Originell und unverbraucht - auch in »Septembergewitter« erweist sich Friedo Lampe als Meister des Magischen Realismus. An einem Septemberspätnachmittag vor dem ersten Weltkrieg blicken die Reisenden in einem Fesselballon durch ein Fernrohr auf eine alte Stadt am Fluß hinab. Von oben, wo die Luft klar ist, sieht alles ganz friedlich aus. Aber über der Stadt braut sich ein Gewitter zusammen. Dort lebt eine Frau, die ihren verstorbenen Mann nicht vergessen kann, ein Mädchen wird vorgestellt, das von ihrem ersten Geliebten verlassen wurde, ein schüchterner Junge besteht eine Mutprobe. Die düstere Melancholie und lastende Schwüle entladen sich schließlich im Gewitter, dem eigentlichen »Helden« des Romans. Wenigstens für kurze Zeit ist die Atmosphäre gereinigt, und der Ballon fährt weiter durch die klare Höhenluft in Richtung Norden.Der Roman hat ein »Lach-Wein-Gesicht« wie der Drachen, mit dem die Kinder spielen, und die Worte der Schwester des Dichters Christian Runge über eine seiner neuen Erzählungen charakterisieren Lampes Gesamtwerk: »Man muss'n bisschen lachen dabei, aber es ist doch auch traurig. Natürlich geht das Ganze schief aus.« Friedo Lampes lyrische Prosa, seine filmartige Erzähltechnik, mit der er seine Szenen miteinander verwebt, erweist sich auch im »Septembergewitter« als gelungenes Beispiel eines magischen Realismus, dem Sachlichkeit und Wunder nicht als Gegensätze gelten.Zur Edition:Mit dieser Ausgabe wird auch der zweite Kurzroman von Friedo Lampe wieder als Einzelband zugänglich. Jürgen Dierking legt seiner Edition - wie bereits bei »Am Rande der Nacht« geschehen - den Erstdruck (1937) zugrunde und macht damit die Änderungen rückgängig, die der Autor während des Krieges vorgenommen hatte.Bereits erschienen:Friedo Lampe: Am Rande der Nacht. Roman. ISBN 3-89244-391-2.Friedo Lampe 1899-1945. »Am Rande der Nacht«. Texte und Materialien. Audio-CD, ISBN 3-89244-392-0Ein Autor wird wiederentdeckt. Friedo Lampe 1899-1945, ISBN 3-89244-407-2
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tilman Spreckelsen zeigt sich angetan: Lampe bereite eine Fülle von einander überkreuzenden Handlungsfäden aus, die er alle mit Ernst und Melancholie behandle. Es handle sich um Vignetten aus der späten Kaiserzeit, spielend in einer namenlosen norddeutschen Stadt. Die "Spätsommerstimmung" in diesem kaum 300 Seiten dicken Band hat den Rezensenten verzaubert. Die Beiläufigkeit in diesem Roman von 1937, der nun zu Lampes hundertstem Geburtstag neu aufgelegt wurde, ist für ihn große Kunst.. Der Rezensent gibt auch zu verstehen, dass hier ein Autor, trotz prominenter Fürsprecher, immer noch zu entdecken ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2001Ewiger September
Friedo Lampe fliegt mit dem Fesselballon · Von Tilman Spreckelsen
Eigentlich geht es um eine Wette: Mit seinem Fesselballon will Mr. Pencock von Osnabrück bis Südengland fliegen, begleitet von seiner Tochter Mary und einem Ballonführer. Doch davon ist nach wenigen Absätzen nicht mehr die Rede. Denn Mary entdeckt tief unter sich eine kleine Stadt im Nachmittagslicht: "Wie friedlich liegt das da, wie muß man da idyllisch wohnen", denkt sie, und der Rest des knappen Romans ist dem Versuch gewidmet, diesen Eindruck aus der Vogelperspektive gründlich zu widerlegen.
Friedo Lampes 1937 erschienener Roman "Septembergewitter" spielt vor dem Ersten Weltkrieg in einer namenlosen norddeutschen Stadt, hinter der man Bremen vermuten darf. Wie in seinem Erstling, dem Roman "Am Rande der Nacht" von 1933, breitet Lampe eine Fülle von einander überkreuzenden Handlungsfäden aus, die er alle mit dem gleichen melancholischem Ernst behandelt - eine verklingende erste Liebe wie die Entlarvung eines Mörders, den Bau eines Papierdrachens wie die Neuschaffung einer Episode aus der Odyssee, die Mutprobe eines Jugendlichen wie den Lebensüberdruß eines Offiziers. Es sind unspektakuläre Episoden aus dem Alltag der späten Kaiserzeit, die einer Reihe von Menschen zustoßen, deren Gemütszustand zwischen Lethargie und Aufbruchshoffnungen meist bis zum Ende des Romans anhält.
Vor allem aber sind es die Orte, die sich nachhaltig in der Erinnerung des Lesers festsetzen. Sie scheinen den Verlauf der einzelnen Stränge zumindest mitzubestimmen: Da ist der alte Friedhof, der den Kindern ein Spielplatz, einer übervorsichtigen Mutter eine lähmende Gedenkstätte, dem Großvater eines verlassenen Mädchens bloßer Arbeitsplatz ist, oder die Borkenhütte im Wald, die Treffpunkt der Liebenden, aber auch Schauplatz eines Mordes ist - Lampes Kunst, diese Stränge diskret zu bündeln, bewahrt den Roman vor einem belanglosen Nebeneinander von Orten, Figuren und Geschichten und läßt doch keine Wendung der separaten Episoden für sich funktionslos erscheinen.
Lampes poetisches Verfahren ist oft mit einer dem Film entlehnten Montagetechnik verglichen worden, wobei dieser Roman durch die Polyvalenz der Schauplätze mindestens so viele Überblendungen wie Schnitte enthält. Seine Technik aber erscheint in "Septembergewitter" gegenüber dem Vorgängerroman bedeutend verfeinert, die Tendenz zur Verknappung des Textes unübersehbar, die mit sparsamen Mitteln erzeugte Atmosphäre noch fesselnder. Die Spätsommerstimmung, die sein schmales, kaum dreihundert Seiten langes Gesamtwerk prägt, findet sich niemals so wirkungsvoll beiläufig geschildert wie in diesem Roman, der unmerklich die anfangs fast unbewegliche Luft langsam in Schwingung versetzt, der die gewaltsame Entladung am Ende eines schwülen Tages bereits im Titel trägt und dies ganz unangestrengt mit dem Abschluß der wichtigsten Episodenstränge verbindet. Nichts ist mehr wie vor dem Gewittersturm, und dennoch führt die Leserphantasie die Geschichten fort, in der gleichen Landschaft, der gleichen Konstellation, der gleichen Atmosphäre eines ewigen Septembers.
Nach der Erstausgabe mußte Lampe den Text für eine neue Auflage bearbeiten, die dem Roman einige Erzählungen zugesellte, darunter die großartige Perspektivengeschichte "Am Leuchtturm", in der die Technik der Romane noch einmal verfeinert angewandt wird. Inzwischen aber waren sieben Jahre vergangen, und die Erwähnung eines Engländers, der über Deutschland schwebt, hatte 1944 den Beiklang von Luftkrieg und Bombardement. So wurde aus Mr. Pencock ein dänischer Herr Gyldenlöv, aus Mary Tine und aus dem angepeilten Leuchtturm von Dover das Licht von Fanö. Auch einer der Jungen des Städtchens geht seiner englischen Herkunft verlustig, während andere Änderungen stilistischer Natur sind und dem Text durchaus guttun.
Jetzt ist "Septembergewitter" in der Gestalt der Erstausgabe neuerlich erschienen, nachdem 1999, zu Lampes hundertstem Geburtstag, bereits der ungleich schärfer beschnittene Roman "Am Rande der Nacht" in der Originalfassung herausgekommen ist. Das Interesse des Lesepublikums an dem Autor scheint zuzunehmen, die Zahl seiner Fürsprecher, zu denen Wolfgang Koeppen, Hermann Hesse, Peter Härtling oder Georges-Arthur Goldschmidt zählen, mehrt sich. Die wissenschaftliche Erforschung seines Werks hat allerdings kaum begonnen. Die Neuausgabe seiner Romane stellt Material dazu bereit.
Friedo Lampe: "Septembergewitter". Roman. Hrsg. von Jürgen Dierking. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 152 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Friedo Lampe fliegt mit dem Fesselballon · Von Tilman Spreckelsen
Eigentlich geht es um eine Wette: Mit seinem Fesselballon will Mr. Pencock von Osnabrück bis Südengland fliegen, begleitet von seiner Tochter Mary und einem Ballonführer. Doch davon ist nach wenigen Absätzen nicht mehr die Rede. Denn Mary entdeckt tief unter sich eine kleine Stadt im Nachmittagslicht: "Wie friedlich liegt das da, wie muß man da idyllisch wohnen", denkt sie, und der Rest des knappen Romans ist dem Versuch gewidmet, diesen Eindruck aus der Vogelperspektive gründlich zu widerlegen.
Friedo Lampes 1937 erschienener Roman "Septembergewitter" spielt vor dem Ersten Weltkrieg in einer namenlosen norddeutschen Stadt, hinter der man Bremen vermuten darf. Wie in seinem Erstling, dem Roman "Am Rande der Nacht" von 1933, breitet Lampe eine Fülle von einander überkreuzenden Handlungsfäden aus, die er alle mit dem gleichen melancholischem Ernst behandelt - eine verklingende erste Liebe wie die Entlarvung eines Mörders, den Bau eines Papierdrachens wie die Neuschaffung einer Episode aus der Odyssee, die Mutprobe eines Jugendlichen wie den Lebensüberdruß eines Offiziers. Es sind unspektakuläre Episoden aus dem Alltag der späten Kaiserzeit, die einer Reihe von Menschen zustoßen, deren Gemütszustand zwischen Lethargie und Aufbruchshoffnungen meist bis zum Ende des Romans anhält.
Vor allem aber sind es die Orte, die sich nachhaltig in der Erinnerung des Lesers festsetzen. Sie scheinen den Verlauf der einzelnen Stränge zumindest mitzubestimmen: Da ist der alte Friedhof, der den Kindern ein Spielplatz, einer übervorsichtigen Mutter eine lähmende Gedenkstätte, dem Großvater eines verlassenen Mädchens bloßer Arbeitsplatz ist, oder die Borkenhütte im Wald, die Treffpunkt der Liebenden, aber auch Schauplatz eines Mordes ist - Lampes Kunst, diese Stränge diskret zu bündeln, bewahrt den Roman vor einem belanglosen Nebeneinander von Orten, Figuren und Geschichten und läßt doch keine Wendung der separaten Episoden für sich funktionslos erscheinen.
Lampes poetisches Verfahren ist oft mit einer dem Film entlehnten Montagetechnik verglichen worden, wobei dieser Roman durch die Polyvalenz der Schauplätze mindestens so viele Überblendungen wie Schnitte enthält. Seine Technik aber erscheint in "Septembergewitter" gegenüber dem Vorgängerroman bedeutend verfeinert, die Tendenz zur Verknappung des Textes unübersehbar, die mit sparsamen Mitteln erzeugte Atmosphäre noch fesselnder. Die Spätsommerstimmung, die sein schmales, kaum dreihundert Seiten langes Gesamtwerk prägt, findet sich niemals so wirkungsvoll beiläufig geschildert wie in diesem Roman, der unmerklich die anfangs fast unbewegliche Luft langsam in Schwingung versetzt, der die gewaltsame Entladung am Ende eines schwülen Tages bereits im Titel trägt und dies ganz unangestrengt mit dem Abschluß der wichtigsten Episodenstränge verbindet. Nichts ist mehr wie vor dem Gewittersturm, und dennoch führt die Leserphantasie die Geschichten fort, in der gleichen Landschaft, der gleichen Konstellation, der gleichen Atmosphäre eines ewigen Septembers.
Nach der Erstausgabe mußte Lampe den Text für eine neue Auflage bearbeiten, die dem Roman einige Erzählungen zugesellte, darunter die großartige Perspektivengeschichte "Am Leuchtturm", in der die Technik der Romane noch einmal verfeinert angewandt wird. Inzwischen aber waren sieben Jahre vergangen, und die Erwähnung eines Engländers, der über Deutschland schwebt, hatte 1944 den Beiklang von Luftkrieg und Bombardement. So wurde aus Mr. Pencock ein dänischer Herr Gyldenlöv, aus Mary Tine und aus dem angepeilten Leuchtturm von Dover das Licht von Fanö. Auch einer der Jungen des Städtchens geht seiner englischen Herkunft verlustig, während andere Änderungen stilistischer Natur sind und dem Text durchaus guttun.
Jetzt ist "Septembergewitter" in der Gestalt der Erstausgabe neuerlich erschienen, nachdem 1999, zu Lampes hundertstem Geburtstag, bereits der ungleich schärfer beschnittene Roman "Am Rande der Nacht" in der Originalfassung herausgekommen ist. Das Interesse des Lesepublikums an dem Autor scheint zuzunehmen, die Zahl seiner Fürsprecher, zu denen Wolfgang Koeppen, Hermann Hesse, Peter Härtling oder Georges-Arthur Goldschmidt zählen, mehrt sich. Die wissenschaftliche Erforschung seines Werks hat allerdings kaum begonnen. Die Neuausgabe seiner Romane stellt Material dazu bereit.
Friedo Lampe: "Septembergewitter". Roman. Hrsg. von Jürgen Dierking. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 152 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein 'hinreißendes Lektüreerlebnis'!" (Tilman Spreckelsen in der "Berliner Zeitung")