In diesem Herbste war Severin dreiundzwanzig Jahre alt geworden. Wenn er des Nachmittags, von quälender Bureauarbeit zerrüttet, nach Hause kam, warf er sich auf das schwarzlederne Sofa in seiner Kammer und schlief bis zum Abend. Erst wenn draußen die Laternen angezündet wurden, ging er auf die Gasse. Nur im Sommer, wenn die Tage lang und glühend waren, fand er noch die Sonne auf seinen Wegen durch die Stadt. Oder auch an den Sonntagen, wo der ganze Tag ihm gehörte und er auf seinen Wanderungen seiner kurzen Studentenzeit gedachte. Severin hatte nach zwei oder drei Semestern seine Studien…mehr
In diesem Herbste war Severin dreiundzwanzig Jahre alt geworden. Wenn er des Nachmittags, von quälender Bureauarbeit zerrüttet, nach Hause kam, warf er sich auf das schwarzlederne Sofa in seiner Kammer und schlief bis zum Abend. Erst wenn draußen die Laternen angezündet wurden, ging er auf die Gasse. Nur im Sommer, wenn die Tage lang und glühend waren, fand er noch die Sonne auf seinen Wegen durch die Stadt. Oder auch an den Sonntagen, wo der ganze Tag ihm gehörte und er auf seinen Wanderungen seiner kurzen Studentenzeit gedachte. Severin hatte nach zwei oder drei Semestern seine Studien aufgegeben und eine Stellung angenommen. Nun saß er während der Vormittage in dem häßlichen Bureau und hielt sein kränkliches und bartloses Bubengesicht über die Zahlenreihen gebeugt. Ein ungesunder und nervöser Mißmut kroch mit der Zimmerkälte durch seinen Körper und dann wurde auch die Unruhe in ihm wach. Das einförmige Gleichmaß machte seine Hände zittern. Eine lästige Müdigkeit bohrte in seinen Schläfen und er drückte mit den Fingern die Augäpfel in den Kopf bis sie schmerzten.Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Paul Leppin entstammte ärmlichen Verhältnissen. Zwar besuchte er das Gymnasium bis zur Matura, war danach jedoch gezwungen, eine Stelle bei der Prager Post- und Telegrafendirektion anzunehmen. Er war bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung im Jahre 1928 als Beamter tätig. Neben dieser bürgerlichen Existenz begann er früh mit dem Schreiben. Um die Jahrhundertwende galt Leppin, der u. a. mit Victor Hadwiger, Gustav Meyrink, Richard Dehmel und Else Lasker-Schüler befreundet war, als einer der Protagonisten der literarischen Bewegung ¿Jung-Prag¿ und pflegte auch enge Beziehungen zu tschechischen Autoren. Nach dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei im Jahre 1939 wurde er von der Gestapo verhaftet und erlitt nach der Freilassung einen Schlaganfall. Leppin starb an den Spätfolgen einer Syphilis-Erkrankung. Leppins literarisches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Seine exzentrischen Prosawerke erzielten häufig wegen ihrer freizügigen Behandlung erotischer Themen Skandalerfolge; in seiner späten Lyrik, in der er sich vor allem mit seiner Heimatstadt Prag beschäftigt, fand der Autor hingegen zu einem ausgeglicheneren und melancholischen Ton.
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