Sigmund Freuds Sexualtheorie ist inzwischen mehr als 100 Jahre alt. Seitdem hat sich viel verändert. Wir denken und arbeiten heute nicht nur anders, wir begehren und lieben auch anders. Die Sexualität ist nicht mehr die große Metapher des Rausches und der Revolution. Sie wird heute durch Medien und Kommerz weitgehend banalisiert. Vor diesem Hintergrund legt der große Sexualforscher Volkmar Sigusch mit diesem Buch eine eigene Sexualtheorie vor, die erstmals auch die Neosexualitäten unserer Zeit wie Internet-, Portal- und Asexualität umfasst, Neogeschlechter wie Trans-, Inter- und Agender sowie Neoallianzen wie Polyamorie und Objektophilie. Selbstverständlich werden auch die alten Formen wie Hetero-, Homo- und Bisexualität, Sadomasochismus und Pädophilie erörtert.
Der Kern der Sigusch-Theorie lautet: Keine Sexualität eines Menschen ist mit der eines anderen identisch. Weil das Sexuelle sich der Systematisierung entzieht, kann darüber theoretisch nur in Fragmenten gesprochen werden. Und weil sich eine Sexualtheorie nur durch Praxis erhellt, geht Sigusch auf die gelebte Sexualität der Kinder, der Jugendlichen, der Paare, der Alten und vieler anderer ein - kritisch und konkret.
Der Kern der Sigusch-Theorie lautet: Keine Sexualität eines Menschen ist mit der eines anderen identisch. Weil das Sexuelle sich der Systematisierung entzieht, kann darüber theoretisch nur in Fragmenten gesprochen werden. Und weil sich eine Sexualtheorie nur durch Praxis erhellt, geht Sigusch auf die gelebte Sexualität der Kinder, der Jugendlichen, der Paare, der Alten und vieler anderer ein - kritisch und konkret.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2013Paläosodomiten haben wenigstens keine Mission
Einfache Homosexualität ist altbacken, aber Zissexualität und Neozoophilie sind ja auch noch im Angebot: Volkmar Sigusch sammelt Varianten sexuellen Pläsiers und hat zum Sexus nicht viel zu sagen.
Die ostentative Skepsis gegenüber dem Allgemeinbegriff, früher dem Poststrukturalismus vorbehalten, ist im Wissenschaftsbetrieb mittlerweile zur Norm geworden. Kaum ein kulturwissenschaftliches Symposion kommt ohne den Offenheit suggerierenden Plural aus: Dass es kulturelle und religiöse Identität nur in der Mehrzahl und statt "Politik" nur bunt koexistierende "Politiken" gibt, gehört schon zum Allgemeingut. Volkmar Sigusch, bis 2006 Direktor des von ihm mitbegründeten ehemaligen Instituts für Sexualwissenschaft an der Frankfurter Goethe-Universität, hat den Vielfältigkeiten eine weitere hinzugefügt: die "Sexualitäten".
In seiner gleichnamigen Studie, die eine "Bilanz" der fünfzig Jahre seiner wissenschaftlichen Arbeit verspricht, begründet Sigusch die Abkehr von der freudschen Sexualtheorie hin zu einer Theorie der "Sexualitäten" damit, dass "die menschliche Sexualität nichts ist, was seit Jahrtausenden unverändert wäre". Die "Umcodierung und Umwertung der alten Geschlechts-, Liebes- und Sexualformen" durch die "sexuellen Revolutionen" im zwanzigsten Jahrhundert (auch von ihr gab es mehrere) erfordere ein Umdenken: "Allein die technologische, kulturelle und personale Trennung der Fortpflanzungssphäre von der Sexualsphäre hat die alten Theorien entwertet." Anders als Freud, dem die Geburt seiner Sexualtheorie aus dem Geist des westeuropäischen Bürgertums nie zum Problem geworden sei, stellt Sigusch scheinbar bescheiden klar, dass er "als ein weißer Mann aus Westeuropa" spreche und überzeugt sei, "dass ,unsere' Sexualität als kulturell-gesellschaftliche Form nur in Europa und Nordamerika existiert".
Dass Freud selbst sich der Historizität seines Gegenstands durchaus bewusst war, aber eben weniger nach dem Wandel der Sexualität als nach dem gefragt hat, was sich dabei wandelt, wird dabei vergessen. Gesellschaft, Kultur und Technologie mögen den Sexus bis tief in das, was jeweils als seine Natur begriffen wird, transformieren; sie könnten ihre Wirkung nicht entfalten ohne einen Gegenstand, der als ihr veränderliches, widersprüchliches Objekt erhalten bleibt.
Zwar konzediert Sigusch: "Alle Sphären des Sexuellen, von der großen Liebe bis zum perversen Triebdurchbruch, bilden eine Einheit: die des ungelösten Widerspruchs." Das aber bleibt in seiner Studie eine bloße Behauptung. Was sich im Untertitel "Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten" nennt, ist tatsächlich eher additiv als fragmentarisch strukturiert. Die unsystematische Darstellung zielt nicht auf eine Ganzheit, die sich nur exemplarisch veranschaulichen lässt, sondern kapituliert vor der scheinbaren Vielfalt des Objekts.
Aber trifft der Eindruck von der Unübersichtlichkeit der "Sexualitäten" im 21. Jahrhundert überhaupt zu? Siguschs Darstellung selbst legt eher die Vermutung nahe, dass die Tendenz zur Pluralisierung sexueller Praktiken und Beziehungsformen die Vergleichgültigung des Sexuellen spiegelt. Seine Aufzählung der "Paläo- und Neosexualitäten", der überholten und angeblich neuen Formen sexueller Interaktion, macht das deutlich.
In mehr als 60 Paragraphen erläutert er Termini wie "Zissexualität", "Objektophilie", "Shopsex", "E-Sex" und "Neozoophilie". "Zissexuelle" sind demnach Menschen, bei denen "Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität scheinbar neutral zusammenfallen", also heterosexuelle Männer und Frauen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht auch sozial identifizieren; "Objektophile" hegen fetischistisches Interesse an Gegenständen; "Neozoophile" wollen "sodomitische Lebenspartnerschaften" institutionalisieren lassen, verfolgen also im Gegensatz zu "Paläosodomiten" eine soziale Mission; "Shopsex" ist die "warenästhetische Indienstnahme des Erotischen", "E-Sex" die durch elektronische Medien vermittelte Sexualität. Außerdem kennt Sigusch "Asexualität", "Portalsex", "Polyamory", "Lean Sexuality", "Prothesensex" und viele weitere Erscheinungsformen von Sexualität. Simple Homosexualität gehört für ihn bereits zum erotischen Altertum.
Man muss die Herkunft von Sigusch aus dem Freudomarxismus in Betracht ziehen, um zu verstehen, warum er den Sexus als widersprüchliche Einheit nicht auf den Begriff bringen kann. Spiegelt sich in seinen die randständigsten Spezialitäten erfassenden Klassifikationen doch die totale Vergesellschaftung des Sexuellen, über die er selbst kein Wort mehr verliert. Erotisches Interesse an Tieren, Sadomasochismus und verwandte Phänomene mögen früher stärker als heute stigmatisiert worden sein - als Ausweis sozialer Identität wurden sie nicht in Dienst genommen. Heute aber gelten solche Neigungen nicht als abgründige oder verständliche, reizvolle oder obskure Facetten der privaten Person, sondern als essentieller Bestandteil der sozialen Identität und Gegenstand öffentlicher Erörterung.
Insofern ist der Zwang, für jede sexuelle Lust eigene Begriffe zu finden, identitärer als der Rekurs auf Sexualität als Allgemeinbegriff. Wie es um die Sexualität im Zeitalter des Multiple-Choice-Pluralismus steht, da die Menschen sie zunehmend als Resultat von Wahlentscheidungen wahrnehmen, darüber erfährt man bei Sigusch wenig. Zumindest drängt sich der Verdacht auf, dass die sich vervielfältigende und spezialisierende Rede über "Sexualitäten" ein beklommenes Schweigen über den Sexus übertönt.
MAGNUS KLAUE
Volkmar Sigusch: "Sexualitäten". Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten.
Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2013. 628 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einfache Homosexualität ist altbacken, aber Zissexualität und Neozoophilie sind ja auch noch im Angebot: Volkmar Sigusch sammelt Varianten sexuellen Pläsiers und hat zum Sexus nicht viel zu sagen.
Die ostentative Skepsis gegenüber dem Allgemeinbegriff, früher dem Poststrukturalismus vorbehalten, ist im Wissenschaftsbetrieb mittlerweile zur Norm geworden. Kaum ein kulturwissenschaftliches Symposion kommt ohne den Offenheit suggerierenden Plural aus: Dass es kulturelle und religiöse Identität nur in der Mehrzahl und statt "Politik" nur bunt koexistierende "Politiken" gibt, gehört schon zum Allgemeingut. Volkmar Sigusch, bis 2006 Direktor des von ihm mitbegründeten ehemaligen Instituts für Sexualwissenschaft an der Frankfurter Goethe-Universität, hat den Vielfältigkeiten eine weitere hinzugefügt: die "Sexualitäten".
In seiner gleichnamigen Studie, die eine "Bilanz" der fünfzig Jahre seiner wissenschaftlichen Arbeit verspricht, begründet Sigusch die Abkehr von der freudschen Sexualtheorie hin zu einer Theorie der "Sexualitäten" damit, dass "die menschliche Sexualität nichts ist, was seit Jahrtausenden unverändert wäre". Die "Umcodierung und Umwertung der alten Geschlechts-, Liebes- und Sexualformen" durch die "sexuellen Revolutionen" im zwanzigsten Jahrhundert (auch von ihr gab es mehrere) erfordere ein Umdenken: "Allein die technologische, kulturelle und personale Trennung der Fortpflanzungssphäre von der Sexualsphäre hat die alten Theorien entwertet." Anders als Freud, dem die Geburt seiner Sexualtheorie aus dem Geist des westeuropäischen Bürgertums nie zum Problem geworden sei, stellt Sigusch scheinbar bescheiden klar, dass er "als ein weißer Mann aus Westeuropa" spreche und überzeugt sei, "dass ,unsere' Sexualität als kulturell-gesellschaftliche Form nur in Europa und Nordamerika existiert".
Dass Freud selbst sich der Historizität seines Gegenstands durchaus bewusst war, aber eben weniger nach dem Wandel der Sexualität als nach dem gefragt hat, was sich dabei wandelt, wird dabei vergessen. Gesellschaft, Kultur und Technologie mögen den Sexus bis tief in das, was jeweils als seine Natur begriffen wird, transformieren; sie könnten ihre Wirkung nicht entfalten ohne einen Gegenstand, der als ihr veränderliches, widersprüchliches Objekt erhalten bleibt.
Zwar konzediert Sigusch: "Alle Sphären des Sexuellen, von der großen Liebe bis zum perversen Triebdurchbruch, bilden eine Einheit: die des ungelösten Widerspruchs." Das aber bleibt in seiner Studie eine bloße Behauptung. Was sich im Untertitel "Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten" nennt, ist tatsächlich eher additiv als fragmentarisch strukturiert. Die unsystematische Darstellung zielt nicht auf eine Ganzheit, die sich nur exemplarisch veranschaulichen lässt, sondern kapituliert vor der scheinbaren Vielfalt des Objekts.
Aber trifft der Eindruck von der Unübersichtlichkeit der "Sexualitäten" im 21. Jahrhundert überhaupt zu? Siguschs Darstellung selbst legt eher die Vermutung nahe, dass die Tendenz zur Pluralisierung sexueller Praktiken und Beziehungsformen die Vergleichgültigung des Sexuellen spiegelt. Seine Aufzählung der "Paläo- und Neosexualitäten", der überholten und angeblich neuen Formen sexueller Interaktion, macht das deutlich.
In mehr als 60 Paragraphen erläutert er Termini wie "Zissexualität", "Objektophilie", "Shopsex", "E-Sex" und "Neozoophilie". "Zissexuelle" sind demnach Menschen, bei denen "Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität scheinbar neutral zusammenfallen", also heterosexuelle Männer und Frauen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht auch sozial identifizieren; "Objektophile" hegen fetischistisches Interesse an Gegenständen; "Neozoophile" wollen "sodomitische Lebenspartnerschaften" institutionalisieren lassen, verfolgen also im Gegensatz zu "Paläosodomiten" eine soziale Mission; "Shopsex" ist die "warenästhetische Indienstnahme des Erotischen", "E-Sex" die durch elektronische Medien vermittelte Sexualität. Außerdem kennt Sigusch "Asexualität", "Portalsex", "Polyamory", "Lean Sexuality", "Prothesensex" und viele weitere Erscheinungsformen von Sexualität. Simple Homosexualität gehört für ihn bereits zum erotischen Altertum.
Man muss die Herkunft von Sigusch aus dem Freudomarxismus in Betracht ziehen, um zu verstehen, warum er den Sexus als widersprüchliche Einheit nicht auf den Begriff bringen kann. Spiegelt sich in seinen die randständigsten Spezialitäten erfassenden Klassifikationen doch die totale Vergesellschaftung des Sexuellen, über die er selbst kein Wort mehr verliert. Erotisches Interesse an Tieren, Sadomasochismus und verwandte Phänomene mögen früher stärker als heute stigmatisiert worden sein - als Ausweis sozialer Identität wurden sie nicht in Dienst genommen. Heute aber gelten solche Neigungen nicht als abgründige oder verständliche, reizvolle oder obskure Facetten der privaten Person, sondern als essentieller Bestandteil der sozialen Identität und Gegenstand öffentlicher Erörterung.
Insofern ist der Zwang, für jede sexuelle Lust eigene Begriffe zu finden, identitärer als der Rekurs auf Sexualität als Allgemeinbegriff. Wie es um die Sexualität im Zeitalter des Multiple-Choice-Pluralismus steht, da die Menschen sie zunehmend als Resultat von Wahlentscheidungen wahrnehmen, darüber erfährt man bei Sigusch wenig. Zumindest drängt sich der Verdacht auf, dass die sich vervielfältigende und spezialisierende Rede über "Sexualitäten" ein beklommenes Schweigen über den Sexus übertönt.
MAGNUS KLAUE
Volkmar Sigusch: "Sexualitäten". Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten.
Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2013. 628 S., geb., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Es lebe die individuelle Sexualität! Mit dem Autor, dem umtriebigen Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, freut sich Volker Breidecker nach fordernder Lektüre über dieses Fazit. Zuvor hat ihm der Autor markig und wissend die "Sache mit dem Sex", die Vielfalt der Sexualpraktiken im Neoliberalismus auseinandergesetzt, ihm von Fakesexerinnen, Objektsexuellen und Neozoophilen berichtet und auch von gewöhnlichen Normopathen. Das Wagnis, nach Freud noch einmal eine Sexualtheorie in Angriff zu nehmen, findet Breidecker mutig, zumal der Autor auch das Fantastische, Widerständige und Faule des Sexuellen inkludiert. Dass es dem Autor Ernst ist, erkennt der Rezensent spätestens bei dessen Verhandlung der Missbrauchsdiskurses.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Volkmar Sigusch, Doyen der europäischen Sexualforschung, klärt uns restlos auf.", Profil, 10.02.2014 "Der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch zieht Bilanz ... Hier wird Einspruch erhoben gegen Optimierungswahn und den Vormarsch der Prothesen." Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung, 08.01.2014 "Siguschs Wissenschaftsprosa hat literarische Qualitäten, dank seiner Vorliebe für eine metaphorisch-lebendige Sprache.", Neue Zürcher Zeitung, 05.10.2013