Produktdetails
  • Verlag: Psychiatrie Verlag
  • 2. Auflage
  • Deutsch
  • ISBN-13: 9783884142844
  • ISBN-10: 3884142844
  • Artikelnr.: 07126357
Autorenporträt
Prof. Dr. med. Andreas Marneros, Jahrgang 1946, Prof. Dr. med., 1983 Prof. f. Klinische Psychiatrie an der Uni Köln, seit 1992 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Schwerpunkte: Klinische Psychiatrie, Psychoseforschung, Forensische Psychiatrie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.1998

Der Mörderdolch in meiner Hand
Weil in jedem Menschen ein Gewalttäter steckt

"Ich zum Beispiel war sehr unzufrieden, weil ich nie vergewaltigt worden bin." Wie weit kann literarische Freiheit gehen? Ist es die ironische Bedienung eines verbreiteten Vorurteils oder die ehrliche Preisgabe von Frauenphantasien, die Ingeborg Bachmann in dem Roman "Malina" ihrer Ich-Erzählerin in den Mund legt? Phantasien sind leichtsinnig, spielerisch, lassen das Letzte zu, die Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod - weil sie ungefährlich sind. Wirklich? Wie schmal der Grat oft ist, den die Phantasie, durch scheinbar kleine Auslöser gereizt, überspringen kann, um gewaltsam in die Realität einzubrechen, zeigt das breite Spektrum der Kriminalität in jeder Gesellschaft. Die Grenzen zwischen legal und illegal sind hauchdünn. Am Anfang war die Phantasie. Ob bei Diebstahl, Raub, Körperverletzung, sexuellem Mißbrauch oder Tötungsdelikten bis hin zum Sexualmord - bei allen geplanten Verbrechen bilden Phantasien die Vorläufer.

"Schon mit zehn Jahren kamen mir Gedanken, ein Kind zu fangen, zu zerstückeln und sein Fleisch zu essen." Mit diesem Zitat von Anton, der mit fünfundzwanzig Jahren seine Kindheitsphantasie in die Realität umsetzte, beginnt Andreas Marneros, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie und Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik Halle-Wittenberg, seine "erklärende Erzählung" über 26 Sexualmörder von A wie Anton bis Z wie Zacharias. Ein in vieler Hinsicht ungewöhnliches Buch. Da verläßt ein erfahrener Kliniker den Elfenbeinturm der Wissenschaft und die Abgeschirmtheit von Gerichtssälen, Gefängnissen und Anstalten und tritt, angewidert von der Sensationslust der Medien, an die Öffentlichkeit, um zu erzählen, wie es wirklich ist.

Das wäre schon Verdienst genug. Aber die besondere Qualität des Buches liegt in seiner Erzählstruktur und in der für jedermann verständlichen Darstellung komplexer medizinisch-psychologischer und kriminologischer Sachverhalte. Marneros beleuchtet die gesellschaftliche Tragödie, indem er aus den Fallbeschreibungen eine umfassende Übersicht des Gesamtthemas entwickelt. Behutsam begleitet der Autor den Leser hinter die Kulisse der aus den Medien bekannten Gewaltszenarien. Er führt ihn in eine Schattenlandschaft von Tätern und Opfern, von Richtern und Anwälten, von Therapeuten und Wächtern, die nach der Sensation der Katastrophe die jahrzehntelange Aufräumarbeit leisten müssen.

Nach der Lektüre weiß man, wie weit das diagnostische Spektrum der Störungen reicht, die das Verbrechen auslösen, wie die Entwicklungsverläufe der Täter bis zum ersten Drama und danach aussehen, welche gesetzlichen Begutachtungskriterien für Fragen der Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit gelten; man kennt den Unterschied zwischen Gefängnisstrafe und Maßregelvollzug und dessen Dilemma zwischen Sicherung der Gemeinschaft und Besserung des Patienten. Marneros spricht offen über Fehleinschätzungen und Irrtümer von psychiatrischen Gutachtern, Richtern und Therapeuten.

Das zentrale Problem, das nie genau einzuschätzen ist, bilden die inneren Bilder des Täters. Sind sie wirklich beseitigt, ist ihre Kraft wenigstens erlahmt, oder entfalten sie erneut ihre destruktive Dynamik, steigern sich zu qualvollen Zwängen, die sich irgendwann in einer pervertierten Eruption von Gewalt und Sexualität entladen? Marneros versucht, ein einfühlendes Verständnis für das innere Verhängnis, den "Seelendschungel" des Täters zu vermitteln, ohne das Entsetzen der Opfer aus dem Auge zu verlieren.

Diese Haltung kann nur jemand gewinnen, der weiß: Phantasien sind frei. Sie gehören, in welchen Extremvariationen auch immer, zur menschlichen Natur. Die Vernichtung des anderen, das "Wegfegen", "Wegradieren", "Auslöschen" ist als archaische Bilderwelt in uns allen. Wie leicht sie zu instrumentalisieren ist, lehren uns die allabendlichen Kriegsnachrichten. Es spricht für die funktionierenden sozialen Haltestrukturen unserer Gesellschaft, wenn bei einer Bevölkerung von achtzig Millionen und einer Kriminalitätsrate von knapp sieben Millionen im Jahr 1995 "nur" 1200 Morde und darunter "nur" vierundzwanzig Sexualmorde zu registrieren waren.

Wo Marneros einem psychoanalytischen Ansatz verpflichtet ist, entwickelt Füllgrabe, Diplompsychologe am Bildungsinstitut der Polizei Niedersachsen, ein aus der Lerntheorie abgeleitetes, behavioristisches Erklärungsmodell kriminellen Verhaltens. Kriminalität ist für ihn Ausdruck einer fehlgeleiteten Erkenntnis zwischenmenschlicher Verhaltensstrategien. In Anlehnung an spieltheoretische Modelle verdeutlicht Füllgrabe die zahlreichen Irrtumswahrscheinlichkeiten bei der Aneignung sozialer Kompetenzen.

Das 1983 in erster Auflage erschienene Buch, jetzt überarbeitet und erweitert neu aufgelegt, referiert zahlreiche amerikanische Untersuchungen aus den sechziger und siebziger Jahren, wie es Anfang der achtziger Jahre in Ermangelung deutscher Studien üblich war. Wegen des rapiden Wandels beider Gesellschaften haben diese Untersuchungen zur Erfassung der Situation in Deutschland nur noch begrenzten Aussagewert. Psychologie, Psychiatrie, Psychoanalyse, Medizin und Sozialwissenschaften stritten vor zwei Jahrzehnten heftig über die Deutungshoheit bei kriminellen Entwicklungen und ihrer präventiven und therapeutischen Beeinflussung. Von diesen inzwischen überwundenen Kämpfen ist das Buch leider noch stark geprägt. Dennoch enthält es zahlreiche theoretische und praktische Anregungen zum Verständnis von Kriminalitätsformen und Therapiekonzepten. HORST PETRI

Andreas Marneros: "Sexualmörder". Eine erklärende Erzählung. Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie-Verlag, Bonn 1997. 288 S., geb., 38,- DM.

Uwe Füllgrabe: "Kriminalpsychologie". Täter und Opfer im Spiel des Lebens. Edition Wötzel, Frankfurt am Main 1997. 502 S., geb., 39,80 DM.

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