislang unveröffentlichte Selbstzeugnisse sowie das 'Neapolitanische Tagebuch' aus Bachmanns aufregender frühen Zeit als freie Schriftstellerin: Aus diesen Texten, erstmals versammelt im neuen Band der Salzburger Bachmann Edition, lassen sich bisher unbekannte biographische Einblicke gewinnen; stereotype und medial vermittelte Bilder der Autorin werden in Frage gestellt und korrigiert.

Sichtbar werden die Schattenseiten eines Vagabundierens zwischen vielen Orten und Sprachen - von der italienischen Wohngemeinschaft mit Hans Werner Henze auf Ischia und in Neapel über Aufenthalte in Wien, Klagenfurt, Paris und Rom bis zu Lesereisen durch Deutschland. Deutlich erkennbar wird die Spannung zwischen der Utopie eines freien Künstlerlebens und der Sorge um das ökonomische Überleben.

Die vielen bruchstückhaften Notate und Textsorten spiegeln ein buchstäblich 'verzetteltes' Leben wider, das Wagnis, sich einem ungesichertenDasein auszusetzen. Aus ihnen spricht die intime Stimme eines Ich, die ebenso spontan und unmittelbar wie auch zögernd, manchmal hart und apodiktisch wirkt und die im Lauf der Jahre zunehmend brüchiger und fragiler wird. In ihrer Poetik der 'Übergängigkeit' von Kunst und Leben eröffnet sich Bachmann einen Experimentier- und Erfahrungsraum für eine Existenz »senza casa«.
Autorenporträt
Ingeborg Bachmann, geboren am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, wurde durch einen Auftritt vor der Gruppe 47 als Lyrikerin bekannt. Nach den Gedichtbänden Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des Großen Bären (1956) publizierte sie Hörspiele, Essays und zwei Erzählungsbände. Malina (1971) ist ihr einziger vollendeter Roman. Bachmann starb am 17. Oktober 1973 in Rom. Isolde Schiffermüller ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universit¿t Verona. Gabriella Pelloni ist Assoziierte Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universit¿t Verona. Silvia Bengesser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ingeborg Bachmann Forschungsstelle (Literaturarchiv Salzburg) und bei der Salzburger Bachmann Edition. Michael Hansel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek und betreut u. a. den Nachlass Ingeborg Bachmanns.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Neue Erkenntnisse über die Freundschaft und verhinderte Partnerschaft von Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze enthält diese Veröffentlichung laut Rezensentin Christiane Albiez. Bachmanns bisher unbekannte Tagebuchaufzeichnungen legen dar, meint Albiez, dass die Beziehung, die Henze und Bachmann in den 1950ern eingingen, von Ungleichheit bestimmt war. Verantwortlich war dafür zum einen, erläutert Albiez entlang der Lektüre, dass Henze als Komponist schon sehr erfolgreich war, Bachmann jedoch noch am Anfang ihrer Karriere Schriftstellerkarriere stand. Zudem stand der Hoffnung auf erfüllte Zweisamkeit Henzes Homosexualität im Weg, beziehungsweise Bachmanns Frustration darüber, dass er sie nicht sexuell begehrte. Die Tagebuchaufzeichnungen legen den tiefen Schmerz offen, den Bachmann damals empfand und von dem sie sich nie wieder ganz erholte, beschreibt Albiez. Außerdem findet sich in dem Buch laut Rezensentin eine Neuedition des Kriegstagebuchs Bachmanns aus 1944/45. Insgesamt eine relevante Veröffentlichung, die neue Einblicke verschafft in das bewegte Leben Bachmanns und auch Henzes, so das Fazit.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2024

Schreiben, um Dunkelheit zurückzudrängen

Das Leben ist ein Monolog geworden. Weniger Kulissen. Man spielt im Dunkeln. Alle sind längst heimgegangen. Aber man kann ja nicht heimgehen. Senza casa. Sono senza casa." Das notierte Ingeborg Bachmann am 15. Februar 1956, neunundzwanzig Jahre alt; für ihren ersten Gedichtband "Die gestundete Zeit" hatte sie bereits den Literaturpreis der Gruppe 47 erhalten. Zwischen Februar und Ende September 1956 lebte Ingeborg Bachmann mit Hans Werner Henze, den sie bei der Gruppe 47 kennengelernt hatte, in einer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft in Neapel. Das Notat ist Teil von autobiographischen Aufzeichnungen, die unter dem Titel "Neapolitanisches Tagebuch" nun erstmals aus dem bislang gesperrten Nachlass veröffentlicht werden.

Der Titel stammt von den Herausgeberinnen des neuen Bands der Salzburger Bachmann Edition, die am Literaturarchiv Salzburg mit Unterstützung des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek erarbeitet wird. Bislang sind neun Bände der Salzburger Bachmann Edition erschienen, zuletzt der erschütternde Briefwechsel Ingeborg Bachmanns mit Max Frisch. Das "Neapolitanische Tagebuch" bildet einen Schwerpunkt des nun veröffentlichten Bands. Er ist "Senza Casa" überschrieben und enthält bislang unpublizierte autobiographische Skizzen und Notate sowie Tagebuchaufzeichnungen.

Neu kommentiert wird darin auch das sogenannte "Kriegstagebuch", das von Hans Höller bereits 2011 publiziert wurde. Es beginnt mit einem jungmädchenhaften Seufzer: "Mein geliebtes Tagebuch, jetzt bin ich gerettet. Ich muss nicht nach Polen und nicht zur Panzerfaustausbildung." Es enthält Aufzeichnungen Bachmanns aus den Jahren 1944 und 1945, die ihre Wahrnehmung von Krieg und unmittelbarer Nachkriegszeit festhalten. Insbesondere die als beglückend erfahrene Liebesbeziehung mit dem britischen Besatzungssoldaten Jack Hamesh steht im eklatanten Kontrast zu den späteren, stets selbstzerstörerisch verlaufenden Lieben zu Henze, Paul Celan und Max Frisch.

Die Ausgabe ist keine historisch-kritische Edition, stellt vielmehr, wie der Editionsbericht erläutert, einen Kompromiss zwischen Lesbarkeit und Texttreue dar. Die zumeist fragmentarischen Aufzeichnungen Bachmanns enthalten Tippfehler und Korrekturen und sind deshalb nicht leicht zugänglich. Zugleich zeigen sie jedoch auch Stileigenheiten, die sich dem Status des weitgehend Unbearbeiteten verdanken, kurze protokollartige Sätze ohne Prädikat wie zum Beispiel "Die Schrecken im Inneren, die der Zukunft, Zerrbilder". Dem Band beigegebene Faksimiles maschinenschriftlicher und handschriftlicher Aufzeichnungen geben Einblick in Bachmanns Arbeitsweise, etwa in die Art und Weise ihrer Sofortkorrekturen. Ein behutsam interpretierender literaturwissenschaftlicher Kommentar stellt den lebensgeschichtlichen Zusammenhang zwischen den großenteils unzusammenhängenden, auf Zetteln niedergeschriebenen Texten her und beleuchtet deren autobiographischen Stellenwert.

Tatsächlich ist das Bild "der Bachmann", deren Biographie insgesamt gut erforscht ist, wesentlich durch fremde Stimmen geprägt und das Produkt einer Mythisierung ihrer Person, während autobiographische Zeugnisse der Autorin eher spärlich sind. Entwirft sich Bachmann in ihren Briefen im Licht der Beziehung zum jeweiligen Adressaten, scheint aus den eher kurzen und nicht werkförmigen Aufzeichnungen eine eigene, wenngleich oftmals brüchige Stimme vernehmbar zu werden.

Eindrücklich führen die Aufzeichnungen von "Senza casa" vor Augen, was die Herausgeberinnen des Bandes die "Übergängigkeit von Leben und Literatur" nennen. Diese Übergängigkeit verortet sich im Akt der Niederschrift selbst, insofern als das Schreiben nicht nur vorgängig Gelebtes festhält, sondern selbst maßgeblicher Bestandteil eben des gelebten Lebens ist und dem Gelebten allererst Gestalt gibt. Schon das schlichte Notat ist bereits Form und reflektiert das Festgehaltene im doppelten Wortsinn. "Alles Verständnis kommt ja durch die Form", schreibt Bachmann im "Neapolitanischen Tagebuch" und: "Zwar tröstet die Kunst nicht, aber sie gewährt Schutz. Während wir sehen, hören, aufnehmen, während sie uns die Hand auflegt, berührt andres uns nicht. Wir treten auch in ihre besondere Ordnung ein, die von ihren Formen kommt. In eine Ordnung, eine Form, auf die das Leben wohl hinweist, aber selbst nicht aufweist."

Indes ist autobiographische Formgebung immer auch mit Selbststilisierung verbunden. Bemerkenswert im Fall Bachmanns ist auch, dass ihre Aufzeichnungen immer wieder in ein etwas holzschnittartiges Italienisch übergehen, so als wollte sie das Geschilderte wenn nicht verbergen, so doch von sich wegrücken.

Zum Verständnis der einzelnen Notate trägt ein Namen, Orte, Werkbezüge erklärender Stellenkommentar bei. So zersplittert, ja im wörtlichen Sinn "verzettelt" das Textkorpus wirkt, so lässt sich doch nachvollziehen, wie sich das junge autobiographische Ich des Kriegstagebuchs auf der Suche nach einer eigenen Stimme seiner selbst bewusst wird, während die späteren Notate von Zweifel, Verletzung, Selbstverlust und Dissoziation geprägt sind. "Ich werde studieren, arbeiten, schreiben! Ich lebe ja, ich lebe", heißt es voller Hoffnung und Zuversicht im "Kriegstagebuch".

Im "Neapolitanischen Tagebuch", das nicht zuletzt von der Enttäuschung über die von Henze nicht erwiderte Liebe geprägt ist, liest man dann etwa von "Stiegen in halbdunklen Häusern, die ins Gleiten kommen", von nächtlichen Gespenstern und Selbstmordgedanken. Die unverbundenen, für sich selbst stehenden Einträge lassen keine biographische Erzählung entstehen, vielmehr verweist auch der in der Ausgabe freigelassene leere Raum zwischen den Einträgen auf Abbruch und die Dramatik des Momentanen. Gleichwohl bieten die Aufzeichnungen auch poetisch verdichtete Szenen und Bilder aus Neapel, Ischia, Paris sowie von Lesereisen nach Deutschland.

Es ist der Entzifferungsarbeit und den Entscheidungen der Herausgeberinnen bei der Auswahl und der Zusammenstellung der Texte zu verdanken, dass aus einem nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Konvolut ein weiterer Baustein zur Kenntnis von Leben und Schreiben Ingeborg Bachmanns geworden ist. Die in "Senza casa" veröffentlichten autobiographischen Texte bilden gleichsam das Gegenstück zu den im ersten Band der Salzburger Bachmann Edition 2017 unter dem Titel "Male oscuro" erschienenen Aufzeichnungen Bachmanns aus der Zeit ihrer Krankheit. Eindrücklich geben sie Zeugnis von der existenziellen Problematik eines freien Schriftstellerinnendaseins. Einerseits wird ein ungebundenes Leben als Voraussetzung für künstlerisches Schaffen angestrebt, andererseits erweisen sich die damit verbundenen Existenzängste und das Gefühl des Unbehaustseins als kaum erträglich. Das gilt sowohl für ersehnte und doch als unmöglich erkannte persönliche Bindungen als auch für räumliche Zugehörigkeiten.

Wie sehr die Schriftstellerin auf der Suche nach einem Ort des Bleibens war, einem Haus, einer Wohnung und diesen Ort auch in Italien nur als flüchtig erlebte, zeigt, wie grundsätzlich prekär und unlebbar das von Ingeborg Bachmann ersehnte Ideal des Lebens und Schreibens war. Schon in einer frühen mit "Ingeborg Bachmann" überschriebenen Aufzeichnung heißt es, dass Schreiben "neben andrem ein stetes Zurückdrängen von Dunkelheit" sei. In den ebenso berührenden wie erschreckenden Aufzeichnungen des Bands "Senza casa" spricht ein verletzliches und am Ende verletztes Ich gegen eine Dunkelheit an, die sich immer weniger zurückdrängen ließ und die auch in den späteren Texten des "Todesarten-Projekts" raumgreifend wird. MARTINA WAGNER-EGELHAAF

Ingeborg Bachmann:

"Senza Casa". Autobiographische Skizzen, Notate und Tagebucheintragungen.

Hrsg. von Isolde Schiffermüller, Gabriella Pelloni, Silvia Bengesser. Suhrkamp und Piper, Berlin, München 2024. 336 S., Abb., geb., 42,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
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»In den ebenso berührenden wie erschreckenden Aufzeichnungen des Bands senza casa spricht ein verletzliches und am Ende verletztes Ich gegen eine Dunkelheit an, die sich immer weniger zurückdrängen ließ und die auch in den späteren texten des 'Todesarten-Projekts' raumgreifend wird.« Martina Wagner-Engelhaaf Frankfurter Allgemeine Zeitung 20240713

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.07.2024

Liebhaberin ohne festen Wohnsitz
Zum Teil unveröffentlichte autobiografische Texte zeigen Ingeborg Bachmann
in einer der Krisen, in denen die Liebe sie fast das Leben gekostet hätte.
VON SIGRID LÖFFLER
Eines haben Ingeborg Bachmann und Franz Kafka gemein, vom Kult-Status einmal abgesehen: Ihre nachgelassenen Schriften – Romanfragmente, Tagebücher, Briefe – sind bei Weitem umfangreicher als ihre zu Lebzeiten veröffentlichten Werke. Und sie richten die Aufmerksamkeit des Publikums auf die private Person hinter dem Werk und verändern deren öffentliches Bild, indem sie verborgene Gegenbilder offenbaren. Die Mythen und Legenden, von denen beide, Bachmann wie Kafka, umsponnen sind, werden durchscheinend, der Mensch tritt hervor, gefangen in seinen Nöten, Leiden und Krisen.
Erst nachdem die Erben Ingeborg Bachmanns, ihr Bruder Heinz und ihre Schwester Isolde, gestatteten, den Nachlass, der eigentlich bis 2025 gesperrt war, vorzeitig zu öffnen und auch ihre Privatarchive zur Verfügung stellten, wurde dessen gewaltiger Umfang offenbar – geschätzte 27 000 Blatt, ein wildes Durcheinander von zumeist losen Zetteln, hand- oder maschinengeschrieben, die Manuskripte zuweilen in Bachmanns fast unleserlicher Handschrift, die Typoskripte oft unlesbar, weil in rasendem Furor hingeschrieben und voller Flüchtigkeits- und Tippfehler.
Aus diesen Konvoluten von Tagebuch-Aufzeichnungen, autobiografischen Skizzen, Romanfragmenten, Briefentwürfen und essayistischen Notaten wird seit sieben Jahren von einem Germanistenteam die „Salzburger Gesamtausgabe von Bachmanns Werken und Briefen“ gefiltert. Diese Edition ist eine Koproduktion von Bachmanns beiden Verlagen Piper und Suhrkamp und umfasst auch die bereits zu Bachmanns Lebzeiten erschienenen Werke.
Diese Mammut-Edition, ausgelegt auf bis zu vierzig Bände, ist jetzt bei Band zehn angekommen: „Senza casa. Autobiographische Skizzen, Notate und Tagebucheintragungen“. Wer den ersten Band der Ausgabe, „Male oscuro. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe“ von 2017, kennt, wird thematische Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und untergründige Verbindungslinien entdecken. Aus beiden Bänden spricht eine existenzielle Krisenstimmung, beide thematisieren Bachmanns Gefühlschaos, jeweils ausgelöst durch die Liebes- und Leidensbeziehung zu einem problematischen Partner, hier zu Hans Werner Henze, dort zu Max Frisch.
Im Mittelpunkt dieses ersten Bandes stand Bachmanns dunkelste Leidenszeit um die Jahreswende 1962/63, ihr körperlicher und seelischer Zusammenbruch nach der Trennung von Max Frisch, manifestiert in einem Selbstmordversuch, einem chirurgischen Eingriff und wiederholten Klinikaufenthalten und Therapieversuchen. Die Aufzeichnungen sind das Lamento einer tief unglücklichen, von jahrelangem Alkohol- und Psychopharmaka-Missbrauch zerrütteten Frau über einen erlittenen Liebesverrat und die selbstzerstörerischen Folgen dieses „dunklen Übels“. Wilde Anklagen gegen die Ärzte und deren Fehldiagnosen wechseln mit wüsten Traumprotokollen voller Mord- und Tötungsphantasien rund um Max Frisch, der in den Angstvisionen der Schreiberin mit einer gewalttätigen Vaterfigur verschwimmt.
Nun, im Band „Senza casa“, geht es vor allem um eine andere private Gefühlskrise Bachmanns – die prekäre Künstlerfreundschaft mit dem Komponisten Hans Werner Henze, die zehn Jahre zuvor, 1952 auf der Herbsttagung der Gruppe 47, ihren Anfang nahm und bis zu Bachmanns Tod 1973 andauerte. Kernstück des Bandes sind zwei Journale – ein von den Herausgeberinnen sogenanntes „Kriegstagebuch“, geschrieben von der Neunzehnjährigen zu Kriegsende 1945 in Klagenfurt, sowie die autobiographischen Notate und Tagebuchblätter, die durch die Transkriptionskunst der Herausgeberinnen aus ihrer Unlesbarkeit erlöst und mit dem Titel „Neapolitanisches Tagebuch“ versehen wurden.
Beide Journale könnten gegensätzlicher nicht sein. Das „Kriegstagebuch“ setzt ein im hellen C-Dur eines überschwänglichen Jungmädchen-Journals: „Mein geliebtes Tagebuch, jetzt bin ich gerettet. Ich muss nicht nach Polen und nicht zur Panzerfaustausbildung.“ Bald ist der Krieg vorbei, die Nazis sind fort, die gefürchteten Russen sind nicht bis nach Kärnten gekommen, die Engländer sind da. Die junge Lehrerstochter Bachmann erlebt die Welt frisch und neu, mit naiver Lebensfreude. Sie verliebt sich in einen jüdischen englischen Besatzungssoldaten, den aus Wien stammenden Jack Hamesh. Die beiden reden über Bücher, schwärmen von ihren jeweiligen Lieblingsautoren. Doch: „Am meisten reden wir über Weltanschauung und Geschichte. Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde.“ Die Zukunft leuchtet verheißungsvoll, bald wird Bachmann die dumpfe, verhockte Provinz verlassen („Für mich gibts hier nichts zu lernen“) und zum Studium nach Wien gehen: „Ich werde studieren, arbeiten, schreiben!“
Nur wenige Jahre später hat sich der Ton dramatisch verdüstert. Aus den autobiographischen Notaten spricht jetzt ein Ich mit angeknackstem Weltvertrauen, voller Angst und Verzweiflung über eine „stückhafte und unerfüllte Existenz“. Die Grundstimmung: „Bohrende Nervosität und Müdigkeit von Jahren dahinter.“ Hinter der Schreiberin liegt „die ganze vergangene Strindbergzeit, die Hölle oder das Fegefeuer“ – die zerbrochene Beziehung zum Dichterkollegen Paul Celan. Als sie erfährt, dass Celan inzwischen geheiratet hat, hinterlässt das bei ihr ein Gefühl von „Kränkung und Zerstörung“.
Das freie Künstlerleben in Italien, das sich Bachmann erträumte, als sie ihre Redakteursstelle beim Wiener Rundfunksender Rot-Weiß-Rot kündigte, hat eine Kehrseite: Existenzangst ohne festes Einkommen und festen Wohnsitz. „Alle sind längst heimgegangen. Aber man kann ja nicht heimgehen. Senza casa. Sono senza casa.“ Sie hat keinen verlässlichen Ort und keine feste Bleibe, leidet aber trotz rastloses Herumreisen unter „pathologischer Angst vor Ortsveränderung“.
Seit ihrem Erfolg 1952 bei der Tagung der Gruppe 47 ist Bachmann auf bestem Wege, zur berühmtesten deutschsprachigen Lyrikerin ihrer Epoche zu werden; sie steht am Anfang einer verheißungsvollen Künstlerfreundschaft und Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze – sie schreibt die Libretti für seine Opern und Ballettmusiken, er vertont ihre Gedichte; und Henze hat sie für den Sommer 1953 in die internationale Künstlerkolonie auf der Insel Ischia eingeladen. Doch Bachmann erlebt ihre Lage subjektiv ganz anders. Sie fühlt sich auf Ischia nur „hochgradig verstört“, leidet unter Angstträumen und einem „furchtbaren, erstickenden Gefühl, ganz überflüssig zu sein, nichts zu können, das Einfache nicht zu können“. Die Utopie einer produktiven Künstlergemeinschaft erweist sich als brüchig und ist für Bachmann nur im Konjunktiv zu haben: „Könnt ich von weit her denken, wärs die schönste Zeit.“ Die schwierigste Phase ihrer Beziehung zu Henze ist zugleich die intimste und die kühnste – der Versuch im ersten Halbjahr 1956, auf Vorschlag Henzes in seiner Wohnung in Neapel zusammenzuleben, zu arbeiten und zu heiraten. Doch dieser Traum einer idealen Künstler-Ehe auf Basis reiner Seelenfreundschaft ist unlebbar, stürzt Bachmann fast in die Arbeitsunfähigkeit, macht sie tief unglücklich und zur Trinkerin.
Da sie sich ernstlich in ihren schwulen Freund verliebt, wird die Situation für sie unhaltbar – tragisch, peinlich und demütigend: „Mir ist zum Sterben elend. Jeder Bauernjunge hat mehr Reiz für ihn als ich.“ Die Faksimiles der im Anhang erstmals publizierten Briefentwürfe an Henze offenbaren Bachmanns Verzweiflung: „Unbeantwortet bleibt: Warum willst Du mich hierhaben, warum willst Du mit mir leben?“ Qualvoll ihre Zerrissenheit, nicht bleiben und nicht gehen zu können: „So vergeblich zu lieben ist wie zum Tod verurteilt zu sein, jeden Tag aufs Neue, und nicht zu sterben.“
Ein Muster, das sich in allen Liebesbeziehungen in Ingeborg Bachmanns Leben wiederholt. Die Wahrheit ist, dass ihr auf Erden nicht zu helfen war.
„So vergeblich zu lieben,
ist wie zum Tod
verurteilt zu sein.“
Ingeborg Bachmann: Senza casa. Autobiographische Skizzen, Notate und Tagebucheintragungen. Salzburger Bachmann Edition bei Piper und Suhrkamp,
München und Berlin 2024.
335 Seiten, 42 Euro.
„Alle sind längst heimgegangen. Aber man kann ja nicht heimgehen“: Ingeborg Bachmann im Jahr 1965.
Foto: AP
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