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Ein Vater unterwegs mit seinem Sohn. Ihre Reise führt zurück in das Hügelland, aus dem der Vater stammt, zu den Schauplätzen seiner Kindheit. Da ist das Geburtshaus, dort die elterliche Hochzeitskirche, hier der Friedhof, auf dem der Freund Frieder begraben liegt. Ständiger Reisebegleiter ist das Schicksal der männlichen Vorfahren, die sich allesamt das Leben nahmen: "Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt." Der Vater muss erkennen, dass sein Wegzug, seine Bildung und sein Aufstieg keine Erlösung gebracht haben. Vielleicht helfen die Rückkehr und das Erinnern. Doch warum…mehr

Produktbeschreibung
Ein Vater unterwegs mit seinem Sohn. Ihre Reise führt zurück in das Hügelland, aus dem der Vater stammt, zu den Schauplätzen seiner Kindheit. Da ist das Geburtshaus, dort die elterliche Hochzeitskirche, hier der Friedhof, auf dem der Freund Frieder begraben liegt. Ständiger Reisebegleiter ist das Schicksal der männlichen Vorfahren, die sich allesamt das Leben nahmen: "Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt." Der Vater muss erkennen, dass sein Wegzug, seine Bildung und sein Aufstieg keine Erlösung gebracht haben.
Vielleicht helfen die Rückkehr und das Erinnern. Doch warum bringt er seinen Jungen in Gefahr? Warum hat er keine Antwort auf dessen bange Frage: "Um was geht es?" Er weiß nur: Wer zurückfährt, muss alle Kurven noch einmal nehmen. Wenn er der dunklen Tradition ein Ende setzen will.

Bov Bjerg gehört zu den wichtigsten Schriftstellern der deutschen Gegenwart. Nach dem Bestseller "Auerhaus" legt er nun seinen neuen Roman vor. Genau, mutig und lang nachwirkend erzählt er vom Kampf eines Vaters gegen die Dämonen der Vergangenheit. Nur wenn er seinen Sohn so liebt, wie er selbst nie geliebt wurde, kann die Reise der beiden glücken.
Autorenporträt
Bov Bjerg, geboren 1965, ist Schriftsteller und Vorleser. Sein erster Roman hieß »Deadline«, sein zweiter, »Auerhaus«, wurde verfilmt und von vielen Theatern inszeniert. Eine Geschichtensammlung erschien unter dem Titel »Die Modernisierung meiner Mutter«.
Mit »Serpentinen« war Bov Bjerg auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2020

Meine Heimat ist mein Albtraum

Mit dem Roman "Auerhaus" hatte Bov Bjerg einen Hit: Bestseller, Schullektüre, die Leser waren süchtig nach dem zarten Schmelz der alten Bundesrepublik. Jetzt erscheint "Serpentinen", sein neuer Roman, der härter ist, grausamer. Ein Spaziergang mit dem Autor durch Berlin. Und in eine Vergangenheit, die nicht abzuschütteln ist.

Bov Bjerg, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, wie es so Spaziergänger tun, erzählt, dass er oft spazieren geht. Den Park vom Schloss Charlottenburg hat er auch deswegen vorgeschlagen, weil er herauswollte aus dem Klischee des Schriftstellers aus Prenzlauer Berg, wo er mit seiner Familie lebt. Und schreibt. Und spazieren geht.

Spazieren gehen hilft. Als Bjerg vor zwei Jahren beim Bachmann-Preis in Klagenfurt aus einen Manuskript las, das "Serpentinen" hieß und jetzt zu seinem neuen Roman geworden ist, musste er auch an die Luft und sich bewegen - weil ihm die ganze Situation dort plötzlich zusetzte. Und das, obwohl Bjerg schon seit Jahren auf Lesebühnen auftritt. Aber jetzt, mit einer Jury, frontal vorm Lesepult, dann die Kameras - also ging Berg mit Gunnar Cynybulk spazieren, der sein Verleger gewesen war, als Bjergs Roman "Auerhaus" 2015 bei Aufbau erschien und zum Bestseller wurde. Danach ging's wieder. Am Ende gewann Bjerg den Deutschlandfunk-Preis des Klagenfurter Wettbewerbs.

Es ist ein föhnhafter warmer Berliner Wintertag, zwei Stunden lang laufen wir die Spree entlang. Weg vom Park, an Schrebergärten vorbei, unter der Brücke der Stadtautobahn hindurch ins Nichtortnirgendwo des nördlichen Charlottenburg. Bis wir nichts mehr finden, wo man sich hinsetzen und etwas trinken könnte, und deswegen wieder umdrehen. Den gleichen Weg erzählend zurück nehmen - das passt zu Bjergs neuem Roman. "Serpentinen" erzählt die Geschichte eines suizidalen Vaters aus einer Familie suizidaler Männer, der seinen Sohn auf eine Abschiedstour in seine Vergangenheit mitnimmt, um dem Jungen ein Schicksal zu ersparen, das er für sich und ihn unausweichlich hält.

Es ist ein heftiger Stoff. Bjerg spricht von den Skrupeln, so eine Geschichte überhaupt zu erzählen. Es könnte sein, dass er mit diesem neuen Roman eine Menge Menschen vor den Kopf stößt, die sich vor fünf Jahren noch in "Auerhaus" verliebt haben: dieses Buch, das in seiner bewundernswerten Kombination aus Humor, Melancholie und Tragik die uralte Geschichte des Erwachsenwerdens in der Provinz noch einmal neu erzählte, diesmal in den Achtzigern eines verschwundenen Lands namens Bundesrepublik.

"Auerhaus" war der zweite Roman Bjergs und sein erster Erfolg. Und zwar ein richtig, richtiger Erfolg: Bestseller. Schullektüre. Im Dezember ist die Verfilmung in die Kinos gekommen.

Es könnte sein, dass Bjergs neuer Roman jetzt in die Welt von "Auerhaus" zurückkehrt, dreißig Jahre später. Es könnte auch sein, dass der Erzähler dieses neuen Romans wieder jener Höppner ist, der schon die Geschichte von "Auerhaus" erzählt hat, nur älter. Es sind auch die gleichen schwäbischen Landschaften, in denen der neue Roman spielt. Und ein Frieder kommt ebenfalls vor - so hieß auch der Abiturient, der sich in "Auerhaus" das Leben zu nehmen versucht hatte. Weswegen er mit fünf Freundinnen und Freunden in ein Haus zog, damit die auf ihn aufpassen, dass er es nicht noch einmal versucht - und dann passieren in dieser WG noch ganz andere schreckliche, lustige, schlimme Dinge.

Aber es könnte genauso gut sein, dass all das nur Zufälle sind. Bjergs neuer Roman lässt es offen. Es gibt Indizien für beide Varianten. Wer sich aber von "Serpentinen" den gleichen süßen Schmelz melancholischer Teenagerdystopie erhofft, den damals "Auerhaus" trotz dunkelster Untertöne hatte, wird in jedem Fall enttäuscht: Bov Bjergs neuer Roman ist ein Trip mit einem kaum vorstellbaren Ziel.

Falls es aber eine Verbindung gibt zum Roman davor, dann besteht sie in der genauen Beschreibung einer Provinz, in der familiäre und historische Beschädigungen und Traumata nachwirken: Die alte Bundesrepublik der Vertriebenen und Ostfront-Opas und ihrer Enkelinnen und Enkel. Eine Welt, in der, auch wenn im Kino längst "Zurück in die Zukunft" lief, die Nachkriegszeit trotzdem weiter anhielt. Die Teenager, die mit solchen Filmen groß wurden, stammten aus Familien, deren ältere Männer also an der Ostfront oder bei der SS gewesen waren, die an der Flak gestanden hatten, die Uniform getragen hatten und uniformiert wurden und das nur schwer ablegen konnten. Familien, die aus Schlesien, Ostpreußen oder dem Sudetenland vertrieben worden waren. Oder ausgebombt wurden. Familien, in denen der Krieg und das, was danach geschah, als rituelle Erzählung nachlebte: So, als sei die persönliche Geschichte direkt in die Weltgeschehen eingespeist. Draußen in der Welt war für die Teenager dieser Familien zwar längst die Popmoderne angebrochen, weiße Turnschuhe, Haarspray-Frisuren, "Formel 1" - daheim aber war immer noch 1945ff.

In dieser Atmosphäe wurden die Kinder aus Bov Bjergs "Auerhaus" groß. Auch die Geschichtensammlung danach, "Die Modernisierung meiner Mutter" (2016), war dort zu Hause. Der neue Roman verdichtet die Motive und Stimmungen der Bücher davor jetzt dramatisch.

Und es gibt kaum Entlastung. Es gibt nur einen Mann mit einer Diagnose, der hadert und ringt mit dem seelischen und historischen Erbe, welches ihm Vater und Großvater und Urgroßvater aufgebürdet haben. Und der auch keinen anderen Weg erkennt, als diesen Männern zu folgen - und seinen eigenen Sohn auf diesem Weg mitzunehmen, damit der ihn nicht eines Tages selbst nehmen muss.

Ein heftiger Stoff, wie gesagt. Und erzählt in jenem Präzisionston, kein Wort zu viel, der schon "Auerhaus" so stark gemacht hat. Und der in "Serpentinen" nur noch schärfer und härter geworden ist. Hier wird nicht geschwätzt. Hier wird nicht geschwelgt. Hier wird gerichtet: "Die Scheißwut der Scheißväter. Gegen sich, gegen alle. Die Kinder mussten für die Kindheit ihrer Väter büßen. Ich war auch nur ein Scheißvater."

Fürchtet Bov Bjerg nicht, dass es da beim Publikum zur Produktenttäuschung kommen könnte, wenn manche den neuen Roman aufschlagen in der Hoffnung, es könnte wie der davor wieder diesen süßen Reiz des Altbundesrepublikanismus erzeugen, und dann geht es so abwärts?

Er sei, antwortet Bjerg, und er sagt es später noch einmal auf unserem Spaziergang, der festen Überzeugung, dass früher nichts besser gewesen sei und dass es im Gegenteil nur besser geworden sei. "Die weitgehende rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben ist ein Riesenfortschritt", sagt er. "Früher gab es den heute völlig unvorstellbaren Paragraphen 175, heute gibt es die Ehe für alle. Ein anderer der meiner Ansicht nach größten Fortschritte wird seltsamerweise oft vergessen: Das Verbot, seine Kinder zu schlagen, das im Jahr 2000 Gesetz wurde." Bjerg ist ein freundlicher, eher leiser Mensch, aber wenn es um die Frage nach der heilen Welt von früher geht, wird er doch bestimmt und sogar etwas lauter. "Auerhaus" ist zwar auch ein witziges Buch gewesen, aber im Kern war dieser Roman einer selbstbestimmten Schüler-WG alles andere als ein Idyll: Sechs junge, seelisch beschädigte Menschen in der schwäbischen Provinz, und jeder Einzelne von ihnen sucht nach dem way out.

Berg selbst, geboren 1965 als Rolf Böttcher in Heiningen am Rande der Schwäbischen Alb, ist 1984 nach Berlin gegangen. Er stammt aus einer sudetendeutschen Familie. Das neue Buch orientiert sich an der Geschichte seiner Großeltern mütterlicherseits aus dem Böhmerwald.

Das Psychogramm seines Erzählers ist typisch für einen sozialen Aufsteiger, der, sosehr er auch aufsteigt, einfach nicht ankommt. Der sich überall unzugehörig fühlt. Der überall Nazis am Werk sieht und sich in einer Mischung aus sozialem Unterlegenheits- und intellektuellem Überlegenheitsgefühl gegen jene stellt, die er für die Arrivierten hält. Er bleibt einfach draußen. Es gibt keinen Weg zurück und keinen voran und hinein: "Das war ein Irrtum. Man gehörte nie dazu." Dutzendfach sind solche Psychogramme in den "Nachkriegskinder"-Büchern der Journalistin Sabine Bode versammelt, Bjerg hat nun einen Roman aus dieser Erfahrung gemacht - in dem auch Didier Eribons berühmte Herkunftsanalyse "Rückkehr nach Reims" kurz eine Rolle spielt.

Als er nach Berlin gezogen sei, erzählt Bjerg, habe er sich gewundert, dort Menschen kennenzulernen, die im Einvernehmen mit dem Zuhause leben, aus dem sie kamen: Dieses Gefühl war Bjerg vollkommen fremd. ("Ich fand aus Prinzip gut, was die Herkunft schlecht fand", erklärt der Erzähler im Roman.) Heimat gibt es eh nicht, wird Bjerg irgendwann vollkommen beiläufig sagen, "Heimat ist ja kein Ort, Heimat ist immer eine bestimmte Zeit in der Vergangenheit." Unser Spaziergang endet dann schließlich an der S-Bahn und mit dem Gedanken, wie man wohl herausfinden könnte, ob unter den vielen Zugezogenen Berlins möglicherweise proportional viele Kinder aus Vertriebenenfamilien sind, die von zu Hause weg sind, weil sie dort genauso wenig hielt wie ihre Familie, überall nur Gäste.

Eine der vielen schmerzhaften Szenen des neuen Romans schildert einen Empfang unter Juristen, zu denen auch die erfolgreiche Frau des Erzählers gehört, selbst eine Karrierejuristin. Der Erzähler, obwohl selbst Soziologieprofessor, steht am Rand. Schaut zu, von außen. Betrinkt sich, erst mit Prosecco, dann Wein, schließlich Bier, Bier, Bier. Am Ende randaliert er dann, weil er sie alle so satt hat, diese eleganten, selbstgewissen, schneidigen Männer, die seine Frau umgeben, und das ist dann doch wieder unheimlich lustig: "Die Großväter der Männer, mit denen ich, gute Miene, beim Stehempfang in Plaudereien geriet, hatten ihre kleine Juristendynastie mithilfe eines unbedeutenden Postens in einer reichsdeutschen Auslandsvertretung oder am Volksgerichtshof durch die schwere Zeit navigieren müssen."

Die Wut, der Überdruss, die Legenden, die man sich selbst erzählt von damals, aus der schweren Zeit, Opfermythen mit Goldrand, die bösen Tschechen, die armen Deutschen: der Erzähler kennt das von zu Haus und nennt es den "Familienbla". Er kann diesen Bla einfach nicht mehr hören, und je länger er ihn hörte, desto weniger blieb von ihm übrig - die Reise mit dem Sohn in die eigene Vergangenheit, ins Dorf, zur Mutter ins Pflegeheim und zuletzt auf einen Gipfel hinauf, ist auch die Abschiedstournee von diesen Legenden, mit denen der Erzähler aufgewachsen ist. Und die er endlich abschütteln will, indem er den eigenen Sohn an die Stationen seines Weges führt: eine Art Exorzismus. "Ich schaute gern in fremde Wohnungen von außen", sagt der Erzähler einmal: "Schöne Küchen, schöne Wohnzimmer. Das warme Licht. Keine Geschichte." Frei zu sein von Geschichte, das ist sein größter, existentieller Wunsch.

Denn es ist nicht nur die Geschichte seiner Vertriebenenfamilie, aufgegangen in der Geschichte des Kriegs, des Nationalsozialismus, des Holocausts, der Vertreibung - es ist auch die Geschichte des Erzählers selbst, aus der er raus will. Sie handelt von einem Sohn, der seinen Vater erhängt im Badezimmer gefunden hatte, und der seit langem spürt, dass er an der gleichen Krankheit leidet, welche diesen Vater und den Großvater und den Urgroßvater in den Tod getrieben hat. Und der trinkt, damit er es nicht spürt, aber es geht nicht weg, es wird nicht kleiner, es kommt auf ihn zu. "Der Vater war 44, als er sich aufhängte. Als ich endlich 45 war, war ich froh. Ich hatte ihn nicht umgebracht, doch ich war älter geworden als er, immerhin. Etappenziel erreicht. Dann wurde ich selbst Vater, spät. Ich wollte da sein für das Kind. Anwesend sein. Man entschied sich für ein Kind, wenn man glaubte, dass man weiterleben wollte. Doch was war, wenn man sich geirrt hatte?"

"Serpentinen" ist ein riskanter Roman. Einmal, weil er Pathologie und Geschichte so nah aneinanderführt, als könnte man beidem auf ähnliche Weise nicht entkommen: Ist Familie eine lebensbestimmende Diagnose, so wie Depression eine lebensbestimmende Diagnose ist? Und dann, weil sich im Roman daraus die Frage ergibt, was es heißt, ein Opfer zu sein: Den Erzähler hat die Selbststilisierung seiner Familie zum Opfer der deutschen Geschichte angewidert, er selbst aber windet sich tief und tiefer hinein in seine eigene Selbststilisierung - und zieht den Sohn mit sich, der zu klein ist zu verstehen, so wie sein Vater einmal viel zu klein gewesen ist, um all das zu verkraften, was um ihn geschah - aber das ja als Erwachsener immerhin verstanden hat. "Um was geht es?", fragt der Sohn seinen Vater immer wieder, es ist der erste Satz des Romans. Um was geht es? Worauf kommt es wirklich an? Das könnte auch der Anfang einer Geschichte sein. Es geht nicht ohne Geschichten, sie müssen nur stimmen, ehrlich sein, wie diese.

TOBIAS RÜTHER

Bov Bjerg, "Serpentinen", Roman, Claassen, 272 Seiten, 22 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension

Rezensent Rainer Moritz zeigt sich enttäuscht von Bov Bjergs Erinnerungsbuch. Es ist nicht der im Vergleich zu Bjergs Erfolgsroman "Auerhaus" düstere Ton, der ihn stört oder dass Bjerg diesmal keine lustigen Anekdoten zu erzählen hat, sondern sich mit dem Selbstmord seines Vaters und dessen Nazismus auseinandersetzt. Die Lektüre bietet ihm "bewegende Szenen", Sätze, in denen die erlittene Grausamkeit und Verzweiflung des Kindes stecken. Wirklich störend scheint Moritz hingegen, wie der Autor sich als "sich selbst kasteienden Kommentator" inszeniert, der gegen den Schwabenkitsch, das finstere Erbe und das bougeoise Milieu wettert, in dem er sich selber gefangen sieht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.02.2020

Aufstiegsangst
Jeder Tag ein mündliches Examen: Zwei Bücher über Männer, die sich gegen die
Geschichte ihrer Väter stemmen und auf unterschiedliche Weise scheitern
VON FELIX STEPHAN
Vor Kurzem ist in der Zeitschrift Sinn und Form ein Interview mit dem Lyriker Durs Grünbein erschienen, in dem dieser ausführlich über Paul Celan spricht. Celans Menschenbild, sagt Grünbein dort, sei nach dem Holocaust „bis in den tiefsten Kern erschüttert“. Der „Mensch als solcher“ sei dem Dichter suspekt geworden, und er habe niemandem mehr trauen können, „weil die Geschichte sich je nach Geburtsort in ihn eingeschrieben und jeder die historische Erblast seines Stammes in sich trägt“. Das Phänomen beschränkt sich nicht auf Deutschland, aber eine Steigerung dieses Problems, so sieht es derzeit jedenfalls aus, ist die deutsche Variante doch. Mit Bov Bjergs „Serpentinen“ und Christian Barons Buch „Ein Mann seiner Klasse“ sind in dieser Woche gleich zwei Bücher erschienen, die genau dieses Thema verhandeln. In beiden Erzählungen geht es um erwachsene Männer im heutigen Deutschland, die sich gegen die Geschichte ihrer Väter stemmen und auf jeweils unterschiedliche Weise scheitern.
Bei Bov Bjerg bildet eine Reise den Erzählrahmen. Der Ich-Erzähler unternimmt mit seinem Sohn einen Ausflug nach Süddeutschland, um ihm zu zeigen, wo er selbst aufgewachsen ist. Er entstammt einer Familie von Vertriebenen, auch nach Kriegsende ist sein Vater überzeugter Nationalsozialist geblieben. Die zentralen Erinnerungen an seine Herkunftswelt sind hassgetränkter Provinzialismus, Alkoholismus und Depression. Sowohl der Vater des Ich-Erzählers als auch dessen Vater haben sich umgebracht, und jetzt fürchtet er, dass er diese unheilvolle Tradition, diesen Familienfluch an seinen eigenen Sohn weitergeben wird.
Der Versuch, die Gewalt, die Todessehnsucht, die Depression, die Schuld aus sich selbst zu entfernen, steigert sich zur Obsession, deshalb erblickt er sie wie ein Hypochonder überall. Ständig erwischen ihn die Erinnerungen aufs Neue, ständig hört er seinen Vater, seine verhasste Herkunftswelt durch sich selbst zu seinem Sohn sprechen. Der Stress, der sich aus dem selbstauferlegten Verbot ergibt, auch nur das Geringste von dem weiterzugeben, was ihn selbst geformt hat, ist im Begriff, ihn um den Verstand zu bringen. Als ihm dämmert, dass er nicht aus seiner Haut kann und er selbst weiterträgt, was ihm den größten Schrecken einjagt, sieht er den einzigen Ausweg in einer Paradoxie: Wollte er absolut sichergehen, dass er die väterliche Linie unterbricht, müsste er sich umbringen und damit den Fluch doch wieder erfüllen.
Auf der Handlungsebene passiert relativ wenig in diesem Roman, die Spannung entsteht aus dem Zwiegespräch des Erzählers mit seinen Dämonen, seiner zwanghaften Selbstdisziplinierung, seiner panischen Selbstamputation. Immer wenn sich die äußere Wirklichkeit in dieses Gespräch einschaltet, nährt sie nur die innere Raserei. An einer Stelle fällt der Mutter des Erzählers auf, dass er denselben Rücken hat wie sein Vater, und reflexartig durchfährt den Erzähler dieser Gedanke: „Das rassische Erscheinungsbild war wichtig, wenn jemand zur SS wollte.“ Jedes Ereignis, jeder äußere Eindruck wird eingeordnet in die Muster der eigenen Obsession, die Paranoia wird zum Prisma der Weltwahrnehmung. Auf der letzten Seite, das überrascht dann wirklich nicht mehr, dankt der Autor einem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie „für den fachlichen Rat“.
Für das zirkuläre, repetitive Denken des Ich-Erzählers hat Bov Bjerg ein komplementäres Erzählverfahren gefunden. Der Rhythmus des Romans ist atemlos. Eine Handvoll wiederkehrender Motive bildet den Takt der Erzählung. Wie die Trommeln in einem Iñárritu-Film prügeln sie den Text voran: die marmorierten Fliesen der Kindheit, eine Kindheitserinnerung am Küchentisch, die TV-Dokus über Schwertransporte, die spielerische Frage des Sohnes an den Vater: „Um was geht es?“ Ein deutsches Leben in vier wiederkehrenden Bildern. Kompositorisch ist die Sache so rund, dass man ihr eine gewisse Kunsthandwerklichkeit vorwerfen könnte, wenn das nicht auf den stets ungerechten Vorwurf hinauslaufen würde, der Text sei zu gut. Die lückenlose motivische Modellierung reicht bis in den Titel. Die „Serpentinen“ sind nicht nur die Straßen, auf denen Vater und Sohn unterwegs sind, sondern auch die vorgefertigten Bahnen, auf denen sich ihr Bewusstsein bewegt. An jedem Autobahnkreuz sieht der Erzähler ein KZ.
Bei Christian Baron verhält es sich ein wenig anders und womöglich interessanter. Sein Buch ist ausdrücklich kein Roman, sondern eine Art Collage aus Bericht, Autobiografie, Reportage und Porträt seines bettelarmen, alkoholsüchtigen, gewalttätigen Vaters. Baron erzählt, wie er in den Neunzigerjahren, lange vor den Hartz-IV-Reformen und mitten in Westdeutschland, in einer subproletarischen Familie in Kaiserslautern-Ost aufgewachsen ist, wo es außer der Stammkneipe des Vaters „nur Häuser, einen Baumarkt, einen McDonald’s und Autohäuser gab – und Straße, sehr viel Straße.“
Die Ausgangsbehauptung des Buches lautet, dass der Erzähler sein Herkunftsmilieu hinter sich gelassen hat und nach dem Universitätsstudium zurückschaut auf seine Kindheit. Die Konstellation ähnelt Didier Eribons Buch „Rückkehr nach Reims“, weshalb das Buch allenthalben als Referenz herhalten muss, obwohl die Bücher sonst wenig gemein haben. Eribon schaute auf seinen Stoff mit dem geschulten, verfeinerten Blick des Pariser Soziologen und Foucault-Biografen, formbewusst verschränkte er politische Analyse und soziale Autobiografie. Christian Barons Buch lebt eher von der linkischen, etwas unbeholfenen Erzählweise. An einer Stelle heißt es etwa: „Ein Erinnerungssturm überfiel meine Gedanken.“ Zigaretten werden „gequalmt“, das Hochzeitsfest der Eltern ist eine „Fete“. Die Namen der Figuren stammen noch sichtlich aus der Binnenperspektive: Opa Willy, Onkel Ralf, Mama und Papa.
Die Prosa liest sich über weite Strecken wie die Zeugenaussage eines traumatisierten Kindes, das sich alle Mühe gibt, einer imaginären Jury gegenüber die Vorkommnisse aus Kaiserslautern wiederzugeben, dabei aber gleichzeitig allen Beteiligten gerecht zu werden und niemanden zu denunzieren. Mit gepresster Stimme erzählt er eins nach dem anderen: „Mein Vater zog einen Turnschuh aus und schlug mit der Sohle voran im Hiebestaumel auf Mama ein, bestimmt vier oder fünf Mal, ehe er eine Pause einlegte, schnaufend die an der verschlissenen Raufasertapete hängenden Bilderrahmen mit Familienfotos betrachtete und mich anblaffte, ich solle den Lärm leiser machen.“ Der Lärm kommt in dieser Szene aus dem Disney-Trickfilm „Cinderella“, den die Kinder gerade sehen.
Die Gewalt ist unerträglich, gleichzeitig kennt die Sehnsucht nach der väterlichen Liebe keine Grenzen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Stimme des Erzählers. Er versucht, umfassend Bericht zu erstatten und nichts auszulassen, was der Wahrheitsfindung dienlich sein könnte, wirbt aber gleichzeitig um Verständnis für seine Eltern, die ihrerseits Opfer gesellschaftlicher Umstände sind. Wer glaubt, er wäre unter ihren Lebensbedingungen – den ständigen Erniedrigungen, der Scham, der Enge, dem Hunger – ein geduldiger, inspirierender Erziehungsberechtigter, der werfe den ersten Stein.
Die spürbare Anstrengung, sich „literarisch“ auszudrücken, um die Geschichten aus Kaiserslautern-Ost in die Sprache der bürgerlichen Öffentlichkeit zu übersetzen, macht die Erzählung gerade deshalb so stark, weil sie die Grundbehauptung des Erzählers, er habe dieses Milieu anhand von Bildung hinter sich gelassen, unterläuft. Der Text widerspricht seinem Autor: Man wird seine Herkunft eben doch nie ganz los. Ralf Rothmann, der von ähnlichen Verhältnissen im Ruhrgebiet erzählte, hatte die verstümmelte Sprache seines Herkunftsmilieus vollkommen abgelegt, bei ihm kam sie nur noch in der Figurenrede vor. Und auch Didier Eribon hatte sich erst zurück nach Reims gewagt, als er sämtliche sprachlichen und habituellen Merkmale, die ihn mit dem Milieu seiner Familie noch in Verbindung hätten bringen können, sorgsam getilgt hatte.
Während Eribon aus der mondänen, gebildeten Welt zurück in die Unterschicht geschaut hat, schaut Christian Baron noch immer aus ihr heraus. Sie spricht durch ihn zu uns. Die soziale Funktion der Sprache spielt in beiden Büchern eine zentrale Rolle: Bei Bjerg hat sich der Erzähler den Dialekt seines Herkunftsmilieus rabiat abtrainiert, bei Baron widerlegt der Soziolekt den Mythos, man könne seine Klasse hinter sich lassen.
Wenn man Barons Buch unbedingt vergleichen möchte, dann am ehesten mit Eribons Schüler Édouard Louis, der ebenfalls in depravierten, gewalttätigen Verhältnissen aufgewachsen ist, wegen seiner Homosexualität regelmäßig zusammengeschlagen und misshandelt wurde, sich schließlich auf die bessere Schule rettete und dessen Romane heute in aller Welt gelesen werden. Kurz vor Schluss fragt Baron: „Wer oder was hat meinen Vater umgebracht?“, als würde er direkt den Titel von Louis’ jüngstem Buch zitieren: „Qui a tué mon père?“ Auch Bov Bjerg spielt an einer Stelle auf Édouard Louis an, als sich zwei Figuren über dessen Debütroman unterhalten.
Auch das haben die Ich-Erzähler der Bücher miteinander gemein: Sie sind ihren Herkunftsmilieus entkommen, weil sie es auf die Universität geschafft haben und akademische Berufe ergreifen konnten. Bov Bjergs Erzähler ist Soziologe, Christian Baron Redakteur bei der Berliner Wochenzeitung Der Freitag. Und beide kommen mit den inneren und äußeren Konflikten, die diese soziale Umpflanzung mit sich bringt, schlecht zurecht.
Baron wird von seiner Familie regelmäßig der Mund verboten, weil er als Studierter von ihrem Leben nichts verstehe. Bjergs Erzähler wird von einer Klassenscham geplagt, die in beide Richtungen wirkt, nach oben und nach unten. Gegenüber seiner Familie fühlt er sich minderwertig, denn: „Ich hatte nie gearbeitet, immer nur gelesen, geschrieben, gedacht, gelabert.“ Und seinen exaltiertesten Nervenzusammenbruch hat er auf einer Gartenparty im wohlhabenden Südwesten Berlins, zu der ihn seine Frau mitgenommen hat, eine hoch bezahlte Anwältin. Milieuwechsel bedeuten Stress. Den Umgang mit den Fachkollegen erlebt Bjergs Erzähler so: „Jede Begegnung, die nicht strikt fachbezogen war, geriet zu einem mündlichen Examen. Was der Gegenstand der Prüfung war, erriet ich bis zum Schluss nicht.“
Auch dies ein Paradox: Obwohl sich die sozialdemokratische Aufstiegshoffnung in beiden Fällen bestens erfüllt hat, herrscht doch ein Gefühl der Ausgrenzung. In einem Essay im Harper’s Magazine aus dem Jahr 1941 hat die amerikanische Journalistin Dorothy Thompson dieses Verhältnis für den Aufstieg des Nazismus verantwortlich gemacht. Sie porträtiert dort einen Bildungsaufsteiger, der zum Menschenfeind wird, weil er nirgendwo mehr wirklich zu Hause ist. Dieser Aufsteiger, schreibt Thompson, sei „das Produkt einer Demokratie, die heuchlerisch soziale Gleichheit predigt und achtlos einen brutalen Snobismus praktiziert“.
Bov Bjerg: Serpentinen. Roman. Claassen, Berlin 2020. 272 Seiten, 22 Euro.
Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse. Claassen, Berlin 2020. 288 Seiten, 20 Euro.
Der Text widerspricht seinem
Autor: Ganz wird man die
Herkunft eben doch nie los
„Ich hatte nie gearbeitet,
immer nur gelesen, geschrieben,
gedacht, gelabert.“
Christian Baron (links) und Bov Bjerg sind ihren Herkunftsmilieus entkommen und erzählen vom damit verbundenen Stress.
Fotos: Hans Scherhaufer; Gerald von Foris
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" Ein analytisch angewandter Existenzialismus als philosophische Richtschnur, dem man dringend ein Revival wünscht." Matthias Ehlert Die Zeit 20200213