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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Ulenspiegel
  • 1., Aufl.
  • Erscheinungstermin: 25. Februar 2010
  • Deutsch
  • Gewicht: 810g
  • ISBN-13: 9783932655395
  • ISBN-10: 3932655397
  • Artikelnr.: 29938999
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2010

Selbsternannter Wandersmann
Nach Syrakus: Neues zu Johann Gottfried Seume

Von Tilman Spreckelsen

Welch ein Geist, welch ein Herz, welch ein Charakter, ist mit diesem seltnen Mann aus der Welt verschwunden", notiert Christoph Martin Wieland im Juni 1810, als er die Nachricht vom Tod Johann Gottfried Seumes erhalten hatte: "Die Menschheit hat an ihm eine ihrer größten u. leider! unerkannten Zierden verloren!" Wer heute, abgesehen von Spezialisten, etwas mit dem Namen Seumes anfangen kann, der kennt ihn als Fußreisenden von Grimma nach Syrakus, als den Autor, der zu Goethes olympischer "Italienischer Reise" ein proletarisches Gegenstück schrieb, Humanist genug, um unbedingt Theokrit in dessen Heimatstadt Syrakus (und im Original) lesen zu wollen, und der sich unter Strauchdieben ostentativ nicht weniger wohl fühlte als unter Edelleuten.

Dass der 1763 geborene Seume unter die Soldaten gepresst und nach Amerika verschifft wurde, dass er zweimal desertierte, in russischen Diensten den polnischen Aufstand von 1794 miterlebte, als Korrektor des Verlegers Göschen Texte von Wieland, Klopstock und Thümmel in den Druck beförderte, mit Schiller und Wieland ein kurzlebiges "Journal für deutsche Frauen" herausgab und 1805 durch Nordeuropa reiste - all dies wird im Bewusstsein der Nachwelt wie schon der Zeitgenossen von seinem "Spaziergang nach Syrakus" überschattet.

Wie hartnäckig Seume selbst dafür gesorgt hat, zeigt ein Band des Germanisten Dirk Sangmeister zum morgigen zweihundertsten Todestag Seumes. Das Buch enthält neben sieben Aufsätzen auch eine Fülle von Dokumenten, schwer zugänglichen Texten und mühsam zusammengetragenen Spezialbibliographien. Allein die Kärrnerarbeit, die in der Bereitstellung der in der Universitätsbibliothek Tartu aufbewahrten Briefe und Tagebücher von Seumes Bekannten Karl Morgenstern besteht, die ein willkommenes Gegenstück zu Seumes eigener Schilderung seiner nordeuropäischen Reise liefern, macht den Band unverzichtbar für die Seume-Forschung. Sympathie, gepaart mit Skepsis - so könnte man die Haltung bezeichnen, die Sangmeister gegenüber seinem Gegenstand einnimmt. Was immer Seume zur eigenen Biographie äußert, bleibt nicht ungeprüft, und noch die randständigste Nebenfigur dieses Lebenswegs wird in ausufernden Fußnoten biographisch dargestellt. So erinnert der Band an ein Werk, dem schon der Titel seine Reverenz erweist: "Seume und einige seiner Zeitgenossen" spielt auf Arno Schmidts faktenreiche Darstellung "Fouqué und einige seiner Zeitgenossen" an (die wiederum auf Wielands "Aristipp" verweist).

Erfreulicherweise bleibt diese Erforschung der Realien, die Publikation der Quellen und Dokumente kein Selbstzweck: Sangmeister dekonstruiert das Bild, das Seume von sich entwirft, um damit den Blick für den Literaten Seume zu schärfen und so in der vorgeblichen Wahrheit die Dichtung zu entdecken. Er beweist ein gutes Auge für die Inszenierung Seumes als proletarischer Wandersmann, und er belegt seine Urteile mit staunenswerter Belesenheit, die sich noch auf die letzte zeitgenössische Reisebeschreibung erstreckt und dabei den Hintergrund ausleuchtet, vor dem der "Spaziergang nach Syrakus" erscheint. So rechnet Sangmeister nach, dass Seume weite Teile seiner Reise, insgesamt etwa 2000 Kilometer, mit Kutsche oder Schiff zurücklegt, dies aber systematisch herunterspielt. Der Autor, resümiert Sangmeister, hat "einen Bericht geschrieben, der ganz konsequent (und mit beträchtlichem schriftstellerischen Geschick) die Grundidee einer Fußwanderung nach Sizilien und zurück vom Titelblatt bis zur letzten Seite zum Grundthema und Leitfaden seines Buches gemacht hat". Und der damit - dem Diskurs seiner Zeit folgend - eine Authentizität für seinen Text beansprucht, die durch andere, bequemere und schnellere Reiseformen eben nicht erreichbar sei. Dass dieser Anspruch weder bei Seume noch bei ähnlich argumentierenden Zeitgenossen eingelöst wird, zeigt Sangmeister auch.

Wie glänzend Seume aber die damit erkaufte literarische Freiheit nutzt, lässt sich in Heide Hollmers neuem Seume-Lesebuch erfahren: Sie löst aus dem Gesamtwerk des Autors Passagen von großer Schönheit, etwa die berühmte Schilderung der Ätna-Beschreibung, und wirbt damit um ein Publikum, das neben dem Dokumentarischen auch an dem interessiert ist, was Seumes Stil ausmacht. Selbstinszenierung ist da kein Makel, sondern ein fruchtbringendes Verfahren. Und das Ergebnis ist eine spannungsreiche, gediegene Prosa, die sich neben dem Besten behaupten kann, was um 1800 in diesem Genre geschrieben wurde.

Dirk Sangmeister: "Seume und einige seiner Zeitgenossen". Ulenspiegel Verlag, Erfurt 2010. 576 S., br., 42,- [Euro].

Johann Gottfried Seume: "Aus meiner Welt". Zusammengestellt von Heide Hollmer. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010. 207 S., br., 8,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eingenommen ist Rezensent Tilman Spreckelsen von diesem Band über Johann Gottfried Seume, den Dirk Sangmeister zum zweihundertsten Todestag des Schriftstellers vorgelegt hat. Er bescheinigt dem Germanisten, seinem Gegenstand mit der richtigen Mischung aus Sympathie und Skepsis zu begegnen und den Blick für den Literaten Seume zu schärfen. So wird für Spreckelsen zum Beispiel auch deutlich, wie sich Seume in seinem berühmten "Spaziergang nach Syrakus" als "proletarischer Wandersmann" inszenierte. Neben sieben Aufsätzen bietet der Band nach Auskunft des Rezensenten eine Vielzahl von Dokumenten, schwer zugänglichen Texten und Spezialbibliografien, die ihn für die Seume-Forschung schlicht "unverzichtbar" machen.

© Perlentaucher Medien GmbH