Während Shakespeare unvergängliche Werke wie Romeo und Julia, Hamlet, Othello oder König Lear schrieb, ging die Welt durch ein Zeitalter tiefgreifender Veränderungen. Seit der Entdeckung Amerikas hatten sich die Horizonte Europas dramatisch erweitert. Ein ganzes Weltbild geriet ins Wanken. Neil MacGregor führt uns anhand von zwanzig Objekten mitten hinein in diese Zeit - und hinein in die Stücke Shakespeares.
Ob er uns das Schwert eines Edelmanns oder die Wollmütze eines Handwerksburschen, einen Glaskelch aus Venedig oder Münzen aus Marrakesch vorstellt - immer weiß er eines der Themen zu illuminieren, die Shakespeares Zeitalter prägten: die Globalisierung, die Glaubenskämpfe, die Pest, der Islam, die Magie - und uns zugleich vertraut zu machen mit einem der aufregendsten Dichter der Weltliteratur. Das Resultat ist ein hinreißend lebendiges, glänzend geschriebenes und in vielem überraschendes Portrait der gefährlich aufgewühlten Welt von William Shakespeare.
Ob er uns das Schwert eines Edelmanns oder die Wollmütze eines Handwerksburschen, einen Glaskelch aus Venedig oder Münzen aus Marrakesch vorstellt - immer weiß er eines der Themen zu illuminieren, die Shakespeares Zeitalter prägten: die Globalisierung, die Glaubenskämpfe, die Pest, der Islam, die Magie - und uns zugleich vertraut zu machen mit einem der aufregendsten Dichter der Weltliteratur. Das Resultat ist ein hinreißend lebendiges, glänzend geschriebenes und in vielem überraschendes Portrait der gefährlich aufgewühlten Welt von William Shakespeare.
Angetan zeigt sich Stefana Sabin von Neil MacGregors Beschreibung der Zeit Shakespeares anhand von zwanzig Objekten. Dem Autor, Direktor Londoner British Museum, gelingt es zu ihrer Freude, diese Objekte - unter anderem einen schwarzen Spiegel, eine eiserne Gabel von 1587, die Pest-Proklamation von 1603 und so weiter - in Beziehung zu Shakespeares Stücken zu setzen, die die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse widerspiegeln. Das Ganze findet Sabin kurzweilig erzählt und zu einem Gesamtbild der Epoche geformt. Ihr Fazit: eine gekonnte Rekonstruktion von "Shakespeares ruheloser Welt".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2013Rund um die Erde zieh' ich einen Gürtel
Neil MacGregor, Autor der "Geschichte der Welt in 100 Objekten" hat mit "Shakespeares ruheloser Welt" abermals eine faszinierende Lektüre vorgelegt.
Von Hubert Spiegel
Kannte Shakespeare Tabus? Wohl kaum. In seinen Stücken gibt es nichts, was es nicht gibt. Königsmorde und Kannibalismus. Schwarze und weiße Magie. Inzest und Blutschande. Männer, die Männer lieben. Männer, die Frauen lieben, die sie für Männer halten. Eine Frau, die sich nach einem Esel verzehrt. Zerstückelte Leiber. Gequälte Seelen. Da fehlt nichts. Oder doch?
Und was ist mit Irland? Der Mann, der diese Frage stellt, hat vor zwei Jahren mit seiner "Geschichte der Welt in 100 Objekten" einen aufsehenerregenden Bestseller geschrieben: Ein Buch, dass den Versuch unternimmt, die gesamte Menschheitsgeschichte anhand von hundert verschiedenen Objekten abzuhandeln. Hundert Objekte aus einem Zeitraum von zwei Millionen Jahren, allesamt aus den gigantischen Beständen des von ihm geleiteten British Museum stammend, das war die Grundlage für Neil MacGregors Buch. Was seinen überwältigenden Erfolg erst möglich machte, war die Kunst des Autors, seine leblosen Gegenstände zum Sprechen zu bringen.
Dem Buch war die gleichnamige Rundfunkserie in der BBC vorangegangen. Sie elektrisierte und beschäftigte ganz England. Im vorigen Jahr ließ der Museumsdirektor eine neue Serie folgen, die sein Erfolgsmodell auf Shakespeare und die elisabethanische Welt übertrug. Jetzt liegt "Shakespeares ruhelose Welt" auch auf Deutsch vor: eine faszinierende Lektüre, die uns lehrt, den Klassiker mit den Augen seiner Zeitgenossen zu sehen, und ein wunderschön ausgestattetes Buch, das man immer wieder gern in die Hand nehmen wird.
MacGregor stellt uns darin nicht nur die Menschen vor, die damals, im Übergang vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert, Shakespeares Stücke sahen, sondern er zeigt uns die Welt, in der sie lebten. Es war eine Welt im Umbruch. Was diese Welt erschütterte, das ließ auch die Bretter des Globe Theatre erzittern. Shakespeare, wie MacGregor ihn uns zeigt, war ein Dramatiker, dessen Horizont den gesamten Erdball umfasste.
Soeben hatte Francis Drake mit seinem Schiff, der "Golden Hind", als erster Engländer die Welt umsegelt. Wenig später schickt Shakespeare in der "Komödie der Irrungen" einen weiteren Entdeckungsreisenden auf Expeditionsfahrt, den unverschämten Diener Dromio, der den Körper eines armen Dienstmädchens umrunden möchte: "Sie ist kugelförmig wie ein Globus; ich wollte Länder auf ihr entdecken." In den "Lustigen Weibern von Windsor" vergleicht Falstaff zwei hübsche Frauen mit Ost- und Westindien. Er will sie brandschatzen und "nach beiden Handel treiben". Ist das frauenfeindlich? Aus heutiger Sicht schon. Damals war ein anderer Subtext wichtiger. Shakespeare verweist unverhohlen auf den Umstand, dass derartige Entdeckungsreisen immer aus materiellen Gründen und auf gewaltsamem Wege erfolgten. Mit dem Anteil, den Elisabeth I. aus den Erlösen von Drakes Reise erhielt, konnte die Königin ihre jährlichen Einkünfte verdoppeln. Der Gewinn des Konsortiums, das die Reise finanziert hatte, soll bei 4700 Prozent gelegen haben.
Gut zehn Jahre nach Drakes Erdumrundung wurden in London die ersten englischen Globen angefertigt. Sieben Jahre später nennt Shakespeare sein eigenes Theater "Globe". Drakes Reise hatte 1018 Tage gedauert. Im "Sommernachtstraum" zeigt Shakespeare, was sein Theater unter Beschleunigung versteht, wenn er Puck sagen lässt: "Rund um die Erde zieh' ich einen Gürtel / in viermal zehn Minuten". Oberon ergänzt: "Schneller als die Monde kreisen, / können wir die Erd' umkreisen."
Mit der Gedenkmünze für Drakes Reise, die geprägt wurde, als Shakespeares Theaterlaufbahn ihren Anfang nahm, also zu Beginn der achtziger Jahre des sechzehnten Jahrhunderts, lässt MacGregor sein Buch beginnen. Englands Horizont hatte sich erweitert. Der Aufstieg zur Seemacht stand bevor. Noch war England seinen Konkurrenten, Spaniern, Portugiesen, Niederländern und der damaligen Handelsgroßmacht Venedig unterlegen. Von außen bedroht - 1588 wird die Spanische Armada vor Englands Küsten auftauchen - und im Inneren von Glaubenskämpfen geschwächt und zerrissen.
Shakespeares Generation war die erste in England, deren Angehörige zum größeren Teil noch nie in ihrem Leben eine lateinische Messe gehört hatten. Zu den Amtspflichten von John Shakespeare, dem Vater des Dramatikers, der es vom Handschuhmacher zum Ratsmitglied und Bürgermeister brachte, gehörte auch das Ausmerzen katholischer Symbole und Objekte in Stratford. So ließ er die farbigen Glasfenster in der katholischen Kapelle des Gildenhauses durch Klarglas ersetzen, eine Szene der Zerstörung, wie MacGregor schreibt, "die sein damals siebenjähriger Sohn durchaus miterlebt haben könnte".
MacGregor handelt dieses Kapitel anhand des sogenannten "Stratford-Kelches" ab. Das ist ein Kommunionskelch für das protestantische Abendmahl. Dann wendet er sich einer Gabel zu, also einem Luxusgegenstand, wie ihn nur ein junger Adliger im Rose Theatre verloren haben kann, wo er bei Ausgrabungen gefunden wurde. Denn das Theater, das wenige Jahre zuvor noch eine höfische, allein dem Adel vorbehaltene Einrichtung gewesen war, wurde nun zu einem öffentlichen Ort, an dem sich Angehörige aller Stände begegneten, wenngleich die einen in ihren Logen saßen und die anderen vor der Bühne standen, nachdem sie den Eintrittspreis von einem Penny entrichtet hatten.
Während sein Publikum sich fragt, was nach dem Tod seiner kinderlosen Königin Elisabeth I. geschehen würde, lässt Shakespeare die Rosenkriege des fünfzehnten Jahrhunderts wiederauferstehen, um darin die Konflikte und Ängste seiner Zeit zu spiegeln. Dazu gehört aber durchaus auch die Furcht vor sozialen Unruhen, wie sie etwa von jenen Londoner Lehrjungen ausgehen konnten, die häufig in Shakespeare Publikum anzutreffen waren und dort ihre Mützen schwenkten. Eine von ihnen, mehr als vierhundert Jahre alt, hat MacGregor in sein Buch aufgenommen.
Es ist bewundernswert, wie leicht, verständlich und spannend MacGregor sein Wissen präsentiert. Er lässt Experten zu Wort kommen, referiert den Forschungsstand, stellt den zwanzig ausgewählten Objekten viele Dutzend weitere Gegenstände und Illustrationen zur Seite. Ein Spiegel aus dem Besitz von Dr. Dee, Englands einzigem zauberkundigen Gelehrten der Renaissance, illuminiert die Zauberkünste von Lady Macbeth wie von Prospero. Dabei ist der Spiegel an sich bereits ein Objekt, wie es sich magischer kaum denken lässt: eine schwarze Scheibe aus Obsidian, so groß wie ein Dessertteller, aber fast neunhundert Gramm schwer, ein Machtsymbol des aztekischen Königshauses, mit Steinwerkzeugen angefertigt kurz vor der Ankunft der Spanier. Die glänzende Oberfläche des Spiegels wurden, durch langes Reiben mit einer Schleifpaste besonderer Art erzeugt. Die aztekischen Handwerker benutzten die Exkremente eines Tieres, das immer schon mit schwarzer Magie in Verbindung gebracht wurde: der Fledermaus.
Im letzten Kapitel seines faszinierenden Buches verlässt MacGregor die elisabethanische Ära und begibt sich in die jüngste Vergangenheit, ins zwanzigste Jahrhundert, genauer gesagt: an den 16. Dezember 1977. An jenem Tag gelangte die sogenannte "Robben Island Bible" zu dem Gefangenen Nelson Mandela. Es handelte sich dabei um eine Gesamtausgabe von Shakespeares Stücken, die der Häftling Sonny Venkatrathnam mit bunten Postkarten beklebt hatte, die Hindu-Gottheiten zeigten. In dieser Verkleidung, so hoffte er, könne er das Buch ungehindert unter seinen Mithäftlingen zirkulieren lassen. Jeder sollte eine Zeile oder Passage anstreichen, die ihm besonders wichtig war. Als das Buch bei Nelson Mandela anlangte, unterstrich Südafrikas späterer Präsident eine Stelle aus dem "Julius Cäsar": "Der Feige stirbt schon vielmal, eh er stirbt, / Die Tapfern kosten einmal nur den Tod. / Von allen Wundern, die ich je gehört, / Scheint mir das Größte, daß sich Menschen fürchten, / Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller, / Kommt, wann er kommen soll."
Noch bevor MacGregor auf Mandela zu sprechen kommt, erinnert er an jenes junge Paar, das in größter Eile 1942 im Warschauer Getto geheiratet hat: Marcel und Teofila Reich-Ranicki. MacGregor bezieht sich auf die Rede, die der kürzlich verstorbene Literaturkritiker im vorigen Jahr im Deutschen Bundestag gehalten hat. Darin zitierte Reich-Ranicki auch jenen Shakespeare-Satz aus "Richard III.", der ihm durch den Kopf schoss, als er seiner Tosia, mit der er fast siebzig Jahre lang verheiratet bleiben sollte, das Jawort gab: "Ward je in dieser Laun' ein Weib gefreit?"
Und was hat es nun mit dem Tabu Irland auf sich? Shakespeare war ein Informations-Junkie, begierig auf die neuesten Nachrichten. Ereignisse aus allen Winkeln der damals bekannten Erde haben Eingang in seine Stücke gefunden. Nur ein Winkel war davon ausgenommen: Irland. Denn dort widersetzten sich furchtlose und blutrünstige Aufständische Englands Oberherrschaft. Dieser Stachel schnitt allzu tief ins englische Fleisch.
Nur so viel soll an dieser Stelle verraten werden: Nach dem Tod von Königin Elisabeth nahm ihr Nachfolger, König Jakob I., Einblick in die in Whitehall aufbewahrten Regierungsdokumente. Als er sah, dass der Krieg gegen Irland mehr als zwei Millionen Pfund verschlungen hatte - das war mehr, als der Kampf gegen die Armada und die Unterstützung der niederländischen Rebellen zusammen die Krone gekostet hatten -, soll er ausgerufen haben: "Wir hatten größeren Aufwand mit Irland als mit der ganzen andren Welt." Darüber wollte selbst ein Shakespeare kein Wort verlieren.
Neil MacGregor: "Shakespeares ruhelose Welt".
Aus dem Englischen von Klaus Binder. Verlag C. H. Beck, München 2013. 347 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neil MacGregor, Autor der "Geschichte der Welt in 100 Objekten" hat mit "Shakespeares ruheloser Welt" abermals eine faszinierende Lektüre vorgelegt.
Von Hubert Spiegel
Kannte Shakespeare Tabus? Wohl kaum. In seinen Stücken gibt es nichts, was es nicht gibt. Königsmorde und Kannibalismus. Schwarze und weiße Magie. Inzest und Blutschande. Männer, die Männer lieben. Männer, die Frauen lieben, die sie für Männer halten. Eine Frau, die sich nach einem Esel verzehrt. Zerstückelte Leiber. Gequälte Seelen. Da fehlt nichts. Oder doch?
Und was ist mit Irland? Der Mann, der diese Frage stellt, hat vor zwei Jahren mit seiner "Geschichte der Welt in 100 Objekten" einen aufsehenerregenden Bestseller geschrieben: Ein Buch, dass den Versuch unternimmt, die gesamte Menschheitsgeschichte anhand von hundert verschiedenen Objekten abzuhandeln. Hundert Objekte aus einem Zeitraum von zwei Millionen Jahren, allesamt aus den gigantischen Beständen des von ihm geleiteten British Museum stammend, das war die Grundlage für Neil MacGregors Buch. Was seinen überwältigenden Erfolg erst möglich machte, war die Kunst des Autors, seine leblosen Gegenstände zum Sprechen zu bringen.
Dem Buch war die gleichnamige Rundfunkserie in der BBC vorangegangen. Sie elektrisierte und beschäftigte ganz England. Im vorigen Jahr ließ der Museumsdirektor eine neue Serie folgen, die sein Erfolgsmodell auf Shakespeare und die elisabethanische Welt übertrug. Jetzt liegt "Shakespeares ruhelose Welt" auch auf Deutsch vor: eine faszinierende Lektüre, die uns lehrt, den Klassiker mit den Augen seiner Zeitgenossen zu sehen, und ein wunderschön ausgestattetes Buch, das man immer wieder gern in die Hand nehmen wird.
MacGregor stellt uns darin nicht nur die Menschen vor, die damals, im Übergang vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert, Shakespeares Stücke sahen, sondern er zeigt uns die Welt, in der sie lebten. Es war eine Welt im Umbruch. Was diese Welt erschütterte, das ließ auch die Bretter des Globe Theatre erzittern. Shakespeare, wie MacGregor ihn uns zeigt, war ein Dramatiker, dessen Horizont den gesamten Erdball umfasste.
Soeben hatte Francis Drake mit seinem Schiff, der "Golden Hind", als erster Engländer die Welt umsegelt. Wenig später schickt Shakespeare in der "Komödie der Irrungen" einen weiteren Entdeckungsreisenden auf Expeditionsfahrt, den unverschämten Diener Dromio, der den Körper eines armen Dienstmädchens umrunden möchte: "Sie ist kugelförmig wie ein Globus; ich wollte Länder auf ihr entdecken." In den "Lustigen Weibern von Windsor" vergleicht Falstaff zwei hübsche Frauen mit Ost- und Westindien. Er will sie brandschatzen und "nach beiden Handel treiben". Ist das frauenfeindlich? Aus heutiger Sicht schon. Damals war ein anderer Subtext wichtiger. Shakespeare verweist unverhohlen auf den Umstand, dass derartige Entdeckungsreisen immer aus materiellen Gründen und auf gewaltsamem Wege erfolgten. Mit dem Anteil, den Elisabeth I. aus den Erlösen von Drakes Reise erhielt, konnte die Königin ihre jährlichen Einkünfte verdoppeln. Der Gewinn des Konsortiums, das die Reise finanziert hatte, soll bei 4700 Prozent gelegen haben.
Gut zehn Jahre nach Drakes Erdumrundung wurden in London die ersten englischen Globen angefertigt. Sieben Jahre später nennt Shakespeare sein eigenes Theater "Globe". Drakes Reise hatte 1018 Tage gedauert. Im "Sommernachtstraum" zeigt Shakespeare, was sein Theater unter Beschleunigung versteht, wenn er Puck sagen lässt: "Rund um die Erde zieh' ich einen Gürtel / in viermal zehn Minuten". Oberon ergänzt: "Schneller als die Monde kreisen, / können wir die Erd' umkreisen."
Mit der Gedenkmünze für Drakes Reise, die geprägt wurde, als Shakespeares Theaterlaufbahn ihren Anfang nahm, also zu Beginn der achtziger Jahre des sechzehnten Jahrhunderts, lässt MacGregor sein Buch beginnen. Englands Horizont hatte sich erweitert. Der Aufstieg zur Seemacht stand bevor. Noch war England seinen Konkurrenten, Spaniern, Portugiesen, Niederländern und der damaligen Handelsgroßmacht Venedig unterlegen. Von außen bedroht - 1588 wird die Spanische Armada vor Englands Küsten auftauchen - und im Inneren von Glaubenskämpfen geschwächt und zerrissen.
Shakespeares Generation war die erste in England, deren Angehörige zum größeren Teil noch nie in ihrem Leben eine lateinische Messe gehört hatten. Zu den Amtspflichten von John Shakespeare, dem Vater des Dramatikers, der es vom Handschuhmacher zum Ratsmitglied und Bürgermeister brachte, gehörte auch das Ausmerzen katholischer Symbole und Objekte in Stratford. So ließ er die farbigen Glasfenster in der katholischen Kapelle des Gildenhauses durch Klarglas ersetzen, eine Szene der Zerstörung, wie MacGregor schreibt, "die sein damals siebenjähriger Sohn durchaus miterlebt haben könnte".
MacGregor handelt dieses Kapitel anhand des sogenannten "Stratford-Kelches" ab. Das ist ein Kommunionskelch für das protestantische Abendmahl. Dann wendet er sich einer Gabel zu, also einem Luxusgegenstand, wie ihn nur ein junger Adliger im Rose Theatre verloren haben kann, wo er bei Ausgrabungen gefunden wurde. Denn das Theater, das wenige Jahre zuvor noch eine höfische, allein dem Adel vorbehaltene Einrichtung gewesen war, wurde nun zu einem öffentlichen Ort, an dem sich Angehörige aller Stände begegneten, wenngleich die einen in ihren Logen saßen und die anderen vor der Bühne standen, nachdem sie den Eintrittspreis von einem Penny entrichtet hatten.
Während sein Publikum sich fragt, was nach dem Tod seiner kinderlosen Königin Elisabeth I. geschehen würde, lässt Shakespeare die Rosenkriege des fünfzehnten Jahrhunderts wiederauferstehen, um darin die Konflikte und Ängste seiner Zeit zu spiegeln. Dazu gehört aber durchaus auch die Furcht vor sozialen Unruhen, wie sie etwa von jenen Londoner Lehrjungen ausgehen konnten, die häufig in Shakespeare Publikum anzutreffen waren und dort ihre Mützen schwenkten. Eine von ihnen, mehr als vierhundert Jahre alt, hat MacGregor in sein Buch aufgenommen.
Es ist bewundernswert, wie leicht, verständlich und spannend MacGregor sein Wissen präsentiert. Er lässt Experten zu Wort kommen, referiert den Forschungsstand, stellt den zwanzig ausgewählten Objekten viele Dutzend weitere Gegenstände und Illustrationen zur Seite. Ein Spiegel aus dem Besitz von Dr. Dee, Englands einzigem zauberkundigen Gelehrten der Renaissance, illuminiert die Zauberkünste von Lady Macbeth wie von Prospero. Dabei ist der Spiegel an sich bereits ein Objekt, wie es sich magischer kaum denken lässt: eine schwarze Scheibe aus Obsidian, so groß wie ein Dessertteller, aber fast neunhundert Gramm schwer, ein Machtsymbol des aztekischen Königshauses, mit Steinwerkzeugen angefertigt kurz vor der Ankunft der Spanier. Die glänzende Oberfläche des Spiegels wurden, durch langes Reiben mit einer Schleifpaste besonderer Art erzeugt. Die aztekischen Handwerker benutzten die Exkremente eines Tieres, das immer schon mit schwarzer Magie in Verbindung gebracht wurde: der Fledermaus.
Im letzten Kapitel seines faszinierenden Buches verlässt MacGregor die elisabethanische Ära und begibt sich in die jüngste Vergangenheit, ins zwanzigste Jahrhundert, genauer gesagt: an den 16. Dezember 1977. An jenem Tag gelangte die sogenannte "Robben Island Bible" zu dem Gefangenen Nelson Mandela. Es handelte sich dabei um eine Gesamtausgabe von Shakespeares Stücken, die der Häftling Sonny Venkatrathnam mit bunten Postkarten beklebt hatte, die Hindu-Gottheiten zeigten. In dieser Verkleidung, so hoffte er, könne er das Buch ungehindert unter seinen Mithäftlingen zirkulieren lassen. Jeder sollte eine Zeile oder Passage anstreichen, die ihm besonders wichtig war. Als das Buch bei Nelson Mandela anlangte, unterstrich Südafrikas späterer Präsident eine Stelle aus dem "Julius Cäsar": "Der Feige stirbt schon vielmal, eh er stirbt, / Die Tapfern kosten einmal nur den Tod. / Von allen Wundern, die ich je gehört, / Scheint mir das Größte, daß sich Menschen fürchten, / Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller, / Kommt, wann er kommen soll."
Noch bevor MacGregor auf Mandela zu sprechen kommt, erinnert er an jenes junge Paar, das in größter Eile 1942 im Warschauer Getto geheiratet hat: Marcel und Teofila Reich-Ranicki. MacGregor bezieht sich auf die Rede, die der kürzlich verstorbene Literaturkritiker im vorigen Jahr im Deutschen Bundestag gehalten hat. Darin zitierte Reich-Ranicki auch jenen Shakespeare-Satz aus "Richard III.", der ihm durch den Kopf schoss, als er seiner Tosia, mit der er fast siebzig Jahre lang verheiratet bleiben sollte, das Jawort gab: "Ward je in dieser Laun' ein Weib gefreit?"
Und was hat es nun mit dem Tabu Irland auf sich? Shakespeare war ein Informations-Junkie, begierig auf die neuesten Nachrichten. Ereignisse aus allen Winkeln der damals bekannten Erde haben Eingang in seine Stücke gefunden. Nur ein Winkel war davon ausgenommen: Irland. Denn dort widersetzten sich furchtlose und blutrünstige Aufständische Englands Oberherrschaft. Dieser Stachel schnitt allzu tief ins englische Fleisch.
Nur so viel soll an dieser Stelle verraten werden: Nach dem Tod von Königin Elisabeth nahm ihr Nachfolger, König Jakob I., Einblick in die in Whitehall aufbewahrten Regierungsdokumente. Als er sah, dass der Krieg gegen Irland mehr als zwei Millionen Pfund verschlungen hatte - das war mehr, als der Kampf gegen die Armada und die Unterstützung der niederländischen Rebellen zusammen die Krone gekostet hatten -, soll er ausgerufen haben: "Wir hatten größeren Aufwand mit Irland als mit der ganzen andren Welt." Darüber wollte selbst ein Shakespeare kein Wort verlieren.
Neil MacGregor: "Shakespeares ruhelose Welt".
Aus dem Englischen von Klaus Binder. Verlag C. H. Beck, München 2013. 347 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Angetan zeigt sich Stefana Sabin von Neil MacGregors Beschreibung der Zeit Shakespeares anhand von zwanzig Objekten. Dem Autor, Direktor Londoner British Museum, gelingt es zu ihrer Freude, diese Objekte - unter anderem einen schwarzen Spiegel, eine eiserne Gabel von 1587, die Pest-Proklamation von 1603 und so weiter - in Beziehung zu Shakespeares Stücken zu setzen, die die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse widerspiegeln. Das Ganze findet Sabin kurzweilig erzählt und zu einem Gesamtbild der Epoche geformt. Ihr Fazit: eine gekonnte Rekonstruktion von "Shakespeares ruheloser Welt".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.11.2013Unsere Vergangenheit
kommt erst noch
Mit „Shakespeares ruhelose Welt“ schreibt
Neil MacGregor einen Bestseller faszinierend fort
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Als der damals 26-jährige Marcel Reich-Ranicki am 7. März 1942 im Warschauer Ghetto in aller Eile seine Verlobte Teofila heiratete, um sie vor der Deportation zu bewahren, kam ihm folgende Zeile aus Shakespeares „Richard III.“ in den Sinn: „Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit?“ Und als am 16. Dezember 1977 die sogenannte „Robben Island Bible“ in die Zelle des inhaftierten Nelson Mandela gelangte, verbarg sich unter dem mit Hindu-Postkarten beklebten Buchdeckel eine Ausgabe von Shakespeares Dramen. Der Band war getarnt worden, um zu verhindern, dass er den Häftlingen weggenommen wird. Mandela strich sich eine Stelle aus „Julius Cäsar“ an, die mit dem Vers beginnt: „Der Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt, / Die Tapfern kosten einmal nur den Tod“.
Dieselbe Stelle war bereits 350 Jahre zuvor einem der ersten Shakespeare-Leser, einem gewissen William Johnstoune aus dem schottischen Dumfriesshire aufgefallen. Er hatte kursorisch am Rand notiert: „Tod, ein unausweichliches Ende, wird kommen, wann er will, und ist nicht durch Furcht vorwegzunehmen.“ Möglich war das nur, weil 1622, sechs Jahre nach Shakespeares Tod, auf der Frankfurter Buchmesse der „First Folio“ vorgestellt worden war, die erste Buchausgabe seiner Werke, durch die der Mann hinter dem Globe-Theater zu einer globalen Figur wurde.
Die beiden erschütternden Beispiele aus der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts bringt Neil MacGregor am Ende seines neuen, großartigen Buches „Shakespeares ruhelose Welt“ als machtvolle Belege dafür, „dass bei Shakespeare jeder den Spiegel der eigenen Zwangslage finden kann“. Wie kein anderer habe Shakespeare darüber geschrieben, was es heißt, in einer ruhelosen Welt zu leben – und das sei der Grund, weshalb sich jedes Zeitalter in seinen Dramen wiedererkennen könne.
MacGregor, der seit 2002 das British Museum in London leitet, ist der berühmteste Museumsdirektor der Welt. Das liegt nicht zuletzt an seinem 2011 auf Deutsch erschienenem Bestseller „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“. Darin erzählt er – vom Faustkeil bis zur Kreditkarte – die Kulturgeschichte der Menschheit anhand von ausgewählten Artefakten aus den Beständen seines Museums nach. Entstanden war das Buch aus einer kritischen Haltung gegenüber dem eigenen Fach. MacGregor störte sich an der Fixierung der Kulturwissenschaften auf traditionelle Ausdrucksmedien. Die Befragung von Werken der Kunst etwa führe zu einem verzerrten Bild der Vergangenheit, weil in diesen die historische Wahrheit bereits retuschiert sei. Alltagsobjekte dagegen deckten tabuisierte Episoden nicht zu, sondern lieferten oftmals die Geschichte ihrer Umwertung gleich mit, sie beförderten daher deutungsoffenere Auskünfte.
Dieses Verfahren hat MacGregor nun auf Shakespeares und das elisabethanische Zeitalter angewendet, und wie der Vorgänger ist auch das neue Buch aus einer gleichnamigen, immens erfolgreichen Rundfunkserie in der BBC hervorgegangen. An exemplarischen zeitgenössischen Objekten entlang führt uns MacGregor in die von Umbrüchen geprägte Welt Shakespeares und zeigt, auf welchen Voraussetzungen, welchem allgemein geteilten Wissen dieser aufbauen konnte. MacGregor bringt die Gegenstände zum Sprechen, um die Grenzen zu überwinden zwischen der Bühne und dem wirklichen Leben.
An einem der Standorte einiger elisabethanischer Theater haben Archäologen einen äußerst exklusiven und hochpreisigen Gegenstand ausgegraben, der damals eine technologische Innovation darstellte. Es handelt sich um eine zierliche Konfektgabel, die modisches Accessoire war, aber den vornehmen Theaterbesuchern in den Logen dazu diente, kandierte Früchte aufzuspießen. Gegessen wurde auch im unbestuhlten und nicht überdachten Parkett, wo die sogenannten „groundlings“ Früchte und Nüsse zu sich nahmen, vor allem aber Austern. Berge von Muschelschalen hat man in den Fundamenten gefunden, vermischt mit den Scherben jener kugelförmigen und geschlitzten Keramikgefäße, in denen das Eintrittsgeld von einem Penny eingesammelt wurde. Um einem etwaigen Einnahmeschwund von vornherein entgegenzuwirken, hatten diese Dosen keine Öffnung zur Geldentnahme, sie wurden nach der Vorstellung zerschlagen.
Auch die gut erhaltene Mütze eines Handwerksgesellen hat die Jahrhunderte überlebt. Und der Verlust seines eleganten Stoßdegens dürfte für den jungen Edelmann, der ihn vermutlich besessen hat, äußerst schmerzlich gewesen sein, denn diese Zierwaffen waren in etwa so kostspielig wie heute die Armbanduhr einer Luxusmarke und hatten eine ähnliche Funktion als Statussymbol. Einen ebenfalls erhaltenen kostbaren Glaskelch ziert das Bildnis einer aufreizenden Venezianerin, und nur wer weiß, dass Venedig damals ein Ziel des Sex-Tourismus war, kann Othellos Eifersucht verstehen. Er musste nach damaliger Überzeugung Desdemona für eine Hure halten.
Überhaupt galt Venedig als Muster der modernen, weltoffenen Stadt, einer Stadt, in der es sogar möglich war, dass ein Mohr eine weiße Frau heiraten konnte. Zu Shakespeares Zeiten war London dabei, sich in eine multikulturelle Weltmetropole zu verwandeln. Nicht zufällig hat Shakespeare sein Theater „Globe“ genannt, schließlich hatte Sir Francis Drake gerade die Welt umsegelt. Diese Welt schien kleiner geworden zu sein, und das Theater verstand sich als ihr Spiegelbild. Dazu gehörte auch, dass die Bühne genauso aussah wie das Schafott, auf dem täglich öffentliche Hinrichtungen stattfanden. Denn auch das Blutgerüst war eine Bühne für das damals normale Theater der Grausamkeit. Wer über die London Bridge ins Theaterviertel strebte, kam unterwegs an den Spießen vorbei, auf denen die Köpfe von Verrätern steckten. Shakespeares Theater handelt von einer auch durch Terrorismus beunruhigten Welt – nicht zuletzt in darin liegt die ungebrochene Gültigkeit seiner Werke.
Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt. Monographie. Aus dem Englischen von Klaus Binder. Verlag C.H. Beck, München 2013. 347 Seiten, 29,95 Euro.
„Rund um die Erde
zieh‘ ich einen Gürtel /
In viermal zehn Minuten“
In solchen Booten
(Bild links oben) überquerten
reiche Leute die Themse, um ins
Theaterviertel zu kommen;
die ärmeren nahmen die Brücke. Darunter ein 400 Jahre alter, vermutlich in Deutschland hergestellter Glaskelch sowie die sogenannte Robben Island Bible, eine Ausgabe von Shakespeares Werken, die
Nelson Mandela im Gefängnis las.
ALLE ABB. AUS DEM BESPR. BAND
In dieser Dose mit ihrem durchbrochenen Deckel aus Silber befindet sich das rechte Auge des
Jesuiten Edward Oldcorne. Er wurde 1606 hingerichtet.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
kommt erst noch
Mit „Shakespeares ruhelose Welt“ schreibt
Neil MacGregor einen Bestseller faszinierend fort
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Als der damals 26-jährige Marcel Reich-Ranicki am 7. März 1942 im Warschauer Ghetto in aller Eile seine Verlobte Teofila heiratete, um sie vor der Deportation zu bewahren, kam ihm folgende Zeile aus Shakespeares „Richard III.“ in den Sinn: „Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit?“ Und als am 16. Dezember 1977 die sogenannte „Robben Island Bible“ in die Zelle des inhaftierten Nelson Mandela gelangte, verbarg sich unter dem mit Hindu-Postkarten beklebten Buchdeckel eine Ausgabe von Shakespeares Dramen. Der Band war getarnt worden, um zu verhindern, dass er den Häftlingen weggenommen wird. Mandela strich sich eine Stelle aus „Julius Cäsar“ an, die mit dem Vers beginnt: „Der Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt, / Die Tapfern kosten einmal nur den Tod“.
Dieselbe Stelle war bereits 350 Jahre zuvor einem der ersten Shakespeare-Leser, einem gewissen William Johnstoune aus dem schottischen Dumfriesshire aufgefallen. Er hatte kursorisch am Rand notiert: „Tod, ein unausweichliches Ende, wird kommen, wann er will, und ist nicht durch Furcht vorwegzunehmen.“ Möglich war das nur, weil 1622, sechs Jahre nach Shakespeares Tod, auf der Frankfurter Buchmesse der „First Folio“ vorgestellt worden war, die erste Buchausgabe seiner Werke, durch die der Mann hinter dem Globe-Theater zu einer globalen Figur wurde.
Die beiden erschütternden Beispiele aus der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts bringt Neil MacGregor am Ende seines neuen, großartigen Buches „Shakespeares ruhelose Welt“ als machtvolle Belege dafür, „dass bei Shakespeare jeder den Spiegel der eigenen Zwangslage finden kann“. Wie kein anderer habe Shakespeare darüber geschrieben, was es heißt, in einer ruhelosen Welt zu leben – und das sei der Grund, weshalb sich jedes Zeitalter in seinen Dramen wiedererkennen könne.
MacGregor, der seit 2002 das British Museum in London leitet, ist der berühmteste Museumsdirektor der Welt. Das liegt nicht zuletzt an seinem 2011 auf Deutsch erschienenem Bestseller „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“. Darin erzählt er – vom Faustkeil bis zur Kreditkarte – die Kulturgeschichte der Menschheit anhand von ausgewählten Artefakten aus den Beständen seines Museums nach. Entstanden war das Buch aus einer kritischen Haltung gegenüber dem eigenen Fach. MacGregor störte sich an der Fixierung der Kulturwissenschaften auf traditionelle Ausdrucksmedien. Die Befragung von Werken der Kunst etwa führe zu einem verzerrten Bild der Vergangenheit, weil in diesen die historische Wahrheit bereits retuschiert sei. Alltagsobjekte dagegen deckten tabuisierte Episoden nicht zu, sondern lieferten oftmals die Geschichte ihrer Umwertung gleich mit, sie beförderten daher deutungsoffenere Auskünfte.
Dieses Verfahren hat MacGregor nun auf Shakespeares und das elisabethanische Zeitalter angewendet, und wie der Vorgänger ist auch das neue Buch aus einer gleichnamigen, immens erfolgreichen Rundfunkserie in der BBC hervorgegangen. An exemplarischen zeitgenössischen Objekten entlang führt uns MacGregor in die von Umbrüchen geprägte Welt Shakespeares und zeigt, auf welchen Voraussetzungen, welchem allgemein geteilten Wissen dieser aufbauen konnte. MacGregor bringt die Gegenstände zum Sprechen, um die Grenzen zu überwinden zwischen der Bühne und dem wirklichen Leben.
An einem der Standorte einiger elisabethanischer Theater haben Archäologen einen äußerst exklusiven und hochpreisigen Gegenstand ausgegraben, der damals eine technologische Innovation darstellte. Es handelt sich um eine zierliche Konfektgabel, die modisches Accessoire war, aber den vornehmen Theaterbesuchern in den Logen dazu diente, kandierte Früchte aufzuspießen. Gegessen wurde auch im unbestuhlten und nicht überdachten Parkett, wo die sogenannten „groundlings“ Früchte und Nüsse zu sich nahmen, vor allem aber Austern. Berge von Muschelschalen hat man in den Fundamenten gefunden, vermischt mit den Scherben jener kugelförmigen und geschlitzten Keramikgefäße, in denen das Eintrittsgeld von einem Penny eingesammelt wurde. Um einem etwaigen Einnahmeschwund von vornherein entgegenzuwirken, hatten diese Dosen keine Öffnung zur Geldentnahme, sie wurden nach der Vorstellung zerschlagen.
Auch die gut erhaltene Mütze eines Handwerksgesellen hat die Jahrhunderte überlebt. Und der Verlust seines eleganten Stoßdegens dürfte für den jungen Edelmann, der ihn vermutlich besessen hat, äußerst schmerzlich gewesen sein, denn diese Zierwaffen waren in etwa so kostspielig wie heute die Armbanduhr einer Luxusmarke und hatten eine ähnliche Funktion als Statussymbol. Einen ebenfalls erhaltenen kostbaren Glaskelch ziert das Bildnis einer aufreizenden Venezianerin, und nur wer weiß, dass Venedig damals ein Ziel des Sex-Tourismus war, kann Othellos Eifersucht verstehen. Er musste nach damaliger Überzeugung Desdemona für eine Hure halten.
Überhaupt galt Venedig als Muster der modernen, weltoffenen Stadt, einer Stadt, in der es sogar möglich war, dass ein Mohr eine weiße Frau heiraten konnte. Zu Shakespeares Zeiten war London dabei, sich in eine multikulturelle Weltmetropole zu verwandeln. Nicht zufällig hat Shakespeare sein Theater „Globe“ genannt, schließlich hatte Sir Francis Drake gerade die Welt umsegelt. Diese Welt schien kleiner geworden zu sein, und das Theater verstand sich als ihr Spiegelbild. Dazu gehörte auch, dass die Bühne genauso aussah wie das Schafott, auf dem täglich öffentliche Hinrichtungen stattfanden. Denn auch das Blutgerüst war eine Bühne für das damals normale Theater der Grausamkeit. Wer über die London Bridge ins Theaterviertel strebte, kam unterwegs an den Spießen vorbei, auf denen die Köpfe von Verrätern steckten. Shakespeares Theater handelt von einer auch durch Terrorismus beunruhigten Welt – nicht zuletzt in darin liegt die ungebrochene Gültigkeit seiner Werke.
Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt. Monographie. Aus dem Englischen von Klaus Binder. Verlag C.H. Beck, München 2013. 347 Seiten, 29,95 Euro.
„Rund um die Erde
zieh‘ ich einen Gürtel /
In viermal zehn Minuten“
In solchen Booten
(Bild links oben) überquerten
reiche Leute die Themse, um ins
Theaterviertel zu kommen;
die ärmeren nahmen die Brücke. Darunter ein 400 Jahre alter, vermutlich in Deutschland hergestellter Glaskelch sowie die sogenannte Robben Island Bible, eine Ausgabe von Shakespeares Werken, die
Nelson Mandela im Gefängnis las.
ALLE ABB. AUS DEM BESPR. BAND
In dieser Dose mit ihrem durchbrochenen Deckel aus Silber befindet sich das rechte Auge des
Jesuiten Edward Oldcorne. Er wurde 1606 hingerichtet.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de