Produktdetails
- Verlag: Gale
- Seitenzahl: 758
- Erscheinungstermin: 10. November 2021
- Englisch
- Abmessung: 215mm x 142mm x 37mm
- Gewicht: 808g
- ISBN-13: 9781432892524
- ISBN-10: 1432892525
- Artikelnr.: 62313028
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2021Thatcher, das Musical
Nach zwanzig Jahren als Modedesigner schreibt Douglas Stuart einen Roman über die Armut
in Glasgow. Und noch im tiefen Fall rettet er seine Figuren mit einer opulenten Sprache
VON FELIX STEPHAN
Die Literatur des neuen sozialen Naturalismus, die in Frankreich von Annie Ernaux, Édouard Louis und Didier Eribon popularisiert wurde und in Deutschland ihre Vertreter in Deniz Ohde und Christian Baron hat, tritt in der Regel asketisch auf. Die Texte selbst sind nicht opulenter möbliert als die Sozialwohnungen, in denen die Protagonisten leben, die Temperatur ist heruntergeregelt, als sei auch dem Roman selbst der Strom ausgegangen, bevor der Monat zu Ende war. Es herrscht ein am epischen Theater geschulter Illusionsverzicht. Wie in einem literarischen White Cube tritt die Sprache vornehm beiseite, um den Blick auf den Gegenstand nicht zu verstellen. Bei Douglas Stuarts Booker Prize prämiertem Debütroman „Shuggie Bain“, der auf den ersten Blick derselben Schule entspringt, liegt die Sache nun deutlich anders.
Der Roman spielt im Glasgow der Achtzigerjahre. Margaret Thatchers Wirtschaftsreformen haben soeben ganze Stadtviertel in die Arbeitslosigkeit entlassen, Alkoholismus und Depression greifen um sich, die Selbstmordraten steigen dramatisch. Der Schock sitzt den einstmals stolzen Stahl- und Hafenarbeitern tief in den Knochen und wenn sie morgens am Straßenrand ihre ersten Biere trinken, tragen sie noch ihre Arbeitsjacken, als stünde die nächste Schicht unmittelbar bevor. Über den Eingangstoren der Fabriken vergilben die Schriftzüge und wer noch nicht ganz an den Alkohol verloren ist, fährt Taxi in den besseren Gegenden.
In diesem Umfeld heiratet die Protestantin Agnes McGowan den Katholiken „Big Shug“ Bain, ebenfalls Taxifahrer. Aus einer ersten Ehe mit einem braven Protestanten mit wenig Fantasie, „der wusste, welches Glück er mit Agnes hatte, und sie deswegen auf Händen trug“, hat sie schon zwei Kinder, aber sie konnte die Eintönigkeit ihres Familienalltags nicht ertragen und verlässt ihren Mann zum Entsetzen der Eltern für Big Shug. Zusammen bekommen sie ein weiteres Kind, die Hauptfigur des Romans. Es trägt den Namen seines Vaters, Shuggie Bain.
Die Familie wohnt bei Agnes’ Eltern, insgesamt drängen sich in der kleinen Arbeiterwohnung sieben Leute. Shug übernachtet oft bei einer seiner Geliebten. Bald überredet er Agnes, endlich in eine eigene Wohnung zu ziehen, besorgt ihr eine Unterkunft in Pithead, einer heruntergekommenen ehemaligen Arbeitersiedlung am Rande der Stadt, und eröffnet ihr erst dort, dass er selbst in die neue Wohnung nicht mit einziehen werde.
An dieser Stelle tritt zum ersten Mal ein zentrales Stilmittel des Romans auf: die maßlose, ins Groteske gesteigerte Bösartigkeit einzelner Figuren, die frostige Abwesenheit jeder Gnade. Die Figuren sind auf trockene Weise grausam zueinander: Die Nachbarinnen machen einander unermüdlich fertig, die Mitschüler erniedrigen den weibischen Shuggie, die Vergewaltigungen in diesem Roman zählt man irgendwann nicht mehr mit.
Douglas Stuart aber hat keinen politischen Roman geschrieben, die Bösartigkeit seiner Figuren hat etwas Intrinsisches, Absolutes, Märchenhaftes. Als Big Shug seine Familie in dem staubigen Loch am Stadtrand abgeliefert hat, um sich sogleich zu einer seiner zahlreichen Geliebten zu verziehen, erzählt Douglas Stuart das so: „Agnes packte ihn am Pulloverkragen. Shug griff nach seinem Geldgürtel und küsste sie energisch mit der Zunge. Er musste die kleinen Knochen ihrer Hand zerquetschen, damit sie losließ. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte sie vollkommen brechen müssen, bevor er sie endgültig verließ. Agnes Bain war ein zu kostbares Exemplar, um sie der Liebe eines anderen zu überlassen. Er durfte nicht mal Scherben übrig lassen, die ein anderer später einsammeln und kleben könnte.“ Der Plan geht auf: Agnes zerbricht, fortan bestimmt ihre Alkoholsucht ihren Alltag.
Nach dieser Exposition handelt der größte Teil des Buches von der Agonie, in der Agnes die Jahre in Pithead verbringt. Stuart erzählt von diesem richtungslosen Verfall überwiegend aus der personalen Perspektive des jüngsten Sohnes Shuggie, der anfangs gerade erst sechs, sieben Jahre alt ist, wegen der Hilflosigkeit seiner Mutter aber sehr schnell älter werden muss. Wenn sie betrunken ist, muss er die Rasierklingen verstecken, sie von der Tür fernhalten, klingelnde Nachbarn abwimmeln. Er ist gleichzeitig ihr Pfleger und Hüter ihres Rausches. Der Roman widmet der tauben Regelmäßigkeit im Tagesablauf der alkoholkranken Agnes Bain Hunderte Seiten. Vor ihrem kleinen Sohn verhält sie sich, als wäre sie unbeobachtet, deshalb wird der kindliche Blick zum klinischen Wahrheitsinstrument. Plausibel ist die Erzählperspektive nicht immer, Stuart wechselt die Perspektiven munter durch, manchmal innerhalb einzelner Absätze, für den Booker Prize hat es trotzdem gereicht. Einen eigenen Preis hätte die Übersetzerin Sophie Zeitz verdient, die den Glasgower Stahlarbeiterdialekt in ein ortloses Proletarier-Deutsch übertragen hat, das nach Rostock und Bottrop, nach Rothmann und Grass gleichzeitig klingt, aber tatsächlich das Kunststück vollbringt, kein Regionalismus zu werden.
Ein Tag im Leben der Agnes Bain startet also in der Regel damit, dass sie angekleidet auf dem Sofa aufwacht, einen trockenen Mund hat und würgen muss, weil die Galle in ihrem Rachen brennt. Auf ihrem Arm hängt noch der Telefonhörer, weil sie nachts, wenn sie sich in die Nähe der Bewusstlosigkeit getrunken hat, stets Leute anruft, die sie für ihr Schicksal verantwortlich macht, und die sie wüst beschimpft: alte Schulfreunde, Nachbarinnen, den Taxifunk. Dann lauscht sie eine Weile dem Pochen in ihrem Kopf. Dann stellt sie fest, dass das Haus leer ist, und der Junge offenbar wieder allein zur Schule gegangen ist.
Dann zündet sie sich eine Zigarette an und begibt sich auf die Suche nach halbvollen Flaschen, Dosen, Teetassen, und stößt währenddessen „durch ihre Vorderzähne schrille, schlürfende Geräusche der Wut aus“. Wenn die Sozialhilfe, die montags ausbezahlt wird, aufgebraucht ist, bricht sie den Gaszähler auf, und trägt die Münzen zum Laden. Den Rest des Monats wird es wieder kalt sein in der Wohnung. Und wenn Shuggie nach der Schule nach Hause kommt, wird er sie wieder so betrunken vorfinden, dass er nach Essen gar nicht fragt, sondern sich in seinem winzigen Zimmer vor ihrem ziellosen Zorn verborgen hält.
Die Besonderheit des Romans besteht nun darin, dass er diese depravierte Lebensweise, die sich permanent am Rande des Tierischen, Kreatürlichen bewegt, sprachlich kontrastiert mit opernhaften, opulenten Bildern und einem eisernen Willen zur Schönheit. Als Shug seine Frau an einer Stelle wieder einmal zusammenschlägt, sie an ihren Haaren zu Boden reißt und die Tür gegen ihren Hinterkopf schlägt, „als wäre sie eine störrische Teppichdecke“, und ihr dann gegen das Kinn tritt, sodass ihre „perlweiße Haut“ aufplatzt, liegt Agnes am Ende des Absatzes „glitzernd und flauschig am Boden wie ein abgelegtes Partykleid“.
Der Alkohol hat Agnes jeder Persönlichkeitsmerkmale beraubt, außergewöhnlich schön bleibt sie aber bis zum Ende. Shuggie Bain kann sich nicht sattsehen an ihr, er erlebt sie als makellos und engelsgleich, als eine schottische Undine. Ihr Wille zur Schönheit hat nicht zuletzt eine moralische Dimension: Er erhebt sie in den Augen des Sohnes über die Nachbarinnen, die sich kaum mehr die Mühe machen, überhaupt aus ihren Pyjamas zu steigen, bevor sie sich am Bordsteinrand zu ihren Zigarettenrunden treffen. Agnes hingegen lässt, selbst wenn keinerlei Essen mehr im Hause ist und Shuggie nach der Schule wieder ein paar Schluck Starkbier trinkt, um das Rumoren seines leeren Magens zu beruhigen, auf ihr Äußeres nichts kommen. Bevor sie das Haus verlässt, legt sie Ohrringe und Lippenstift an, zieht den guten Mantel über und klebt die Laufmaschen ihrer Strumpfhosen.
Zwei Jahrzehnte arbeitete Douglas Stuart hauptberuflich als Modedesigner in New York, unter anderem für Calvin Klein und Ralph Lauren. Der amerikanischen Vogue sagte er nach dem Booker Prize in einem Interview, die Mode habe ihn vor allem deshalb interessiert, weil sie „Geschichten erzählen könne“. Das Prinzip der Auflösung sozialer Widersprüche in Opulenz überträgt er in „Shuggie Bain“ zurück auf die Romanform, weshalb der nun über weite Strecken aussieht, als habe Tyler Mitchell die Glasgower Arbeitersiedlungen fotografiert. Kunstphilosophisch ist die Geste nicht ganz uninteressant ist: Liegt in opulenter Schönheit, im Effekt, in der Illusion letztlich doch eine erlösende Kraft, eine Ermächtigungsform, die existenzielle Härten zu bannen imstande ist, auch in der Literatur? In Deutschland hat nicht zuletzt Friedrich Schiller genau das lange geglaubt.
Agnes Bain jedenfalls sieht schon einmal aus, wie eine „Göttin der Rosen“, wenn sie erhobenen Hauptes und mit frischem Nagellack durch ihr Elendsviertel zum Alkoholgeschäft marschiert, die „roten Äderchen von den Jahren der Winter und des Trinkens strahlten fröhlich auf ihren Wangen. Es war, als hätte sie Walt Disney persönlich angemalt und zum Leben erweckt, eine handfeste, rauchende Version von Schneewittchen“. Wenn sich die Größe eines Autors an der Furchtlosigkeit bemisst, mit der er sich dem Klischee, ja dem Kitsch nähert, ist mit diesem Debüt ein großer Autor geboren.
Das zentrale Stilmittel ist die
groteske Bösartigkeit der
Figuren, ihre Gnadenlosigkeit
Soziale Widersprüche in
Opulenz auflösen: Ein Prinzip
der Mode geht in Literatur über
Die Industriestadt Glasgow traf die Thatcher-Ära hart: Stadtbild aus den Achtzigerjahren.
Foto: raymond depardon / Magnum Photos / Agentur Focus
Douglas Stuart: Shuggie Bain. Roman. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hanser Berlin,
Berlin 2021.
496 Seiten, 26 Euro.
Douglas Stuart ist in Glasgow geboren. Für sein Debüt „Shuggie Bain“ bekam er gleich den Booker Prize.
Foto: Clive Smith
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nach zwanzig Jahren als Modedesigner schreibt Douglas Stuart einen Roman über die Armut
in Glasgow. Und noch im tiefen Fall rettet er seine Figuren mit einer opulenten Sprache
VON FELIX STEPHAN
Die Literatur des neuen sozialen Naturalismus, die in Frankreich von Annie Ernaux, Édouard Louis und Didier Eribon popularisiert wurde und in Deutschland ihre Vertreter in Deniz Ohde und Christian Baron hat, tritt in der Regel asketisch auf. Die Texte selbst sind nicht opulenter möbliert als die Sozialwohnungen, in denen die Protagonisten leben, die Temperatur ist heruntergeregelt, als sei auch dem Roman selbst der Strom ausgegangen, bevor der Monat zu Ende war. Es herrscht ein am epischen Theater geschulter Illusionsverzicht. Wie in einem literarischen White Cube tritt die Sprache vornehm beiseite, um den Blick auf den Gegenstand nicht zu verstellen. Bei Douglas Stuarts Booker Prize prämiertem Debütroman „Shuggie Bain“, der auf den ersten Blick derselben Schule entspringt, liegt die Sache nun deutlich anders.
Der Roman spielt im Glasgow der Achtzigerjahre. Margaret Thatchers Wirtschaftsreformen haben soeben ganze Stadtviertel in die Arbeitslosigkeit entlassen, Alkoholismus und Depression greifen um sich, die Selbstmordraten steigen dramatisch. Der Schock sitzt den einstmals stolzen Stahl- und Hafenarbeitern tief in den Knochen und wenn sie morgens am Straßenrand ihre ersten Biere trinken, tragen sie noch ihre Arbeitsjacken, als stünde die nächste Schicht unmittelbar bevor. Über den Eingangstoren der Fabriken vergilben die Schriftzüge und wer noch nicht ganz an den Alkohol verloren ist, fährt Taxi in den besseren Gegenden.
In diesem Umfeld heiratet die Protestantin Agnes McGowan den Katholiken „Big Shug“ Bain, ebenfalls Taxifahrer. Aus einer ersten Ehe mit einem braven Protestanten mit wenig Fantasie, „der wusste, welches Glück er mit Agnes hatte, und sie deswegen auf Händen trug“, hat sie schon zwei Kinder, aber sie konnte die Eintönigkeit ihres Familienalltags nicht ertragen und verlässt ihren Mann zum Entsetzen der Eltern für Big Shug. Zusammen bekommen sie ein weiteres Kind, die Hauptfigur des Romans. Es trägt den Namen seines Vaters, Shuggie Bain.
Die Familie wohnt bei Agnes’ Eltern, insgesamt drängen sich in der kleinen Arbeiterwohnung sieben Leute. Shug übernachtet oft bei einer seiner Geliebten. Bald überredet er Agnes, endlich in eine eigene Wohnung zu ziehen, besorgt ihr eine Unterkunft in Pithead, einer heruntergekommenen ehemaligen Arbeitersiedlung am Rande der Stadt, und eröffnet ihr erst dort, dass er selbst in die neue Wohnung nicht mit einziehen werde.
An dieser Stelle tritt zum ersten Mal ein zentrales Stilmittel des Romans auf: die maßlose, ins Groteske gesteigerte Bösartigkeit einzelner Figuren, die frostige Abwesenheit jeder Gnade. Die Figuren sind auf trockene Weise grausam zueinander: Die Nachbarinnen machen einander unermüdlich fertig, die Mitschüler erniedrigen den weibischen Shuggie, die Vergewaltigungen in diesem Roman zählt man irgendwann nicht mehr mit.
Douglas Stuart aber hat keinen politischen Roman geschrieben, die Bösartigkeit seiner Figuren hat etwas Intrinsisches, Absolutes, Märchenhaftes. Als Big Shug seine Familie in dem staubigen Loch am Stadtrand abgeliefert hat, um sich sogleich zu einer seiner zahlreichen Geliebten zu verziehen, erzählt Douglas Stuart das so: „Agnes packte ihn am Pulloverkragen. Shug griff nach seinem Geldgürtel und küsste sie energisch mit der Zunge. Er musste die kleinen Knochen ihrer Hand zerquetschen, damit sie losließ. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte sie vollkommen brechen müssen, bevor er sie endgültig verließ. Agnes Bain war ein zu kostbares Exemplar, um sie der Liebe eines anderen zu überlassen. Er durfte nicht mal Scherben übrig lassen, die ein anderer später einsammeln und kleben könnte.“ Der Plan geht auf: Agnes zerbricht, fortan bestimmt ihre Alkoholsucht ihren Alltag.
Nach dieser Exposition handelt der größte Teil des Buches von der Agonie, in der Agnes die Jahre in Pithead verbringt. Stuart erzählt von diesem richtungslosen Verfall überwiegend aus der personalen Perspektive des jüngsten Sohnes Shuggie, der anfangs gerade erst sechs, sieben Jahre alt ist, wegen der Hilflosigkeit seiner Mutter aber sehr schnell älter werden muss. Wenn sie betrunken ist, muss er die Rasierklingen verstecken, sie von der Tür fernhalten, klingelnde Nachbarn abwimmeln. Er ist gleichzeitig ihr Pfleger und Hüter ihres Rausches. Der Roman widmet der tauben Regelmäßigkeit im Tagesablauf der alkoholkranken Agnes Bain Hunderte Seiten. Vor ihrem kleinen Sohn verhält sie sich, als wäre sie unbeobachtet, deshalb wird der kindliche Blick zum klinischen Wahrheitsinstrument. Plausibel ist die Erzählperspektive nicht immer, Stuart wechselt die Perspektiven munter durch, manchmal innerhalb einzelner Absätze, für den Booker Prize hat es trotzdem gereicht. Einen eigenen Preis hätte die Übersetzerin Sophie Zeitz verdient, die den Glasgower Stahlarbeiterdialekt in ein ortloses Proletarier-Deutsch übertragen hat, das nach Rostock und Bottrop, nach Rothmann und Grass gleichzeitig klingt, aber tatsächlich das Kunststück vollbringt, kein Regionalismus zu werden.
Ein Tag im Leben der Agnes Bain startet also in der Regel damit, dass sie angekleidet auf dem Sofa aufwacht, einen trockenen Mund hat und würgen muss, weil die Galle in ihrem Rachen brennt. Auf ihrem Arm hängt noch der Telefonhörer, weil sie nachts, wenn sie sich in die Nähe der Bewusstlosigkeit getrunken hat, stets Leute anruft, die sie für ihr Schicksal verantwortlich macht, und die sie wüst beschimpft: alte Schulfreunde, Nachbarinnen, den Taxifunk. Dann lauscht sie eine Weile dem Pochen in ihrem Kopf. Dann stellt sie fest, dass das Haus leer ist, und der Junge offenbar wieder allein zur Schule gegangen ist.
Dann zündet sie sich eine Zigarette an und begibt sich auf die Suche nach halbvollen Flaschen, Dosen, Teetassen, und stößt währenddessen „durch ihre Vorderzähne schrille, schlürfende Geräusche der Wut aus“. Wenn die Sozialhilfe, die montags ausbezahlt wird, aufgebraucht ist, bricht sie den Gaszähler auf, und trägt die Münzen zum Laden. Den Rest des Monats wird es wieder kalt sein in der Wohnung. Und wenn Shuggie nach der Schule nach Hause kommt, wird er sie wieder so betrunken vorfinden, dass er nach Essen gar nicht fragt, sondern sich in seinem winzigen Zimmer vor ihrem ziellosen Zorn verborgen hält.
Die Besonderheit des Romans besteht nun darin, dass er diese depravierte Lebensweise, die sich permanent am Rande des Tierischen, Kreatürlichen bewegt, sprachlich kontrastiert mit opernhaften, opulenten Bildern und einem eisernen Willen zur Schönheit. Als Shug seine Frau an einer Stelle wieder einmal zusammenschlägt, sie an ihren Haaren zu Boden reißt und die Tür gegen ihren Hinterkopf schlägt, „als wäre sie eine störrische Teppichdecke“, und ihr dann gegen das Kinn tritt, sodass ihre „perlweiße Haut“ aufplatzt, liegt Agnes am Ende des Absatzes „glitzernd und flauschig am Boden wie ein abgelegtes Partykleid“.
Der Alkohol hat Agnes jeder Persönlichkeitsmerkmale beraubt, außergewöhnlich schön bleibt sie aber bis zum Ende. Shuggie Bain kann sich nicht sattsehen an ihr, er erlebt sie als makellos und engelsgleich, als eine schottische Undine. Ihr Wille zur Schönheit hat nicht zuletzt eine moralische Dimension: Er erhebt sie in den Augen des Sohnes über die Nachbarinnen, die sich kaum mehr die Mühe machen, überhaupt aus ihren Pyjamas zu steigen, bevor sie sich am Bordsteinrand zu ihren Zigarettenrunden treffen. Agnes hingegen lässt, selbst wenn keinerlei Essen mehr im Hause ist und Shuggie nach der Schule wieder ein paar Schluck Starkbier trinkt, um das Rumoren seines leeren Magens zu beruhigen, auf ihr Äußeres nichts kommen. Bevor sie das Haus verlässt, legt sie Ohrringe und Lippenstift an, zieht den guten Mantel über und klebt die Laufmaschen ihrer Strumpfhosen.
Zwei Jahrzehnte arbeitete Douglas Stuart hauptberuflich als Modedesigner in New York, unter anderem für Calvin Klein und Ralph Lauren. Der amerikanischen Vogue sagte er nach dem Booker Prize in einem Interview, die Mode habe ihn vor allem deshalb interessiert, weil sie „Geschichten erzählen könne“. Das Prinzip der Auflösung sozialer Widersprüche in Opulenz überträgt er in „Shuggie Bain“ zurück auf die Romanform, weshalb der nun über weite Strecken aussieht, als habe Tyler Mitchell die Glasgower Arbeitersiedlungen fotografiert. Kunstphilosophisch ist die Geste nicht ganz uninteressant ist: Liegt in opulenter Schönheit, im Effekt, in der Illusion letztlich doch eine erlösende Kraft, eine Ermächtigungsform, die existenzielle Härten zu bannen imstande ist, auch in der Literatur? In Deutschland hat nicht zuletzt Friedrich Schiller genau das lange geglaubt.
Agnes Bain jedenfalls sieht schon einmal aus, wie eine „Göttin der Rosen“, wenn sie erhobenen Hauptes und mit frischem Nagellack durch ihr Elendsviertel zum Alkoholgeschäft marschiert, die „roten Äderchen von den Jahren der Winter und des Trinkens strahlten fröhlich auf ihren Wangen. Es war, als hätte sie Walt Disney persönlich angemalt und zum Leben erweckt, eine handfeste, rauchende Version von Schneewittchen“. Wenn sich die Größe eines Autors an der Furchtlosigkeit bemisst, mit der er sich dem Klischee, ja dem Kitsch nähert, ist mit diesem Debüt ein großer Autor geboren.
Das zentrale Stilmittel ist die
groteske Bösartigkeit der
Figuren, ihre Gnadenlosigkeit
Soziale Widersprüche in
Opulenz auflösen: Ein Prinzip
der Mode geht in Literatur über
Die Industriestadt Glasgow traf die Thatcher-Ära hart: Stadtbild aus den Achtzigerjahren.
Foto: raymond depardon / Magnum Photos / Agentur Focus
Douglas Stuart: Shuggie Bain. Roman. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hanser Berlin,
Berlin 2021.
496 Seiten, 26 Euro.
Douglas Stuart ist in Glasgow geboren. Für sein Debüt „Shuggie Bain“ bekam er gleich den Booker Prize.
Foto: Clive Smith
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2021Es steckte einfach in ihm
Böse feixen die Kinder: Douglas Stuarts preisgekrönter Roman "Shuggie Bain" verliert die literarische Ästhetik aus dem Blick
Die Szene könnte ans Herz gehen. Wie der ganze Roman spielt sie in der Trostlosigkeit eines Arbeiter- oder vielmehr Arbeitslosenviertels im Glasgow der Achtzigerjahre, mitten in der Thatcher-Ära. Der siebenjährige Shuggie, gepeinigt von seinen Mitschülern, weil er lieber mit seiner Puppe als mit dem Fußball spielt, flüchtet sich hinter ein Wirtshaus. Dort entdeckt er zwischen Bierlachen eine benzinverschmutzte Pfütze, auf der "bunte Regenbögen" schimmern. Was treibt nun der Junge? "Shuggie kniete sich hin und tauchte Daphnes blondes Haar" - Daphne ist der Name seiner Puppe - "in die schillernde Pfütze." Aber: "Als er sie wieder herauszog, hatte ihr glänzendes gelbes Haar die Farbe der Nacht, und er schnalzte mit der Zunge. Wo waren die schönen Regenbogenfarben jetzt?" Der Junge, die Puppe, die Regenbogenfarben, umgeben von einer feindlichen Umwelt, die alle Schönheit und jede Hoffnung zunichtemacht: Angesichts dieser leider allzu dick aufgetragenen Schlüsselszene stellt sich die Frage, ob der Roman trotz oder gerade ihretwegen im letzten Jahr mit dem Booker-Preis ausgezeichnet worden ist.
Zu vermuten ist jedenfalls, dass vordringlich moralische Gründe für die Juroren ausschlaggebend waren. "Shuggie Bain" erzählt von einem zarten, sensiblen Jungen in einer chauvinistischen, von Armut, Gewalt und Alkohol geprägten Wirklichkeit. Das gibt Lesern zwar die Möglichkeit zur Identifikation: "Shuggie - ach, Shuggie!", mit diesem Gefühlsausruf des Kritikers und Schriftstellers Daniel Schreiber bewirbt der Hanser Verlag den Roman nicht ohne Grund. Literarisch reizvoll ist diese Gegensatzwelt aber deswegen noch lange nicht. Wie ermahnt der grobschlächtige, kaltherzige Sportlehrer jenen Schüler, der Shuggie soeben mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat? Natürlich mit den Worten: "Du sollst keine Mädchen schlagen!" Und selbstverständlich bricht daraufhin die ganze Klasse "in Gelächter aus". Über das gedankliche und darstellerische Niveau eines mittelguten Jugendromans reicht "Shuggie Bain" in solchen Passagen nicht hinaus.
Aber auch dort, wo Stuart ganz bewusst Zitate in seinen Roman einfügt, ergibt sich daraus kaum erzählerischer Mehrwert. Tanzend im Wohnzimmer, dabei "schrille, feminine" Schreie ausstoßend, bemerkt Shuggie, dass ihn einige Kinder aus der Nachbarschaft durchs Fenster beobachten. Sie feixen böse. In diesem Moment tritt die Mutter ins Zimmer, und es entspannt sich ein charakteristischer Dialog: "Wenn ich du wäre, würde ich weitermachen." - "Ich kann nicht." - "Du weißt, dass sie nur gewinnen, wenn du sie gewinnen lässt." - "Ich kann nicht." - "Gib ihnen die Genugtuung nicht." - "Mammy, hilf mir. Ich kann nicht." - "Doch. Du. Kannst." Und schließlich: "Kopf hoch, und gib Gas." Dann heißt es: "Im ersten Moment war es schwer, wieder in Bewegung zu kommen, die Musik zu spüren, zu dem anderen Ort im Kopf zurückzufinden, wo er Selbstbewusstsein hatte. Aber es steckte einfach in ihm, und als es aus ihm herausbrach, stellte er fest, dass er es nicht aufhalten konnte."
Der Verweis auf Stephen Daldrys Kinoerfolg "Billy Elliot - I Will Dance" und die überkuratiert wirkende Dialogführung sind das eine. Das andere ist das ominöse "Es", von dem am Ende der Passage die Rede ist: Es steckte in ihm, er konnte es nicht aufhalten, es brach aus ihm heraus. Wovon ist die Rede? Wohl doch vom triebhaften "Es" im Sinne Freuds, das sich in der geschilderten Szene gegen die Kontrolle durch das rationalistische "Ich" zur Wehr setzt und schließlich heldenhaft siegt. Feinfühlig geht anders, zumal das Reflektierte des Vorgangs ("er stellte fest, dass er es nicht aufhalten konnte") wohl eher der Wahrnehmung eines Erwachsenen als der eines Kindes entspricht.
Und doch macht die Tanzszene eines unmissverständlich klar: dass Shuggie ohne seine Mutter Agnes verloren wäre. Sie lebt ihm vor, wie man wieder aufsteht: "Wenn sie sich im Suff blamiert hatte, war sie am nächsten Tag aufgestanden, hatte ihren besten Mantel angezogen und war der Welt entgegengetreten." Was für den Sohn gilt, gilt aber auch für den Roman, weil einzig Agnes ihm einen sporadischen Plot verleiht: Über Hunderte von Seiten hinweg beobachtet man sie dabei, wie sie auf schmalem Grat mit ihrem Leben klarzukommen versucht.
Die Position, in die man als Leser dadurch gebracht wird, ist unangenehm: Wie lange hält Agnes dieses traurige, erbärmliche Leben, das ein ständiger Wechsel von Agonie, Exzess und Gewalt ist, noch durch? Wann wird sie endgültig stürzen? Der Leser wird so in die Rolle eines Voyeurs gebracht, der zwar mitfühlend, aber mit unaufhebbarer Distanz auf Agnes, ihren Sohn und das sie umgebende Milieu hinunterblickt. Stuart will ganz sicher auf das Gegenteil hinaus, nämlich die gesellschaftliche Empathie befördern, aber es ist die Konstruktion seines Romans, die eine klassistische Lektürehaltung provoziert. Das Buch ist ein Feel-Good Read für die Mittelklasse.
Erzählerisch reflektiert wird dieser bedenkliche Sozialrealismus an keiner Stelle. In der deutschen Übersetzung kommt allerdings, und ebenfalls unbeabsichtigt, eine Brechung ins Spiel, nämlich durch die sozio- und dialektische Figurenrede: "'Schulding Sie?', sagte er aus den Gedanken gerissen. 'Ich habse durche Scheibe nich gehört.'"
Die Übersetzerin Sophie Zeitz lässt ein leicht affektiertes Hochdeutsch auf eine Mischung aus schnoddrigem Berlinerisch, kolloquialem Nord- und proletarischem Ruhrpottdeutsch treffen. Die Grenzen der Übersetzbarkeit treten an solchen Stellen deutlich zutage, was aber gerade vorteilhaft ist, weil dadurch Stuarts auf Identifikation zielender Realismus beständig unterlaufen wird. Tatsächlich nimmt die Übersetzung dem englischsprachigen Original nichts, sondern erweitert es um eine wichtige Reflexionsebene.
"Shuggie Bain" ist Douglas Stuarts Debütroman, der Mann hat bereits eine Karriere als Modedesigner hinter sich, was sicher auch erklärt, warum er ein so starkes, noch kleinste Details berücksichtigendes Augenmerk auf Agnes' Kleidung und überhaupt auf ihr Äußeres legt. Das ist nachvollziehbar und auch überzeugend, denn hiervon hängt ja nichts Geringeres als ihr Selbsterhalt ab und die Bewunderung durch ihren Sohn. Dem Roman liegt ein emphatischer Modebegriff zugrunde. Kaum Interesse zeigt Stuart hingegen an Aspekten der literarischen Form. Sein Roman erliegt damit ebenjenem Irrtum, den der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler in seinem viel diskutierten Essay über den "Neuen Midcult" in der Gegenwartsliteratur beschrieben hat; dem Irrtum nämlich, "dass Leiden und Probleme, wie relevant auch immer, ohne formale Durcharbeitung identifikatorisch mit Kunstanspruch dargeboten, zu etwas anderem führen würden als - Kitsch".
Nun geht es überhaupt nicht darum, Romanen wie "Shuggie Bain" ihre Daseinsberechtigung abzusprechen, im Gegenteil, es stimmt wohl, dass solche Geschichten und Erfahrungen in der Vergangenheit zu selten erzählt worden sind. Aus dieser Sicht ist das Buch nur zu begrüßen. Zu Missverständnissen sollte es aber nicht kommen: Wer einen solchen Roman zu den herausragendsten Leistungen der Gegenwartsliteratur zählt, der hat die Frage nach der literarischen Ästhetik, nach der Angemessenheit des literarischen Ausdrucks im Verhältnis zum erzählten Inhalt, stillschweigend als irrelevant abgetan. Eine Verarmung dessen, wozu Literatur in der Lage ist, bedeutet dies ohne Frage. KAI SINA
Douglas Stuart: "Shuggie Bain". Roman.
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2021. 496 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Böse feixen die Kinder: Douglas Stuarts preisgekrönter Roman "Shuggie Bain" verliert die literarische Ästhetik aus dem Blick
Die Szene könnte ans Herz gehen. Wie der ganze Roman spielt sie in der Trostlosigkeit eines Arbeiter- oder vielmehr Arbeitslosenviertels im Glasgow der Achtzigerjahre, mitten in der Thatcher-Ära. Der siebenjährige Shuggie, gepeinigt von seinen Mitschülern, weil er lieber mit seiner Puppe als mit dem Fußball spielt, flüchtet sich hinter ein Wirtshaus. Dort entdeckt er zwischen Bierlachen eine benzinverschmutzte Pfütze, auf der "bunte Regenbögen" schimmern. Was treibt nun der Junge? "Shuggie kniete sich hin und tauchte Daphnes blondes Haar" - Daphne ist der Name seiner Puppe - "in die schillernde Pfütze." Aber: "Als er sie wieder herauszog, hatte ihr glänzendes gelbes Haar die Farbe der Nacht, und er schnalzte mit der Zunge. Wo waren die schönen Regenbogenfarben jetzt?" Der Junge, die Puppe, die Regenbogenfarben, umgeben von einer feindlichen Umwelt, die alle Schönheit und jede Hoffnung zunichtemacht: Angesichts dieser leider allzu dick aufgetragenen Schlüsselszene stellt sich die Frage, ob der Roman trotz oder gerade ihretwegen im letzten Jahr mit dem Booker-Preis ausgezeichnet worden ist.
Zu vermuten ist jedenfalls, dass vordringlich moralische Gründe für die Juroren ausschlaggebend waren. "Shuggie Bain" erzählt von einem zarten, sensiblen Jungen in einer chauvinistischen, von Armut, Gewalt und Alkohol geprägten Wirklichkeit. Das gibt Lesern zwar die Möglichkeit zur Identifikation: "Shuggie - ach, Shuggie!", mit diesem Gefühlsausruf des Kritikers und Schriftstellers Daniel Schreiber bewirbt der Hanser Verlag den Roman nicht ohne Grund. Literarisch reizvoll ist diese Gegensatzwelt aber deswegen noch lange nicht. Wie ermahnt der grobschlächtige, kaltherzige Sportlehrer jenen Schüler, der Shuggie soeben mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat? Natürlich mit den Worten: "Du sollst keine Mädchen schlagen!" Und selbstverständlich bricht daraufhin die ganze Klasse "in Gelächter aus". Über das gedankliche und darstellerische Niveau eines mittelguten Jugendromans reicht "Shuggie Bain" in solchen Passagen nicht hinaus.
Aber auch dort, wo Stuart ganz bewusst Zitate in seinen Roman einfügt, ergibt sich daraus kaum erzählerischer Mehrwert. Tanzend im Wohnzimmer, dabei "schrille, feminine" Schreie ausstoßend, bemerkt Shuggie, dass ihn einige Kinder aus der Nachbarschaft durchs Fenster beobachten. Sie feixen böse. In diesem Moment tritt die Mutter ins Zimmer, und es entspannt sich ein charakteristischer Dialog: "Wenn ich du wäre, würde ich weitermachen." - "Ich kann nicht." - "Du weißt, dass sie nur gewinnen, wenn du sie gewinnen lässt." - "Ich kann nicht." - "Gib ihnen die Genugtuung nicht." - "Mammy, hilf mir. Ich kann nicht." - "Doch. Du. Kannst." Und schließlich: "Kopf hoch, und gib Gas." Dann heißt es: "Im ersten Moment war es schwer, wieder in Bewegung zu kommen, die Musik zu spüren, zu dem anderen Ort im Kopf zurückzufinden, wo er Selbstbewusstsein hatte. Aber es steckte einfach in ihm, und als es aus ihm herausbrach, stellte er fest, dass er es nicht aufhalten konnte."
Der Verweis auf Stephen Daldrys Kinoerfolg "Billy Elliot - I Will Dance" und die überkuratiert wirkende Dialogführung sind das eine. Das andere ist das ominöse "Es", von dem am Ende der Passage die Rede ist: Es steckte in ihm, er konnte es nicht aufhalten, es brach aus ihm heraus. Wovon ist die Rede? Wohl doch vom triebhaften "Es" im Sinne Freuds, das sich in der geschilderten Szene gegen die Kontrolle durch das rationalistische "Ich" zur Wehr setzt und schließlich heldenhaft siegt. Feinfühlig geht anders, zumal das Reflektierte des Vorgangs ("er stellte fest, dass er es nicht aufhalten konnte") wohl eher der Wahrnehmung eines Erwachsenen als der eines Kindes entspricht.
Und doch macht die Tanzszene eines unmissverständlich klar: dass Shuggie ohne seine Mutter Agnes verloren wäre. Sie lebt ihm vor, wie man wieder aufsteht: "Wenn sie sich im Suff blamiert hatte, war sie am nächsten Tag aufgestanden, hatte ihren besten Mantel angezogen und war der Welt entgegengetreten." Was für den Sohn gilt, gilt aber auch für den Roman, weil einzig Agnes ihm einen sporadischen Plot verleiht: Über Hunderte von Seiten hinweg beobachtet man sie dabei, wie sie auf schmalem Grat mit ihrem Leben klarzukommen versucht.
Die Position, in die man als Leser dadurch gebracht wird, ist unangenehm: Wie lange hält Agnes dieses traurige, erbärmliche Leben, das ein ständiger Wechsel von Agonie, Exzess und Gewalt ist, noch durch? Wann wird sie endgültig stürzen? Der Leser wird so in die Rolle eines Voyeurs gebracht, der zwar mitfühlend, aber mit unaufhebbarer Distanz auf Agnes, ihren Sohn und das sie umgebende Milieu hinunterblickt. Stuart will ganz sicher auf das Gegenteil hinaus, nämlich die gesellschaftliche Empathie befördern, aber es ist die Konstruktion seines Romans, die eine klassistische Lektürehaltung provoziert. Das Buch ist ein Feel-Good Read für die Mittelklasse.
Erzählerisch reflektiert wird dieser bedenkliche Sozialrealismus an keiner Stelle. In der deutschen Übersetzung kommt allerdings, und ebenfalls unbeabsichtigt, eine Brechung ins Spiel, nämlich durch die sozio- und dialektische Figurenrede: "'Schulding Sie?', sagte er aus den Gedanken gerissen. 'Ich habse durche Scheibe nich gehört.'"
Die Übersetzerin Sophie Zeitz lässt ein leicht affektiertes Hochdeutsch auf eine Mischung aus schnoddrigem Berlinerisch, kolloquialem Nord- und proletarischem Ruhrpottdeutsch treffen. Die Grenzen der Übersetzbarkeit treten an solchen Stellen deutlich zutage, was aber gerade vorteilhaft ist, weil dadurch Stuarts auf Identifikation zielender Realismus beständig unterlaufen wird. Tatsächlich nimmt die Übersetzung dem englischsprachigen Original nichts, sondern erweitert es um eine wichtige Reflexionsebene.
"Shuggie Bain" ist Douglas Stuarts Debütroman, der Mann hat bereits eine Karriere als Modedesigner hinter sich, was sicher auch erklärt, warum er ein so starkes, noch kleinste Details berücksichtigendes Augenmerk auf Agnes' Kleidung und überhaupt auf ihr Äußeres legt. Das ist nachvollziehbar und auch überzeugend, denn hiervon hängt ja nichts Geringeres als ihr Selbsterhalt ab und die Bewunderung durch ihren Sohn. Dem Roman liegt ein emphatischer Modebegriff zugrunde. Kaum Interesse zeigt Stuart hingegen an Aspekten der literarischen Form. Sein Roman erliegt damit ebenjenem Irrtum, den der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler in seinem viel diskutierten Essay über den "Neuen Midcult" in der Gegenwartsliteratur beschrieben hat; dem Irrtum nämlich, "dass Leiden und Probleme, wie relevant auch immer, ohne formale Durcharbeitung identifikatorisch mit Kunstanspruch dargeboten, zu etwas anderem führen würden als - Kitsch".
Nun geht es überhaupt nicht darum, Romanen wie "Shuggie Bain" ihre Daseinsberechtigung abzusprechen, im Gegenteil, es stimmt wohl, dass solche Geschichten und Erfahrungen in der Vergangenheit zu selten erzählt worden sind. Aus dieser Sicht ist das Buch nur zu begrüßen. Zu Missverständnissen sollte es aber nicht kommen: Wer einen solchen Roman zu den herausragendsten Leistungen der Gegenwartsliteratur zählt, der hat die Frage nach der literarischen Ästhetik, nach der Angemessenheit des literarischen Ausdrucks im Verhältnis zum erzählten Inhalt, stillschweigend als irrelevant abgetan. Eine Verarmung dessen, wozu Literatur in der Lage ist, bedeutet dies ohne Frage. KAI SINA
Douglas Stuart: "Shuggie Bain". Roman.
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2021. 496 S., geb., 26,- Euro.
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