Der neue Roman von Yasmina Reza: "Dieses meisterliche Buch gehört zum Besten, was es derzeit zu lesen gibt." Nils Minkmar, Süddeutsche Zeitung
Die Geschwister Popper: Serge, verkrachtes Genie und homme à femmes, Jean, der Vermittler und Ich-Erzähler, und Nana, die verwöhnte Jüngste mit dem unpassenden spanischen Mann. Eine jüdische Familie. Nach dem Tod der Mutter entfremdet man sich immer mehr. Zu ihren Lebzeiten hat keiner die alte Frau nach der Shoah und ihren ungarischen Vorfahren gefragt. Jetzt schlägt Serges Tochter Joséphine einen Besuch in Auschwitz vor. Virtuos hält Reza das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik, wenn bei der touristischen Besichtigung die Temperamente aufeinanderprallen. Hinter den messerscharfen Dialogen ist es gerade die existentielle Hilflosigkeit dieser Menschen, die berührt.
Die Geschwister Popper: Serge, verkrachtes Genie und homme à femmes, Jean, der Vermittler und Ich-Erzähler, und Nana, die verwöhnte Jüngste mit dem unpassenden spanischen Mann. Eine jüdische Familie. Nach dem Tod der Mutter entfremdet man sich immer mehr. Zu ihren Lebzeiten hat keiner die alte Frau nach der Shoah und ihren ungarischen Vorfahren gefragt. Jetzt schlägt Serges Tochter Joséphine einen Besuch in Auschwitz vor. Virtuos hält Reza das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik, wenn bei der touristischen Besichtigung die Temperamente aufeinanderprallen. Hinter den messerscharfen Dialogen ist es gerade die existentielle Hilflosigkeit dieser Menschen, die berührt.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Katharina Granzin fühlt sich beim Lesen bestimmter Passagen im Roman "Serge" von Yasmina Reza nicht immer wohl, wenn sie lachen muss. Denn die französische Autorin erzählt darin sowohl ironisch und sarkastisch als auch beklemmend von einer nach der Beerdigung der alten Mutter nach Auschwitz reisenden jüdischen Familie, bestehend aus drei Geschwistern und ihrem Anhang - da wären der mittlere Bruder Jean, in der Rolle des ausgleichenden und unkritischen Ich-Erzählers, der ältere Kotzbrocken-Bruder Serge und deren jüngste Schwester Nana, die als einzige glücklich verheiratet ist, erklärt Granzin. Zunächst scheint Auschwitz das Hauptthema des Buches zu sein, meint die Rezensentin, aber bald erkennt sie, dass es sich hier um eine Erzählung über Familienkonstrukte und die familiäre und jüdische Identitätsfrage handelt. Die Figuren lernt Granzin vor allem durch ihre andeutungsreichen Dialoge kennen. Ein "geistreiches Konversationsdrama in Prosaform", schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2022Das finale Lachen am Abgrund
Erinnern, eine leere Hülle? Yasmina Rezas Roman "Serge" beschreibt die Lebenslügen einer Familie
Alles beginnt mit dem Tod der Mutter, Marta Popper. Man hatte für sie gerade ein funktionales Pflegebett angeschafft, da stirbt sie, vor dem Fernseher, wo die Trauerfeier für die Opfer des Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt läuft. Von "Andacht" redet die Kommentatorin ständig und sagt dann, das Leben komme wieder zu seinem Recht, auch wenn natürlich nichts so sein werde wie früher. Serge, der älteste Sohn, hat seinen ersten Auftritt: "Doch, du dumme Kuh, sagte Serge, alles wird so sein wie zuvor. Binnen vierundzwanzig Stunden."
Damit ist schon das Feld abgesteckt, auf das sich Yasmina Rezas aktueller Roman begibt, der gerade auf Deutsch erschienen ist. Es geht um den ständig beschworenen Kult eines Erinnerns, das sich nicht aus eigener Erfahrung speisen kann, eines Gedenkens als Forderung, ohne die Fähigkeit eigener Einfühlung. Die Poppers sind eine bürgerliche jüdische Familie in Paris, väterlicherseits aus Wien kommend, die Mutter hat ungarische Vorfahren, die in Auschwitz ermordet wurden. Der Vater, der schon gestorben ist, war glühender Anhänger des Staates Israel. Die Mutter, die seine Meinung nicht teilte, schmähte er als "Antisemitin". Aber geredet wurde in der Familie nie über das Schicksal ihrer Mitglieder.
Yasmina Rezas Buch begleitet die verbliebenen Angehörigen über ein Stück ihres Lebens, auch auf ihrer Reise nach Auschwitz-Birkenau. Serge ist der älteste Sohn, nennt sich Berater, ist eine verkrachte Existenz, ein Versager und Großmaul, das zu viel isst und trinkt. Seine aktuelle Partnerin Valentina hat ihn aus ihrer Wohnung geschmissen, weil er sie betrog. Serges Tochter Joséphine, Anfang zwanzig, die sich als Kosmetikerin erprobt, stammt aus seiner früheren Ehe. Sein jüngerer Bruder Jean hat die Funktion des Icherzählers. Er hat keine Kinder, ist ein ewiger Zögerer, dafür beruflich gesichert, "Experte für Materialleitfähigkeit" erfährt man irgendwann. Die Schwester Anne, genannt Nana, hat den aus Spanien stammenden Arbeiter Ramos Ochoa geheiratet, ein ständiges Ziel des Spotts für die Brüder, was Nana zur Weißglut bringt. Sie hat zwei Kinder, Victor, der Koch gelernt hat, und die noch junge Margot.
Die Geschwister sind alle um die sechzig, ihre Leben sind im Großen und Ganzen gelaufen, festgefahren in Mustern, die ständig aufeinanderprallen. In die Erinnerungslosigkeit der Nachgeborenen bricht bei der Einäscherung der Mutter - ",Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin einäschern lässt.' - ,Sie wollte es.'" - Serges Tochter Joséphine mit ihrer Ankündigung ein, sie werde nach "Osvitz" fahren. So kommt es zu dieser Pilgerfahrt, auf der sie Serge, Jean und Nana begleiten. Sie wollen an der Gedenkstätte des Menschheitsverbrechens die Spuren ihrer ermordeten Vorfahren suchen. Doch "Auschwitz, oder nett gesagt, Oswiecim, ist das blumenreichste Städtchen, das ich jemals gesehen habe. Jemals", erläutert Jean seinen ersten Eindruck. Das ehemalige Konzentrationslager in seinem perfekt konservierten Zustand erweist sich als Touristenattraktion, Männer und Frauen in Shorts und ärmellosen T-Shirts, "die fast schon Strandkleidung tragen", "Ausdünstungen von Sonnencreme" im Gedränge.
Am makaber stillgestellten Ort mit gepflegtem Rasen ist es zu heiß für April. Um das schreckliche Gelände herum ist eine Art Jahrmarkt drapiert. Unter dem Druck der angespannten Situation implodiert die ganze Fatalität des Verhältnisses der Geschwister untereinander. Und während Joséphine ständig alles mit ihrem Handy fotografiert, ergeht sich ihr Vater in zynischen Bemerkungen und rabiater Verweigerung, seine Schwester wird wütend: "Du wolltest nicht in die Gaskammern, du hast die Judenrampe nicht sehen wollen, es war Ehrensache für dich, die ungarische Ausstellung zu boykottieren, jetzt noch die Sauna! Es wäre wirklich nett, Serge, wenn du hin und wieder im Leben über dein kleines Ich hinwegsehen und dich einer Gruppe anpassen könntest, und sei es auch nur für einen Tag, deiner Tochter zuliebe!"
Serges Boykott gilt zugleich der gesamten Geschichte seiner Familie, bis in die Gegenwart, er verweigert diese versuchte Gemeinschaft im Gedenken. Das Erinnern wird als eine leere Hülle demaskiert. Die melancholischen Einlassungen des Erzählers Jean registrieren das ohne Sentimentalität. Dahinter ist vielleicht Rezas eigene Stimme zu vernehmen: "Erneutes Herumirren draußen, über die Wege des Lagers. Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein." Reza macht sich mit keinem Wort über Auschwitz lustig. Der souveräne Umgang mit Sprache, das Gefühl für den Rhythmus des Erzählens erlauben ihr die Balance zwischen - manchmal boshafter - Komik und feinem Taktgefühl.
Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in "Kunst" oder "Der Gott des Gemetzels", ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung. Als "Serge" vor einem Jahr in Frankreich erschien, sagte Reza im Interview mit "Le Monde", das Lachen über die Katastrophe sei immer perfekt, es sei das "finale Lachen". Es ist das Lachen, um leerem Pathos zu entkommen, angesichts der Trostlosigkeit der menschlichen Kondition.
Reza hat in "Serge" über die Zeit und den Tod geschrieben. Der Tod ist der Abgrund, in den sie auch die alternden "Popper-Kinder" blicken lässt - und uns mit ihnen. Reza operiert mit "Serge" einmal mehr hart an der Wirklichkeit. Und sie weiß, worüber sie schreibt in dieser Familiengeschichte. Das autobiographische Moment ist ihre eigene verstreute jüdische Herkunft, ihr Vater war Iraner, ihre Mutter Ungarin, sie selbst wuchs in Paris auf. Doch die Poppers, so befremdlich, manchmal erschreckend sie erscheinen mögen, muten zugleich so vertraut an, in ihren mehr oder weniger bourgeoisen Verhältnissen, mit ihrem notorischen Abweichler. Serge, dessen Name dem Buch seinen Titel gibt, steht im Mittelpunkt des Geschehens, auch wenn er nicht auf der Szene ist. Denn in seiner grotesk verkommenen Existenz, mit seinem unangemessenen Benehmen verkörpert er das unauflösbare Dilemma, seine Wehleidigkeit markiert die völlige Ausweglosigkeit. Um ihn herum brechen die Lebenslügen der anderen auf wie giftige Früchte. Dank Rezas hoher Schreibkunst wird er trotzdem sympathisch, wenigstens beinah.
Am Ende sitzen die drei Geschwister im Warteraum eines Hospitals, sie begleiten Serge zur Computertomographie seiner Lunge. "Nana sagt, zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen, und jetzt zum PET-CT im Madeleine-Brès. Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen." Dann wird Serge ins Untersuchungszimmer gerufen: "Er hinterlässt zwischen uns eine bläuliche Lücke." Dieser großartige Roman öffnet die Tür einen Spalt breit, eine Trauer könnte beginnen, vielleicht sogar ein Gedenken. ROSE-MARIA GROPP
Yasmina Reza: "Serge". Roman.
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, München 2022. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnern, eine leere Hülle? Yasmina Rezas Roman "Serge" beschreibt die Lebenslügen einer Familie
Alles beginnt mit dem Tod der Mutter, Marta Popper. Man hatte für sie gerade ein funktionales Pflegebett angeschafft, da stirbt sie, vor dem Fernseher, wo die Trauerfeier für die Opfer des Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt läuft. Von "Andacht" redet die Kommentatorin ständig und sagt dann, das Leben komme wieder zu seinem Recht, auch wenn natürlich nichts so sein werde wie früher. Serge, der älteste Sohn, hat seinen ersten Auftritt: "Doch, du dumme Kuh, sagte Serge, alles wird so sein wie zuvor. Binnen vierundzwanzig Stunden."
Damit ist schon das Feld abgesteckt, auf das sich Yasmina Rezas aktueller Roman begibt, der gerade auf Deutsch erschienen ist. Es geht um den ständig beschworenen Kult eines Erinnerns, das sich nicht aus eigener Erfahrung speisen kann, eines Gedenkens als Forderung, ohne die Fähigkeit eigener Einfühlung. Die Poppers sind eine bürgerliche jüdische Familie in Paris, väterlicherseits aus Wien kommend, die Mutter hat ungarische Vorfahren, die in Auschwitz ermordet wurden. Der Vater, der schon gestorben ist, war glühender Anhänger des Staates Israel. Die Mutter, die seine Meinung nicht teilte, schmähte er als "Antisemitin". Aber geredet wurde in der Familie nie über das Schicksal ihrer Mitglieder.
Yasmina Rezas Buch begleitet die verbliebenen Angehörigen über ein Stück ihres Lebens, auch auf ihrer Reise nach Auschwitz-Birkenau. Serge ist der älteste Sohn, nennt sich Berater, ist eine verkrachte Existenz, ein Versager und Großmaul, das zu viel isst und trinkt. Seine aktuelle Partnerin Valentina hat ihn aus ihrer Wohnung geschmissen, weil er sie betrog. Serges Tochter Joséphine, Anfang zwanzig, die sich als Kosmetikerin erprobt, stammt aus seiner früheren Ehe. Sein jüngerer Bruder Jean hat die Funktion des Icherzählers. Er hat keine Kinder, ist ein ewiger Zögerer, dafür beruflich gesichert, "Experte für Materialleitfähigkeit" erfährt man irgendwann. Die Schwester Anne, genannt Nana, hat den aus Spanien stammenden Arbeiter Ramos Ochoa geheiratet, ein ständiges Ziel des Spotts für die Brüder, was Nana zur Weißglut bringt. Sie hat zwei Kinder, Victor, der Koch gelernt hat, und die noch junge Margot.
Die Geschwister sind alle um die sechzig, ihre Leben sind im Großen und Ganzen gelaufen, festgefahren in Mustern, die ständig aufeinanderprallen. In die Erinnerungslosigkeit der Nachgeborenen bricht bei der Einäscherung der Mutter - ",Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin einäschern lässt.' - ,Sie wollte es.'" - Serges Tochter Joséphine mit ihrer Ankündigung ein, sie werde nach "Osvitz" fahren. So kommt es zu dieser Pilgerfahrt, auf der sie Serge, Jean und Nana begleiten. Sie wollen an der Gedenkstätte des Menschheitsverbrechens die Spuren ihrer ermordeten Vorfahren suchen. Doch "Auschwitz, oder nett gesagt, Oswiecim, ist das blumenreichste Städtchen, das ich jemals gesehen habe. Jemals", erläutert Jean seinen ersten Eindruck. Das ehemalige Konzentrationslager in seinem perfekt konservierten Zustand erweist sich als Touristenattraktion, Männer und Frauen in Shorts und ärmellosen T-Shirts, "die fast schon Strandkleidung tragen", "Ausdünstungen von Sonnencreme" im Gedränge.
Am makaber stillgestellten Ort mit gepflegtem Rasen ist es zu heiß für April. Um das schreckliche Gelände herum ist eine Art Jahrmarkt drapiert. Unter dem Druck der angespannten Situation implodiert die ganze Fatalität des Verhältnisses der Geschwister untereinander. Und während Joséphine ständig alles mit ihrem Handy fotografiert, ergeht sich ihr Vater in zynischen Bemerkungen und rabiater Verweigerung, seine Schwester wird wütend: "Du wolltest nicht in die Gaskammern, du hast die Judenrampe nicht sehen wollen, es war Ehrensache für dich, die ungarische Ausstellung zu boykottieren, jetzt noch die Sauna! Es wäre wirklich nett, Serge, wenn du hin und wieder im Leben über dein kleines Ich hinwegsehen und dich einer Gruppe anpassen könntest, und sei es auch nur für einen Tag, deiner Tochter zuliebe!"
Serges Boykott gilt zugleich der gesamten Geschichte seiner Familie, bis in die Gegenwart, er verweigert diese versuchte Gemeinschaft im Gedenken. Das Erinnern wird als eine leere Hülle demaskiert. Die melancholischen Einlassungen des Erzählers Jean registrieren das ohne Sentimentalität. Dahinter ist vielleicht Rezas eigene Stimme zu vernehmen: "Erneutes Herumirren draußen, über die Wege des Lagers. Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein." Reza macht sich mit keinem Wort über Auschwitz lustig. Der souveräne Umgang mit Sprache, das Gefühl für den Rhythmus des Erzählens erlauben ihr die Balance zwischen - manchmal boshafter - Komik und feinem Taktgefühl.
Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in "Kunst" oder "Der Gott des Gemetzels", ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung. Als "Serge" vor einem Jahr in Frankreich erschien, sagte Reza im Interview mit "Le Monde", das Lachen über die Katastrophe sei immer perfekt, es sei das "finale Lachen". Es ist das Lachen, um leerem Pathos zu entkommen, angesichts der Trostlosigkeit der menschlichen Kondition.
Reza hat in "Serge" über die Zeit und den Tod geschrieben. Der Tod ist der Abgrund, in den sie auch die alternden "Popper-Kinder" blicken lässt - und uns mit ihnen. Reza operiert mit "Serge" einmal mehr hart an der Wirklichkeit. Und sie weiß, worüber sie schreibt in dieser Familiengeschichte. Das autobiographische Moment ist ihre eigene verstreute jüdische Herkunft, ihr Vater war Iraner, ihre Mutter Ungarin, sie selbst wuchs in Paris auf. Doch die Poppers, so befremdlich, manchmal erschreckend sie erscheinen mögen, muten zugleich so vertraut an, in ihren mehr oder weniger bourgeoisen Verhältnissen, mit ihrem notorischen Abweichler. Serge, dessen Name dem Buch seinen Titel gibt, steht im Mittelpunkt des Geschehens, auch wenn er nicht auf der Szene ist. Denn in seiner grotesk verkommenen Existenz, mit seinem unangemessenen Benehmen verkörpert er das unauflösbare Dilemma, seine Wehleidigkeit markiert die völlige Ausweglosigkeit. Um ihn herum brechen die Lebenslügen der anderen auf wie giftige Früchte. Dank Rezas hoher Schreibkunst wird er trotzdem sympathisch, wenigstens beinah.
Am Ende sitzen die drei Geschwister im Warteraum eines Hospitals, sie begleiten Serge zur Computertomographie seiner Lunge. "Nana sagt, zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen, und jetzt zum PET-CT im Madeleine-Brès. Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen." Dann wird Serge ins Untersuchungszimmer gerufen: "Er hinterlässt zwischen uns eine bläuliche Lücke." Dieser großartige Roman öffnet die Tür einen Spalt breit, eine Trauer könnte beginnen, vielleicht sogar ein Gedenken. ROSE-MARIA GROPP
Yasmina Reza: "Serge". Roman.
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, München 2022. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Klug, witzig und erstaunlich leicht." Novina Göhlsdorf, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.07.22
"Ein heiterer Roman über den Besuch einer jüdischen Familie in Auschwitz: das gelingt in unserer Gegenwartsliteratur niemand so stilsicher wie Yasmina Reza. Innerfamiliäre Konflikte und welthistorische Bruchlinien ambivalent, komplex und doch unterhaltend darzustellen: Das schafft große Literatur. Bravo!" Denis Scheck, Tagesspiegel, 27.03.22
"Dieser melancholische Roman ist ein vor Lebensweisheit schimmernder Edelstein, der sich in ein ruppig ironisches Gewand gehüllt hat, und in dieser Verkleidung nur umso ergreifender. Die fabelhafte Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert geht jeden von Yasmina Rezas Schritten mit, aus dem Leichten ins Schwere, aus dem Groben ins Zarte und wieder retour, und macht ein bezwingendes, idiomatisches Deutsch daraus." Eva Menasse, Der Spiegel, 12.02.22
"Ein tragikomischer, tief berührender Roman. ... Was Jasmina Reza wagt - und kann -, muss man in deutscher Sprache lange und vergeblich suchen. Einzigartig ist unter anderem ihre Fähigkeit, Sarkasmus an der Oberfläche mit tiefer Zuneigung zu ihren Figuren zu verbinden." Marin Ebel, Tages-Anzeiger, 01.02.22
"Ein prächtig abschnurrender, kompakter Gesellschaftsroman rund um eine temperamentvolle bürgerliche Familie und ihre illustren Freunde, darunter neunundneunzigjährige sterbensbereite Spaßvögel und Charakterköpfe. ... Ein defitges, zugleich leichtes und vor allem befreiendes Buch." Margarete Affenzeller, Der Standard, 27.01.22
"Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in 'Kunst' oder 'Der Gott des Gemetzels', ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung ... ein großartiger Roman ..." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.01.22
"Ein grandioser Roman ... Falls man sich generell mal nicht sicher sein sollte, ob die Bücher, die man liest, gut sind, dann kann man einfach diesen neuen Roman danebenlegen, um den Unterschied zu erkennen. 'Serge' zeigt, was einen Roman ausmacht. Ist auf eine so elegante Weise böse und witzig zugleich, hält die Balance zwischen den Wünschen und den Fehlern seiner Figuren, ohne sie für eine Pointe oder eine billige Erkenntnis zu verraten." Tobias Rüther, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.22
"Ein großartiger, tragikomischer Roman, der von der Unmöglichkeit des Erinnerns handelt ... Ihr vielleicht bester Roman." Iris Radisch, Die Zeit, 20.01.22
"Ein heiterer Roman über den Besuch einer jüdischen Familie in Auschwitz: das gelingt in unserer Gegenwartsliteratur niemand so stilsicher wie Yasmina Reza. Innerfamiliäre Konflikte und welthistorische Bruchlinien ambivalent, komplex und doch unterhaltend darzustellen: Das schafft große Literatur. Bravo!" Denis Scheck, Tagesspiegel, 27.03.22
"Dieser melancholische Roman ist ein vor Lebensweisheit schimmernder Edelstein, der sich in ein ruppig ironisches Gewand gehüllt hat, und in dieser Verkleidung nur umso ergreifender. Die fabelhafte Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert geht jeden von Yasmina Rezas Schritten mit, aus dem Leichten ins Schwere, aus dem Groben ins Zarte und wieder retour, und macht ein bezwingendes, idiomatisches Deutsch daraus." Eva Menasse, Der Spiegel, 12.02.22
"Ein tragikomischer, tief berührender Roman. ... Was Jasmina Reza wagt - und kann -, muss man in deutscher Sprache lange und vergeblich suchen. Einzigartig ist unter anderem ihre Fähigkeit, Sarkasmus an der Oberfläche mit tiefer Zuneigung zu ihren Figuren zu verbinden." Marin Ebel, Tages-Anzeiger, 01.02.22
"Ein prächtig abschnurrender, kompakter Gesellschaftsroman rund um eine temperamentvolle bürgerliche Familie und ihre illustren Freunde, darunter neunundneunzigjährige sterbensbereite Spaßvögel und Charakterköpfe. ... Ein defitges, zugleich leichtes und vor allem befreiendes Buch." Margarete Affenzeller, Der Standard, 27.01.22
"Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in 'Kunst' oder 'Der Gott des Gemetzels', ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung ... ein großartiger Roman ..." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.01.22
"Ein grandioser Roman ... Falls man sich generell mal nicht sicher sein sollte, ob die Bücher, die man liest, gut sind, dann kann man einfach diesen neuen Roman danebenlegen, um den Unterschied zu erkennen. 'Serge' zeigt, was einen Roman ausmacht. Ist auf eine so elegante Weise böse und witzig zugleich, hält die Balance zwischen den Wünschen und den Fehlern seiner Figuren, ohne sie für eine Pointe oder eine billige Erkenntnis zu verraten." Tobias Rüther, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.22
"Ein großartiger, tragikomischer Roman, der von der Unmöglichkeit des Erinnerns handelt ... Ihr vielleicht bester Roman." Iris Radisch, Die Zeit, 20.01.22