Nachmittags um vier beginnt unsere Geschichte, und sie endet abends. Wie ein Kreisel zieht die Handlung am Leser vorüber. Der Großvater, der Totengräber ist, und seine Enkelinnen. Der böse Emil, der den Kindern die Drachenschnüre durchschneidet, weil er nicht will, dass sie in den Himmel fliegen. Der kleine Martin, der in die Bubenbande des starken Jan aufgenommen werden möchte, aber eben nicht so stark ist, wie es sein verstorbener Vater war. Der junge Leutnant Charisius, der beschließt, nach Kamerun zu gehen, weil man dort so schön sterben kann. Seine Geliebte, Marie, die vor einer Woche ermordet aufgefunden wurde. Wer war der Täter? Die Buben werden ihn später aufspüren, die Überraschung ist groß ... Es kann viel passieren an einem heißen Septembertag in der kleinen Stadt. "Man muss'n bisschen lachen dabei, aber es ist doch auch traurig. Natürlich geht das Ganze schief aus." Friedo Lampes lyrische Prosa, die filmartige Erzähltechnik, mit der er seine Szenen miteinander verwebt, erweist sich in "Septembergewitter" als gelungenes Beispiel eines magischen Realismus, dem Sachlichkeit und Wunder nicht als Gegensätze gelten.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tilman Spreckelsen zeigt sich angetan: Lampe bereite eine Fülle von einander überkreuzenden Handlungsfäden aus, die er alle mit Ernst und Melancholie behandle. Es handle sich um Vignetten aus der späten Kaiserzeit, spielend in einer namenlosen norddeutschen Stadt. Die "Spätsommerstimmung" in diesem kaum 300 Seiten dicken Band hat den Rezensenten verzaubert. Die Beiläufigkeit in diesem Roman von 1937, der nun zu Lampes hundertstem Geburtstag neu aufgelegt wurde, ist für ihn große Kunst.. Der Rezensent gibt auch zu verstehen, dass hier ein Autor, trotz prominenter Fürsprecher, immer noch zu entdecken ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2001Ewiger September
Friedo Lampe fliegt mit dem Fesselballon · Von Tilman Spreckelsen
Eigentlich geht es um eine Wette: Mit seinem Fesselballon will Mr. Pencock von Osnabrück bis Südengland fliegen, begleitet von seiner Tochter Mary und einem Ballonführer. Doch davon ist nach wenigen Absätzen nicht mehr die Rede. Denn Mary entdeckt tief unter sich eine kleine Stadt im Nachmittagslicht: "Wie friedlich liegt das da, wie muß man da idyllisch wohnen", denkt sie, und der Rest des knappen Romans ist dem Versuch gewidmet, diesen Eindruck aus der Vogelperspektive gründlich zu widerlegen.
Friedo Lampes 1937 erschienener Roman "Septembergewitter" spielt vor dem Ersten Weltkrieg in einer namenlosen norddeutschen Stadt, hinter der man Bremen vermuten darf. Wie in seinem Erstling, dem Roman "Am Rande der Nacht" von 1933, breitet Lampe eine Fülle von einander überkreuzenden Handlungsfäden aus, die er alle mit dem gleichen melancholischem Ernst behandelt - eine verklingende erste Liebe wie die Entlarvung eines Mörders, den Bau eines Papierdrachens wie die Neuschaffung einer Episode aus der Odyssee, die Mutprobe eines Jugendlichen wie den Lebensüberdruß eines Offiziers. Es sind unspektakuläre Episoden aus dem Alltag der späten Kaiserzeit, die einer Reihe von Menschen zustoßen, deren Gemütszustand zwischen Lethargie und Aufbruchshoffnungen meist bis zum Ende des Romans anhält.
Vor allem aber sind es die Orte, die sich nachhaltig in der Erinnerung des Lesers festsetzen. Sie scheinen den Verlauf der einzelnen Stränge zumindest mitzubestimmen: Da ist der alte Friedhof, der den Kindern ein Spielplatz, einer übervorsichtigen Mutter eine lähmende Gedenkstätte, dem Großvater eines verlassenen Mädchens bloßer Arbeitsplatz ist, oder die Borkenhütte im Wald, die Treffpunkt der Liebenden, aber auch Schauplatz eines Mordes ist - Lampes Kunst, diese Stränge diskret zu bündeln, bewahrt den Roman vor einem belanglosen Nebeneinander von Orten, Figuren und Geschichten und läßt doch keine Wendung der separaten Episoden für sich funktionslos erscheinen.
Lampes poetisches Verfahren ist oft mit einer dem Film entlehnten Montagetechnik verglichen worden, wobei dieser Roman durch die Polyvalenz der Schauplätze mindestens so viele Überblendungen wie Schnitte enthält. Seine Technik aber erscheint in "Septembergewitter" gegenüber dem Vorgängerroman bedeutend verfeinert, die Tendenz zur Verknappung des Textes unübersehbar, die mit sparsamen Mitteln erzeugte Atmosphäre noch fesselnder. Die Spätsommerstimmung, die sein schmales, kaum dreihundert Seiten langes Gesamtwerk prägt, findet sich niemals so wirkungsvoll beiläufig geschildert wie in diesem Roman, der unmerklich die anfangs fast unbewegliche Luft langsam in Schwingung versetzt, der die gewaltsame Entladung am Ende eines schwülen Tages bereits im Titel trägt und dies ganz unangestrengt mit dem Abschluß der wichtigsten Episodenstränge verbindet. Nichts ist mehr wie vor dem Gewittersturm, und dennoch führt die Leserphantasie die Geschichten fort, in der gleichen Landschaft, der gleichen Konstellation, der gleichen Atmosphäre eines ewigen Septembers.
Nach der Erstausgabe mußte Lampe den Text für eine neue Auflage bearbeiten, die dem Roman einige Erzählungen zugesellte, darunter die großartige Perspektivengeschichte "Am Leuchtturm", in der die Technik der Romane noch einmal verfeinert angewandt wird. Inzwischen aber waren sieben Jahre vergangen, und die Erwähnung eines Engländers, der über Deutschland schwebt, hatte 1944 den Beiklang von Luftkrieg und Bombardement. So wurde aus Mr. Pencock ein dänischer Herr Gyldenlöv, aus Mary Tine und aus dem angepeilten Leuchtturm von Dover das Licht von Fanö. Auch einer der Jungen des Städtchens geht seiner englischen Herkunft verlustig, während andere Änderungen stilistischer Natur sind und dem Text durchaus guttun.
Jetzt ist "Septembergewitter" in der Gestalt der Erstausgabe neuerlich erschienen, nachdem 1999, zu Lampes hundertstem Geburtstag, bereits der ungleich schärfer beschnittene Roman "Am Rande der Nacht" in der Originalfassung herausgekommen ist. Das Interesse des Lesepublikums an dem Autor scheint zuzunehmen, die Zahl seiner Fürsprecher, zu denen Wolfgang Koeppen, Hermann Hesse, Peter Härtling oder Georges-Arthur Goldschmidt zählen, mehrt sich. Die wissenschaftliche Erforschung seines Werks hat allerdings kaum begonnen. Die Neuausgabe seiner Romane stellt Material dazu bereit.
Friedo Lampe: "Septembergewitter". Roman. Hrsg. von Jürgen Dierking. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 152 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Friedo Lampe fliegt mit dem Fesselballon · Von Tilman Spreckelsen
Eigentlich geht es um eine Wette: Mit seinem Fesselballon will Mr. Pencock von Osnabrück bis Südengland fliegen, begleitet von seiner Tochter Mary und einem Ballonführer. Doch davon ist nach wenigen Absätzen nicht mehr die Rede. Denn Mary entdeckt tief unter sich eine kleine Stadt im Nachmittagslicht: "Wie friedlich liegt das da, wie muß man da idyllisch wohnen", denkt sie, und der Rest des knappen Romans ist dem Versuch gewidmet, diesen Eindruck aus der Vogelperspektive gründlich zu widerlegen.
Friedo Lampes 1937 erschienener Roman "Septembergewitter" spielt vor dem Ersten Weltkrieg in einer namenlosen norddeutschen Stadt, hinter der man Bremen vermuten darf. Wie in seinem Erstling, dem Roman "Am Rande der Nacht" von 1933, breitet Lampe eine Fülle von einander überkreuzenden Handlungsfäden aus, die er alle mit dem gleichen melancholischem Ernst behandelt - eine verklingende erste Liebe wie die Entlarvung eines Mörders, den Bau eines Papierdrachens wie die Neuschaffung einer Episode aus der Odyssee, die Mutprobe eines Jugendlichen wie den Lebensüberdruß eines Offiziers. Es sind unspektakuläre Episoden aus dem Alltag der späten Kaiserzeit, die einer Reihe von Menschen zustoßen, deren Gemütszustand zwischen Lethargie und Aufbruchshoffnungen meist bis zum Ende des Romans anhält.
Vor allem aber sind es die Orte, die sich nachhaltig in der Erinnerung des Lesers festsetzen. Sie scheinen den Verlauf der einzelnen Stränge zumindest mitzubestimmen: Da ist der alte Friedhof, der den Kindern ein Spielplatz, einer übervorsichtigen Mutter eine lähmende Gedenkstätte, dem Großvater eines verlassenen Mädchens bloßer Arbeitsplatz ist, oder die Borkenhütte im Wald, die Treffpunkt der Liebenden, aber auch Schauplatz eines Mordes ist - Lampes Kunst, diese Stränge diskret zu bündeln, bewahrt den Roman vor einem belanglosen Nebeneinander von Orten, Figuren und Geschichten und läßt doch keine Wendung der separaten Episoden für sich funktionslos erscheinen.
Lampes poetisches Verfahren ist oft mit einer dem Film entlehnten Montagetechnik verglichen worden, wobei dieser Roman durch die Polyvalenz der Schauplätze mindestens so viele Überblendungen wie Schnitte enthält. Seine Technik aber erscheint in "Septembergewitter" gegenüber dem Vorgängerroman bedeutend verfeinert, die Tendenz zur Verknappung des Textes unübersehbar, die mit sparsamen Mitteln erzeugte Atmosphäre noch fesselnder. Die Spätsommerstimmung, die sein schmales, kaum dreihundert Seiten langes Gesamtwerk prägt, findet sich niemals so wirkungsvoll beiläufig geschildert wie in diesem Roman, der unmerklich die anfangs fast unbewegliche Luft langsam in Schwingung versetzt, der die gewaltsame Entladung am Ende eines schwülen Tages bereits im Titel trägt und dies ganz unangestrengt mit dem Abschluß der wichtigsten Episodenstränge verbindet. Nichts ist mehr wie vor dem Gewittersturm, und dennoch führt die Leserphantasie die Geschichten fort, in der gleichen Landschaft, der gleichen Konstellation, der gleichen Atmosphäre eines ewigen Septembers.
Nach der Erstausgabe mußte Lampe den Text für eine neue Auflage bearbeiten, die dem Roman einige Erzählungen zugesellte, darunter die großartige Perspektivengeschichte "Am Leuchtturm", in der die Technik der Romane noch einmal verfeinert angewandt wird. Inzwischen aber waren sieben Jahre vergangen, und die Erwähnung eines Engländers, der über Deutschland schwebt, hatte 1944 den Beiklang von Luftkrieg und Bombardement. So wurde aus Mr. Pencock ein dänischer Herr Gyldenlöv, aus Mary Tine und aus dem angepeilten Leuchtturm von Dover das Licht von Fanö. Auch einer der Jungen des Städtchens geht seiner englischen Herkunft verlustig, während andere Änderungen stilistischer Natur sind und dem Text durchaus guttun.
Jetzt ist "Septembergewitter" in der Gestalt der Erstausgabe neuerlich erschienen, nachdem 1999, zu Lampes hundertstem Geburtstag, bereits der ungleich schärfer beschnittene Roman "Am Rande der Nacht" in der Originalfassung herausgekommen ist. Das Interesse des Lesepublikums an dem Autor scheint zuzunehmen, die Zahl seiner Fürsprecher, zu denen Wolfgang Koeppen, Hermann Hesse, Peter Härtling oder Georges-Arthur Goldschmidt zählen, mehrt sich. Die wissenschaftliche Erforschung seines Werks hat allerdings kaum begonnen. Die Neuausgabe seiner Romane stellt Material dazu bereit.
Friedo Lampe: "Septembergewitter". Roman. Hrsg. von Jürgen Dierking. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 152 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.07.2001Bericht zur Wetterlage der Nation
Freiluftballon der Sprache: Friedo Lampes „Septembergewitter”
Wenn es Pechvögel der Literatur gibt, dann ist Friedo Lampe ein rabenschwarzer. Sein erster Roman „Am Rande der Nacht” erschien im Jahre 1933 und wurde sofort der unzüchtigen Darstellung homosexueller Neigungen verdächtigt und als „anstößig” verboten. Vorsichtshalber verzichtete Lampe in seinem zweiten Roman „Septembergewitter” auf alles, was anstößig sein könnte, doch das führte dazu, dass das schmale Büchlein, als es 1937 erschien, zwar nicht verboten, aber auch weder von der Kritik noch von der Leserschaft bemerkt wurde. Für einen Nachdruck während des Krieges wurden einige englische Orts- und Personennamen im Text durch dänische ersetzt, und zwar mit Billigung Lamers, was diesen doch ein wenig diskreditiert. Und die Chance, all das wieder richtig zu stellen, wurde Lampe verwehrt, weil er in den allerletzten Kriegstagen, Anfang Mai 1945 in Kleinmachnow nahe Berlin von einer Patrouille der russischen Armee erschossen wurde – ein „Missverständnis”, wie es hieß.
Alfred Andersch, Hans Bender, Wolfgang Koeppen haben Friedo Lampes Prosa geschätzt, aber zu einem richtigen Nachruhm hat es der Pechvogel nicht gebracht. Nun hat der Wallstein Verlag, der 1999 zum hundertsten Geburtstag Lampes schon den Erstling „Am Rande der Nacht” neu aufgelegt hat, auch das „Septembergewitter” neu herausgebracht. Der Roman vermeidet neben den Anstößigkeiten auch alles, was nach Zeitbezug hätte klingen können. Präzise Benennungen von Raum und Zeit fehlen, doch lässt sich die spärliche Handlung im Bremen des beginnenden 20. Jahrhunderts lokalisieren. Diese historisierende Entrückung hat zur Folge, dass alles Stoffliche ein wenig betulich wirkt, und hinzu kommt, dass sich größere Textabschnitte in der Welt und aus der Perspektive von Kindern entwickeln: „Emil und die Detektive” sind nicht so fern, wie man sich das wünschen würde.
Wir dürfen uns aber durch derlei nicht auf Abwege führen lassen, auch nicht durch die Haupthandlung des Buches, in der immerhin ein Mord aufgeklärt wird. Um Handlung, um Stoff geht es Friedo Lampe an allerwenigsten. Er wolle „volkstümlich und schlicht” schreiben, aber doch „neu in der Form”, hat Lampe selbst formuliert, und diesem Ziel kommt er mit dem „Septembergewitter” denkbar nahe. Hinter dem fast simpel scheinenden Erzählton gibt sich das Formbewusstsein unauffällig, es ist aber in jeder Zeile vorhanden.
Als Klammer um die Vorstadtszenen und den ganzen Text fungiert ein Ballon, der am Nachmittag bei Osnabrück aufsteigt und abends im Mondschein die englische Küste erreicht. In einer filmreifen Totale fällt von dort oben der erste und der letzte Blick auf den Schauplatz. „Wie friedlich liegt das da, wie muss man da idyllisch wohnen”, meint die junge Mary oben im Korb, doch „das sieht wohl nur von oben so aus”, weiß ihr Vater, und der Ballonführer entdeckt „eine Stelle des Himmels, wo er sich weiß und fahlgrau färbte”. Ein Gewitter steht bevor, das titelgebende Gewitter, durch das der Ballon hindurch muss und das sich über der Stadt drunten entlädt. Dieses Gewitter ist der eigentliche Held des Romans.
Ein Gewitter hat Symbolwert, es scheint metaphorisierende Deutungen geradezu zwingend heraufzurufen: da zieht aus heiterem Himmel etwas Bedrohliches herauf, etwas Dunkles, das aber reinigende Kraft besitzt und die schwüle Spannung klärt. Solche Deutungen lauern auch hier im Hintergrund, werden jedoch nicht erzählerisch, sondern nur von den einzelnen Figuren aufgerufen, die Einzelaspekte der Wetterlage auf ihre eigenen Existenzen zurückfallen lassen: die Witwe, die schwarz trägt und sich vom Leben abkehrt; der unentdeckte Mörder, der sich an der Kirchenorgel austobt; der Soldat, der seine Geliebte verloren hat und ins schwarze Herz der Finsternis will, nach Afrika; der Schriftsteller, der die Wucht griechischer Epik anruft.
Allen diesen Existenzen eignet ein Fluchtmoment; am Ende gelingt diese Flucht den wenigsten – die Figuren müssen „sehen, wie sie fertig werden”, müssen sich stellen und werden die Realität irgendwie „schon überstehen”. In diesen aufs eigene Dasein zurückgebogenen Fliehkräften spiegelt sich der Eskapismus des Romans, der sich aber in diesem Rückzug der eigenen Aufgabe umso energischer stellt: der Formung des Sprachmaterials. Das war schon in seinem Erstling „Am Rande der Nacht” so gewesen.
Eine der vielen Figuren in Lampes Kaleidoskop, der Schriftsteller Runge, lobt die Erzählkunst der Menschen von der Straße: „Immer hielten sie sich ans Detail, wurden nie verschwommen und allgemein.” Eben dies gilt für Lampes Prosa: sie ist einerseits naturalistisch, wenn es darum geht, verschiedene Dialekte und Sprechweisen einzufangen, andererseits zeigt sie einen Gestaltungswillen, der alle Sprache in Kunst überführt. Da kommt ein Gendarm in eine Kneipe, „und schmatzend trank er das Glas Bier in einem Zuge leer und ruck den Köhm hinterher und wischte sich den Schaum von dem Schnauzbart und stützte sich gemütlich auf die Theke”: in solchen Sätzen geht die zu beschreibende Bewegung unmittelbar in den Ablauf eines scheinbar einfachen „und'-Satzes über.
Das „und”, unscheinbarstes aller Wörter, ist das mit Abstand häufigste in „Septembergewitter”; selten ist ein Text virtuoser mit dem Nuancenreichtum umgegangen, der den simplen syntaktischen Reihungen eignet. Lampe stellt einfach nebeneinander: Aussagesätze und Aufzählungen; Figuren (die lose miteinander verbunden werden) und Handlungselemente (die einander immer heimlich verdoppeln); Binnen- und Außenperspektiven. Ein offenes Spektrum von Begegnungen, Abschieden, Ausbrüchen, geschmeidig entwickelt im Wechsel von Erzählbericht, erlebter Rede und kurz aufblitzenden inneren Monologen, begrenzt auf wenige Stunden und umschlossen von einem metaphorisierenden Rahmen, kurz: Friedo Lampes „Septembergewitter” ist durchaus lesbar als bescheidene kleine Bremer Variante auf den Joyceschen „Ulysses”, als Festlandsversion von Virginia Woolfs „Fahrt zum Leuchtturm”, als Tagesfassung von Dylan Thomas' nächtlichem „Unter dem Milchwald”. Bei allem Pech des Autors: Dieses Buch ist ein Glücksfall der Literatur.
FRIEDHELM RATHJEN
FRIEDO LAMPE: Septembergewitter. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 152 Seiten, 38 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Freiluftballon der Sprache: Friedo Lampes „Septembergewitter”
Wenn es Pechvögel der Literatur gibt, dann ist Friedo Lampe ein rabenschwarzer. Sein erster Roman „Am Rande der Nacht” erschien im Jahre 1933 und wurde sofort der unzüchtigen Darstellung homosexueller Neigungen verdächtigt und als „anstößig” verboten. Vorsichtshalber verzichtete Lampe in seinem zweiten Roman „Septembergewitter” auf alles, was anstößig sein könnte, doch das führte dazu, dass das schmale Büchlein, als es 1937 erschien, zwar nicht verboten, aber auch weder von der Kritik noch von der Leserschaft bemerkt wurde. Für einen Nachdruck während des Krieges wurden einige englische Orts- und Personennamen im Text durch dänische ersetzt, und zwar mit Billigung Lamers, was diesen doch ein wenig diskreditiert. Und die Chance, all das wieder richtig zu stellen, wurde Lampe verwehrt, weil er in den allerletzten Kriegstagen, Anfang Mai 1945 in Kleinmachnow nahe Berlin von einer Patrouille der russischen Armee erschossen wurde – ein „Missverständnis”, wie es hieß.
Alfred Andersch, Hans Bender, Wolfgang Koeppen haben Friedo Lampes Prosa geschätzt, aber zu einem richtigen Nachruhm hat es der Pechvogel nicht gebracht. Nun hat der Wallstein Verlag, der 1999 zum hundertsten Geburtstag Lampes schon den Erstling „Am Rande der Nacht” neu aufgelegt hat, auch das „Septembergewitter” neu herausgebracht. Der Roman vermeidet neben den Anstößigkeiten auch alles, was nach Zeitbezug hätte klingen können. Präzise Benennungen von Raum und Zeit fehlen, doch lässt sich die spärliche Handlung im Bremen des beginnenden 20. Jahrhunderts lokalisieren. Diese historisierende Entrückung hat zur Folge, dass alles Stoffliche ein wenig betulich wirkt, und hinzu kommt, dass sich größere Textabschnitte in der Welt und aus der Perspektive von Kindern entwickeln: „Emil und die Detektive” sind nicht so fern, wie man sich das wünschen würde.
Wir dürfen uns aber durch derlei nicht auf Abwege führen lassen, auch nicht durch die Haupthandlung des Buches, in der immerhin ein Mord aufgeklärt wird. Um Handlung, um Stoff geht es Friedo Lampe an allerwenigsten. Er wolle „volkstümlich und schlicht” schreiben, aber doch „neu in der Form”, hat Lampe selbst formuliert, und diesem Ziel kommt er mit dem „Septembergewitter” denkbar nahe. Hinter dem fast simpel scheinenden Erzählton gibt sich das Formbewusstsein unauffällig, es ist aber in jeder Zeile vorhanden.
Als Klammer um die Vorstadtszenen und den ganzen Text fungiert ein Ballon, der am Nachmittag bei Osnabrück aufsteigt und abends im Mondschein die englische Küste erreicht. In einer filmreifen Totale fällt von dort oben der erste und der letzte Blick auf den Schauplatz. „Wie friedlich liegt das da, wie muss man da idyllisch wohnen”, meint die junge Mary oben im Korb, doch „das sieht wohl nur von oben so aus”, weiß ihr Vater, und der Ballonführer entdeckt „eine Stelle des Himmels, wo er sich weiß und fahlgrau färbte”. Ein Gewitter steht bevor, das titelgebende Gewitter, durch das der Ballon hindurch muss und das sich über der Stadt drunten entlädt. Dieses Gewitter ist der eigentliche Held des Romans.
Ein Gewitter hat Symbolwert, es scheint metaphorisierende Deutungen geradezu zwingend heraufzurufen: da zieht aus heiterem Himmel etwas Bedrohliches herauf, etwas Dunkles, das aber reinigende Kraft besitzt und die schwüle Spannung klärt. Solche Deutungen lauern auch hier im Hintergrund, werden jedoch nicht erzählerisch, sondern nur von den einzelnen Figuren aufgerufen, die Einzelaspekte der Wetterlage auf ihre eigenen Existenzen zurückfallen lassen: die Witwe, die schwarz trägt und sich vom Leben abkehrt; der unentdeckte Mörder, der sich an der Kirchenorgel austobt; der Soldat, der seine Geliebte verloren hat und ins schwarze Herz der Finsternis will, nach Afrika; der Schriftsteller, der die Wucht griechischer Epik anruft.
Allen diesen Existenzen eignet ein Fluchtmoment; am Ende gelingt diese Flucht den wenigsten – die Figuren müssen „sehen, wie sie fertig werden”, müssen sich stellen und werden die Realität irgendwie „schon überstehen”. In diesen aufs eigene Dasein zurückgebogenen Fliehkräften spiegelt sich der Eskapismus des Romans, der sich aber in diesem Rückzug der eigenen Aufgabe umso energischer stellt: der Formung des Sprachmaterials. Das war schon in seinem Erstling „Am Rande der Nacht” so gewesen.
Eine der vielen Figuren in Lampes Kaleidoskop, der Schriftsteller Runge, lobt die Erzählkunst der Menschen von der Straße: „Immer hielten sie sich ans Detail, wurden nie verschwommen und allgemein.” Eben dies gilt für Lampes Prosa: sie ist einerseits naturalistisch, wenn es darum geht, verschiedene Dialekte und Sprechweisen einzufangen, andererseits zeigt sie einen Gestaltungswillen, der alle Sprache in Kunst überführt. Da kommt ein Gendarm in eine Kneipe, „und schmatzend trank er das Glas Bier in einem Zuge leer und ruck den Köhm hinterher und wischte sich den Schaum von dem Schnauzbart und stützte sich gemütlich auf die Theke”: in solchen Sätzen geht die zu beschreibende Bewegung unmittelbar in den Ablauf eines scheinbar einfachen „und'-Satzes über.
Das „und”, unscheinbarstes aller Wörter, ist das mit Abstand häufigste in „Septembergewitter”; selten ist ein Text virtuoser mit dem Nuancenreichtum umgegangen, der den simplen syntaktischen Reihungen eignet. Lampe stellt einfach nebeneinander: Aussagesätze und Aufzählungen; Figuren (die lose miteinander verbunden werden) und Handlungselemente (die einander immer heimlich verdoppeln); Binnen- und Außenperspektiven. Ein offenes Spektrum von Begegnungen, Abschieden, Ausbrüchen, geschmeidig entwickelt im Wechsel von Erzählbericht, erlebter Rede und kurz aufblitzenden inneren Monologen, begrenzt auf wenige Stunden und umschlossen von einem metaphorisierenden Rahmen, kurz: Friedo Lampes „Septembergewitter” ist durchaus lesbar als bescheidene kleine Bremer Variante auf den Joyceschen „Ulysses”, als Festlandsversion von Virginia Woolfs „Fahrt zum Leuchtturm”, als Tagesfassung von Dylan Thomas' nächtlichem „Unter dem Milchwald”. Bei allem Pech des Autors: Dieses Buch ist ein Glücksfall der Literatur.
FRIEDHELM RATHJEN
FRIEDO LAMPE: Septembergewitter. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 152 Seiten, 38 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
"Ein 'hinreißendes Lektüreerlebnis'!" (Tilman Spreckelsen in der "Berliner Zeitung")