Der Shinté, eine Mischung von Natur- und Ahnenkult mit einer starken gemeinschaftsbegründenden, politischen Komponente, ist für einen Nicht-Japaner nicht leicht zu verstehen. Die Hauptschwierigkeit besteht dabei nicht in irgendwelchen komplizierten Lehren oder Konzepten, sondern gerade in deren Abwesenheit. So besitzt der Shinté weder einen Gründer noch eine Heilige Schrift, noch eine festumrissene Glaubenslehre. In der vorliegenden Einführung werden die Besonderheiten des Shinté anschaulich und verständlich dargestellt, das historisch bedeutsame Verhältnis von Staat und Shinté erörtert und die Einflüsse des Shinté auf deas heutige Japan angesprochen. Zum Abschluß wird der Shinté in den Kontext der aktuellen Diskussion um die "asiatischen Werte" gestellt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2001Mit dem Wissenschaftsgott in die Examenshölle
Von Jammertal in Japan keine Spur: Ernst Lokowandt beleuchtet Vereinnahmungen des Shintoismus
Als der japanische Kaiser in seiner Neujahrsbotschaft von 1946 erklärte: "Die Bande zwischen Uns und Unserem Volk beruhten immer auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Verehrung und sind keineswegs Produkte reiner Mythen und Legenden", ja sogar fortfuhr: "sie beruhen nicht auf dem Wahn, der Tenno sei ein gegenwärtiger Gott und das japanische Volk anderen überlegen" und dabei wie nebenbei seine Menschlichkeit eingestand, war das gesamte staatsreligiöse System mit einem Satz aufgehoben. Der japanische Shintoismus, der bis Ende des Zweiten Weltkrieges Staatsreligion war, ist eine "Mischung von viel Natur- mit etwas Ahnenkult, angereichert mit einer starken politischen Komponente".
Der "Weg der Götter", wie Shinto wörtlich heißt, besitzt weder ein Credo noch einen Gründer noch eine heilige Schrift. Den einheimischen Überzeugungen zufolge können alle Dinge und Erscheinungen, belebte wie unbelebte, Berge, Bäume, Roboter, Tiere und Menschen göttlich werden oder sein. Die fließenden Grenzen zwischen Göttlichem und Humanem verkörpert neben historischen Persönlichkeiten oder Kriegshelden, die zu Göttern wurden, der Tenno, wenngleich Hirohito seine Göttlichkeit relativierte. Ernst Lokowandts einführende Studie legt dar, wie die ästhetisierende Naturreligion des Shintoismus auch in der modernen Gesellschaft die japanischen Fühl-, Denk- und Handlungsweisen durchdringt. So sind für den Autor Gruppenorientierung und Formalismus, aber auch Optimismus und Verspieltheit und das unkomplizierte Verhältnis der Japaner zur Technik Produkte des Shinto. Heute gibt es in Japan laut offiziellen Statistiken rund achtzigtausend Shintoschreine, zwanzigtausend Priester und, bei Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen Religionen, über hundert Millionen Gläubige. Der Shinto mit seinen Festen, Prozessionen und Zeremonien ist seinem Wesen nach eine pragmatische, lebensbejahende Religion. Wie die christlichen Schutzpatrone haben sich auch die Götter im Shintopantheon auf Problembereiche spezialisiert. So wenden sich Prüflinge an den "Gott der Wissenschaft" Tenjin zur Beihilfe bei Aufnahmeprüfungen. Neben gelegentlichen Wallfahrten zu "Funktionsgottheiten" besteht die primäre Beziehung des Gläubigen aber zum für den Wohnort zuständigen Schrein, dessen gemeinschaftsbildenden Charakter der Autor betont.
Der Japaner, der die Tendenz zeigt, sich je nach Lebenslage seinen Privatglauben zusammenzubasteln, läßt sich shintoistisch taufen und verheiraten, aber buddhistisch beerdigen. Hier offenbart sich die Diesseitigkeit des Shinto, die konkurrierenden, unkoordinierten Jenseitsvorstellungen in den Mythen bezeugen laut Lokowandt bestenfalls sein Desinteresse an der Welt nach dem Tode. Auch Konzepte wie "Ursünde" oder "Jammertal" sind ihm fremd, der Mensch ist ursprünglich gut und das Übel etwas aus christlicher Perspektive merkwürdig Äußerliches, das in einer kultischen Reinigung wieder abgewaschen werden kann.
Das Fehlen einer Glaubenslehre machte den Shinto gleichwohl anfällig für Vereinnahmungen durch dogmatisch stärkere religiöse Systeme oder staatliche Ideologien. Im Laufe seiner Geschichte ging der Shintoismus mit dem Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus Symbiosen ein. In den Lehren des esoterischen Buddhismus wurden Japans Naturgottheiten gar als Inkarnationen der Buddhas und Bodhisattvas gesehen. Die Mythologie der Abstammung des Kaisers von der Sonnengöttin diente im Staatsshintoismus der Meiji-Zeit (1868 bis 1912) zur Herrschaftslegitimation. Die propagierte Rückkehr zu den Ursprüngen führte zu antibuddhistischer Bilderstürmerei. Für die Schreine wurden hierarchische Ränge eingeführt, an deren Spitze der Ise-Schrein stand, der auch heute noch den Gottesleib der Sonnengöttin verwahrt. Die Schreine wurden zu nichtreligiösen Einrichtungen und reinen "Kultstätten des Staates" erklärt.
Im japanischen Militarismus war die Shintomythologie, die besagte, daß Japan als erstes Land von den Göttern erschaffen wurde, eine ideologische Stütze. Die Weltherrschaft wurde zum Willen der Götter stilisiert. Gibt es nun einen Shinto ohne Staat? Im Dezember 1945 erließ die amerikanische Besatzungsmacht die "Shinto-Direktive", mit der der Staatsshintoismus abgeschafft wurde. Artikel 20 der japanischen Verfassung von 1947 verfügte die Trennung von Staat und Religion. Für den Shinto-Experten Ernst Lokowandt aber bleibt der Shinto geborene Staatsreligion, die nicht mehr in einen "früheren Stand der Unschuld" zurückkehren kann. Auch die Wiedereinführung des Reichsgründungstags 1966 und die offiziellen oder halboffiziellen Besuche japanischer Ministerpräsidenten zur Verehrung der Kriegstoten im Yasukuni-Schrein bezeugen, daß die alten Bande noch lange nicht durchschnitten sind.
STEFFEN GNAM
Ernst Lokowandt: "Shinto". Eine Einführung. Hrsg. von OAG Tokio. Iudicium Verlag, München 2001. 117 S., 27 Abb., br., 18,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Jammertal in Japan keine Spur: Ernst Lokowandt beleuchtet Vereinnahmungen des Shintoismus
Als der japanische Kaiser in seiner Neujahrsbotschaft von 1946 erklärte: "Die Bande zwischen Uns und Unserem Volk beruhten immer auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Verehrung und sind keineswegs Produkte reiner Mythen und Legenden", ja sogar fortfuhr: "sie beruhen nicht auf dem Wahn, der Tenno sei ein gegenwärtiger Gott und das japanische Volk anderen überlegen" und dabei wie nebenbei seine Menschlichkeit eingestand, war das gesamte staatsreligiöse System mit einem Satz aufgehoben. Der japanische Shintoismus, der bis Ende des Zweiten Weltkrieges Staatsreligion war, ist eine "Mischung von viel Natur- mit etwas Ahnenkult, angereichert mit einer starken politischen Komponente".
Der "Weg der Götter", wie Shinto wörtlich heißt, besitzt weder ein Credo noch einen Gründer noch eine heilige Schrift. Den einheimischen Überzeugungen zufolge können alle Dinge und Erscheinungen, belebte wie unbelebte, Berge, Bäume, Roboter, Tiere und Menschen göttlich werden oder sein. Die fließenden Grenzen zwischen Göttlichem und Humanem verkörpert neben historischen Persönlichkeiten oder Kriegshelden, die zu Göttern wurden, der Tenno, wenngleich Hirohito seine Göttlichkeit relativierte. Ernst Lokowandts einführende Studie legt dar, wie die ästhetisierende Naturreligion des Shintoismus auch in der modernen Gesellschaft die japanischen Fühl-, Denk- und Handlungsweisen durchdringt. So sind für den Autor Gruppenorientierung und Formalismus, aber auch Optimismus und Verspieltheit und das unkomplizierte Verhältnis der Japaner zur Technik Produkte des Shinto. Heute gibt es in Japan laut offiziellen Statistiken rund achtzigtausend Shintoschreine, zwanzigtausend Priester und, bei Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen Religionen, über hundert Millionen Gläubige. Der Shinto mit seinen Festen, Prozessionen und Zeremonien ist seinem Wesen nach eine pragmatische, lebensbejahende Religion. Wie die christlichen Schutzpatrone haben sich auch die Götter im Shintopantheon auf Problembereiche spezialisiert. So wenden sich Prüflinge an den "Gott der Wissenschaft" Tenjin zur Beihilfe bei Aufnahmeprüfungen. Neben gelegentlichen Wallfahrten zu "Funktionsgottheiten" besteht die primäre Beziehung des Gläubigen aber zum für den Wohnort zuständigen Schrein, dessen gemeinschaftsbildenden Charakter der Autor betont.
Der Japaner, der die Tendenz zeigt, sich je nach Lebenslage seinen Privatglauben zusammenzubasteln, läßt sich shintoistisch taufen und verheiraten, aber buddhistisch beerdigen. Hier offenbart sich die Diesseitigkeit des Shinto, die konkurrierenden, unkoordinierten Jenseitsvorstellungen in den Mythen bezeugen laut Lokowandt bestenfalls sein Desinteresse an der Welt nach dem Tode. Auch Konzepte wie "Ursünde" oder "Jammertal" sind ihm fremd, der Mensch ist ursprünglich gut und das Übel etwas aus christlicher Perspektive merkwürdig Äußerliches, das in einer kultischen Reinigung wieder abgewaschen werden kann.
Das Fehlen einer Glaubenslehre machte den Shinto gleichwohl anfällig für Vereinnahmungen durch dogmatisch stärkere religiöse Systeme oder staatliche Ideologien. Im Laufe seiner Geschichte ging der Shintoismus mit dem Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus Symbiosen ein. In den Lehren des esoterischen Buddhismus wurden Japans Naturgottheiten gar als Inkarnationen der Buddhas und Bodhisattvas gesehen. Die Mythologie der Abstammung des Kaisers von der Sonnengöttin diente im Staatsshintoismus der Meiji-Zeit (1868 bis 1912) zur Herrschaftslegitimation. Die propagierte Rückkehr zu den Ursprüngen führte zu antibuddhistischer Bilderstürmerei. Für die Schreine wurden hierarchische Ränge eingeführt, an deren Spitze der Ise-Schrein stand, der auch heute noch den Gottesleib der Sonnengöttin verwahrt. Die Schreine wurden zu nichtreligiösen Einrichtungen und reinen "Kultstätten des Staates" erklärt.
Im japanischen Militarismus war die Shintomythologie, die besagte, daß Japan als erstes Land von den Göttern erschaffen wurde, eine ideologische Stütze. Die Weltherrschaft wurde zum Willen der Götter stilisiert. Gibt es nun einen Shinto ohne Staat? Im Dezember 1945 erließ die amerikanische Besatzungsmacht die "Shinto-Direktive", mit der der Staatsshintoismus abgeschafft wurde. Artikel 20 der japanischen Verfassung von 1947 verfügte die Trennung von Staat und Religion. Für den Shinto-Experten Ernst Lokowandt aber bleibt der Shinto geborene Staatsreligion, die nicht mehr in einen "früheren Stand der Unschuld" zurückkehren kann. Auch die Wiedereinführung des Reichsgründungstags 1966 und die offiziellen oder halboffiziellen Besuche japanischer Ministerpräsidenten zur Verehrung der Kriegstoten im Yasukuni-Schrein bezeugen, daß die alten Bande noch lange nicht durchschnitten sind.
STEFFEN GNAM
Ernst Lokowandt: "Shinto". Eine Einführung. Hrsg. von OAG Tokio. Iudicium Verlag, München 2001. 117 S., 27 Abb., br., 18,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Steffen Gnam findet Ernst Lokowandts einführende Studie in den Shintoismus durchaus gelungen, da der Autor aufzeigt, wie diese japanische Naturreligion auch die moderne Gesellschaft, die "japanische Fühl-, Denk- und Handlungsweise" durchdringt. Der Autor vermittle dem Leser darüber hinaus, inwieweit diese Religion in ihrer Geschichte vereinnahmt beziehungsweise instrumentalisiert wurde: Sie ging in die Lehren des "esoterischen Buddhismus" ein, fand zu einer Symbiose mit Taoismus und Konfuzianismus und war dem japanischen Militarismus ideologische Stütze, berichtet Gnam. Der Autor komme zu dem Schluss, dass "Shinto" in der neueren Geschichte die "geborene Staatsreligion" bleibe, trotz der Trennung von Staat und Religion.
© Perlentaucher Medien GmbH
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