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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2003

Sexus

The Rosy Crucifixion" heißt die Trilogie, deren berüchtigtster, verfemtester, also bekanntester Teil "Sexus" (1949) ist. Im Gegensatz zu den Nachfolgebänden "Plexus" (1953) und "Nexus" (1960) war "Sexus" lange verboten. Die deutsche Erstausgabe erschien 1970, die amerikanische erst 1987. Doch im Untergrund blieb der Skandalroman weder unbemerkt noch ungelesen. Henry Miller, der angeblich "obszönste Schriftsteller der Weltliteratur" (Herbert Read), konnte nicht schreiben, ohne von sich zu erzählen; auch "Sexus" ist von radikaler, abstoßender Ich-Bezogenheit. Geschrieben 1945, beschreibt der Roman Henrys Leben im New York der zwanziger Jahre, ein Leben zwischen Büchern und Betten, wie es sich zwischen Henry Miller und seiner damaligen Amour fou, der Tänzerin June Smith, die später seine zweite Frau wurde, so oder ähnlich abgespielt haben mag. Die autobiographischen Bezüge nur notdürftig verhüllend, erzählt "Sexus" Millers Erlebnisse der Jahre 1923-27, als er für die "Western Union Telegraph Company" arbeitete. In dieser Zeit unternahm er erste Schreibversuche. Die Ablehnung, auf die er stieß, machte ihn nur selbstsicherer und hemmungsloser. Miller begriff Schreiben und Sexualität als die einzigen Elementarmächte, mit Hilfe derer sich die lebensfeindliche Einstellung der puritanischen amerikanischen Gesellschaft ertragen und ketzerisch karikieren ließ. Wie von einem Zufallsgenerator gesteuert, schläft der Ich-Erzähler Henry mit allen, die seinen Weg kreuzen; Körper kollidieren in "Sexus" so beiläufig wie Motten im Schein einer Lampe. In diesem Garten der Lüste regiert der Sexus, den Miller in seiner gargantuesken Lebensgier zu personifizieren meint: ein typischer Fall von männlicher Selbstüberschätzung. Die geballte Ladung Sex wirkt in ihrer endlosen Wiederholung heute eher angestrengt als verrucht. Dennoch war Miller seiner Zeit voraus, denn Henry, der in seiner ekstatischen Monomanie längst völlig erkaltet ist, dieser arrogante Beobachter anderer und anmaßende Bewunderer seiner selbst, ist ganz und gar aus unserer Welt. Und dann ist da noch jene riesige Sprachhalde eines Romans, wo sich zwischen dem Müll immer noch erstaunliche Funde machen lassen: "Von den nahe gelegenen Fabriken und Krankenhäusern kam der einschmeichelnde Duft ausströmender Chemikalien, von in Pipi getränktem Haar, von nutzlosen, lebendig herausgerissenen Organen, die man langsam eine Ewigkeit lang in verschlossenen, mit großer Sorgfalt und Ehrfurcht etikettierten Gefäßen verfaulen ließ." In "Sexus" vermaß Miller New York, gab der Stadt ein Gesicht, dessen Fratzenhaftigkeit seine Schönheit nicht verdecken konnte: "Gehe irgendeine Straße in dem sanften violetten Licht hinunter. Mache dich gedankenleer. Tausend Wahrnehmungen bestürmen dich sofort aus jeder Richtung. Hier ist der Mensch noch mit Fell und Gefieder versehen. Hier sprechen noch Zyste und Quarz." Miller-Freund Lawrence Durrell fand trotzdem, Teile von "Sexus" seien wirklich "ganz haarsträubend", und Miller selbst bekannte später: "Vielleicht habe ich einem Monstrum das Leben gegeben." Trotzdem verleiht der Roman einer verschlissenen, abgestumpften Wirklichkeit bis heute die Aura einer hochstilisierten, künstlichen Ordnung.

Felicitas von Lovenberg.

Henry Miller: "Sexus". Roman. Rowohlt Taschenbuch 2002. 688 Seiten. 9,90 [Euro].

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