Vor 400 Jahren wurde Sibylla Schwarz in Greifswald geboren, mitten in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Mit 17 Jahren starb sie an der Ruhr. In diesem kurzen Leben verfasste Sibylla Schwarz über 100 Gedichte von großer poetischer Kraft, die auch von einem erstaunlichen Selbstbewusstsein als Bürgerin, Dichterin und Frau zeugen. Ihr Gedicht »Ein Gesang wider den Neid« wurde von der Literaturwissenschaftlerin Erika Greber als das »wohl erste kompromisslos feministische Gedicht der Weltliteratur« angesehen. Fast zwei Jahr- hunderte gehörte die Barockdichterin zu den bekanntesten weiblichen Namen der Literatur und geriet dann in Vergessenheit. Max Baitinger hat es sich zur Aufgabe gemacht, Sibylla Schwarz aus der Vergessen- heit zu holen. Er verbindet Leben und Werk der Barockdichterin mit seiner ganz eigenen Betrachtung ihrer Person und lässt die Leser:innen am Entstehungsprozess seiner Comicbiografie teilhaben. Für SIBYLLA wurde Max Baitinger 2020 mit dem Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichnet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2021So setzt man Lyrik und Lyrikerinnen in Bilder
Aberwitzige Comics aus einem gemeinsamen Atelier: Max Baitingers "Sibylla" und Anna Haifischs "The Artist - Ode an die Feder".
Von Andreas Platthaus
Comics und Lyrik - wie passt das zusammen? Natürlich kann man Bildgeschichten auch dichten, wer hätte es je eingängiger gemacht als Wilhelm Busch, der allgemein als einer der wichtigsten Vorläufer der Comics anerkannt ist? Aber gerade deshalb hat sich zumindest im deutschen Sprachraum niemand Namhafter an etwas anderem versucht als Buschs Reimschemata - siehe etwa Ralf König.
Nun jedoch kommen die beiden prominentesten Vertreter der Leipziger Comicszene, Anna Haifisch und Max Baitinger, und werfen alle Erwartungen an Lyrik im Comic über den Haufen. Die eine dichtet selbst, allerdings auf Englisch, und um es ihrem deutschen Publikum schmackhaft zu machen, musste sie erst einmal jemanden finden, der ihre "Ode an die Feder" in zwölf Akten in Haifischs Muttersprache zurückübersetzte, denn dazu sah die Autorin selbst sich außerstande. Man kann es verstehen, wenn man etwa diesen Auszug aus dem "So Forlorn" betitelten neunten Akt liest: "I dropped my milkshake seeing you / holding hands with someone new / Here I'm left without my crush / in a puddle of vanilla slush" - wer einmal "vanilla slush" in einem Reim untergebracht hat, wird das Wort nicht so einfach aufgeben wollen. Das Glück indes wollte es, dass Anna Haifisch vor Jahresfrist Zeichnungen zu einem Band von Marcel Beyer beisteuerte ("Exzess und Entzug", F.A.Z. vom 2. Januar) und sich damit einen ebenso versierten Übersetzer wie Dichter eigenen Rechts verpflichtet hatte. Der hat nun die ganze "Ode an die Feder" ins Deutsche gebracht und den eben zitierten Teil so: "Pudelnaß, ertränkt in Scham / klagte ich mich selber an / Mein Milchshake fiel, ich sah dich wandern / Hand in Hand mit jemand anderm". Man merkt Beyers Versen an, was für einen Spaß er hatte.
Anna Haifisch hatte den zweifellos auch, und die Be- und Entfremdung durch den Gebrauch der Fremdsprache enthemmte sie auf produktivste Weise. Aber selbstverständlich liest man die Bücher dieser international derzeit meistbeachteten deutschen Comiczeichnerin vor allem ihrer unnachahmlichen Bilder wegen, die längst als Kunst eigenen Rechts anerkannt und preisgekrönt sind. Protagonist der "Ode an die Feder" ist einmal mehr The Artist, ihr persönliches Alter Ego, das ganz analog zur Karriere seiner Zeichnerin mittlerweile diverse Schaffenskrisen überwunden hat und im globalen Kunstmarkt angekommen ist. Dass ihn das nicht zwingend glücklich macht, wird niemanden überraschen, der die bisherigen "The Artist"-Comics kennt.
Doch die gereimten Reflexionen der vogelschnäbeligen Hauptfigur - der Titel des Bandes ist doppeldeutig, weil diese Ode sowohl von einem Federvieh erzählt als auch Haifischs Zeichnerarbeit mit einer Feder dokumentiert - sind ein Novum im Schaffen der Leipziger Comic-Künstlerin, und sie ergänzen ihre wie immer in Neonfarben gehaltenen, meist ganzseitigen plakativen Zeichnungen perfekt. Das ist Pop-Art in Buchform, gerade auch in der Kombination der schwungvollen Linien mit der gewählten Groteskschrift. Man darf auf die internationale Rezeption gespannt sein, wenn das Buch auf Englisch herauskommt.
Haifischs Atelierkollege Max Baitinger wiederum versucht sich in seinem Comic "Sibylla" an etwas ganz anderem aus dem Bereich der Lyrik. Anlässlich des diesjährigen vierhundertsten Geburtstags von Sibylla Schwarz wurde er von einem das Andenken der Greifswalder Barockdichterin pflegenden Verein dafür gewonnen, ihr Leben zum Thema eines biographischen Comics zu machen. Die Ideengeber werden Baitingers Werk nicht gut gekannt haben, sonst hätten sie wissen können, dass dieser Zeichner seinen eigenen Kopf hat. Stattdessen bot man ihm Hilfe bei der Arbeit an: Informationen, Zitatauswahlen, Korrekturen. Was Baitinger in den Comic selbst einfließen lässt und mit Blick etwa auf ein Änderungsersuchen bei einer Darstellung des Landhauses der Familie Schwarz in Frätow schreibt: "Dem Hinweis des architekturkundigen Mitglieds habe ich nichts hinzuzufügen. Ich füge nicht hinzu, dass weder dieses . . ." - und Baitinger zeichnet dazu ein Frank-Lloyd-Wright-Haus - ". . . noch dieses das Landhaus der Schwarzens sei" - und zeichnet eine norwegische Stabkirche. Danach folgen noch eine Strandszene aus der Normandie und eine Krakelzeichnung der Protagonistin: "Oder dass dies nicht der Greifswalder Bodden und dies hier nicht Sibylla Schwarz, er aber durchaus eine Pfeife ist." Und Baitinger beschließt die Sequenz mit Matisses berühmtem Motiv von "Ceci n'est pas une pipe", allerdings mit barocker Meerschaumpfeife. Dieser Comiczeichner weiß, wie man mit allen Mitteln und Traditionen des eigenen Metiers spielt.
So macht er aus der Biographie der im Dreißigjährigen Krieg aufgewachsenen und im Alter von nur siebzehn Jahren schon gestorbenen Sibylla Schwarz einen Hexensabbat der Real- und Kunstgeschichte, in dem Reminiszenzen an Hieronymus Bosch, Breughel, Frans Hals, Max Klinger, den Surrealismus, A. R. Penck und viele mehr sich ein Stelldichein geben - verbunden mit der für Baitinger so typischen Piktogrammatik seiner Figuren und einem Gruß an die Kollegin Haifisch und deren Vorliebe für anthropomorphe Tiere als Comic-Akteure. Doch bei all dieser Schaulust kommt die schwarzsche Lyrik nicht zu kurz. Immer wieder flicht Baitinger Verszeilen aus deren Sonetten ein und schließt sie kurz mit seiner Handlung, die aus den wenigen gesicherten Fakten übers Leben der Dichterin eine fiktive Schreckensgeschichte macht, die in ihrer schwarzgrotesken Stimmung den Vergleich mit Grimmelshausens "Simplicissimus" nicht zu scheuen braucht. Der hatte ja schon einmal ein grafisch revolutionäres Unternehmen in Deutschland inspiriert: die gleichnamige Münchner Satirezeitschrift, deren Zeichner am Fin de Siècle Epoche in der Kunst- und Komikgeschichte machten.
Max Baitinger bestreitet seine Comicrevolution allerdings ganz allein. "Sibylla" ist das klügste und frechste Buch seines Metiers seit Langem. Nicht nur mit Blick auf die hiesige Comic-Szene, sondern weit über deren Grenzen hinaus.
Max Baitinger: "Sibylla".
Reprodukt Verlag, Berlin 2021. 176 S., geb., 24,- Euro.
Anna Haifisch: "The Artist - Ode an die Feder".
Aus dem Englischen von Marcel Beyer. Reprodukt Verlag, Berlin 2021. 104 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aberwitzige Comics aus einem gemeinsamen Atelier: Max Baitingers "Sibylla" und Anna Haifischs "The Artist - Ode an die Feder".
Von Andreas Platthaus
Comics und Lyrik - wie passt das zusammen? Natürlich kann man Bildgeschichten auch dichten, wer hätte es je eingängiger gemacht als Wilhelm Busch, der allgemein als einer der wichtigsten Vorläufer der Comics anerkannt ist? Aber gerade deshalb hat sich zumindest im deutschen Sprachraum niemand Namhafter an etwas anderem versucht als Buschs Reimschemata - siehe etwa Ralf König.
Nun jedoch kommen die beiden prominentesten Vertreter der Leipziger Comicszene, Anna Haifisch und Max Baitinger, und werfen alle Erwartungen an Lyrik im Comic über den Haufen. Die eine dichtet selbst, allerdings auf Englisch, und um es ihrem deutschen Publikum schmackhaft zu machen, musste sie erst einmal jemanden finden, der ihre "Ode an die Feder" in zwölf Akten in Haifischs Muttersprache zurückübersetzte, denn dazu sah die Autorin selbst sich außerstande. Man kann es verstehen, wenn man etwa diesen Auszug aus dem "So Forlorn" betitelten neunten Akt liest: "I dropped my milkshake seeing you / holding hands with someone new / Here I'm left without my crush / in a puddle of vanilla slush" - wer einmal "vanilla slush" in einem Reim untergebracht hat, wird das Wort nicht so einfach aufgeben wollen. Das Glück indes wollte es, dass Anna Haifisch vor Jahresfrist Zeichnungen zu einem Band von Marcel Beyer beisteuerte ("Exzess und Entzug", F.A.Z. vom 2. Januar) und sich damit einen ebenso versierten Übersetzer wie Dichter eigenen Rechts verpflichtet hatte. Der hat nun die ganze "Ode an die Feder" ins Deutsche gebracht und den eben zitierten Teil so: "Pudelnaß, ertränkt in Scham / klagte ich mich selber an / Mein Milchshake fiel, ich sah dich wandern / Hand in Hand mit jemand anderm". Man merkt Beyers Versen an, was für einen Spaß er hatte.
Anna Haifisch hatte den zweifellos auch, und die Be- und Entfremdung durch den Gebrauch der Fremdsprache enthemmte sie auf produktivste Weise. Aber selbstverständlich liest man die Bücher dieser international derzeit meistbeachteten deutschen Comiczeichnerin vor allem ihrer unnachahmlichen Bilder wegen, die längst als Kunst eigenen Rechts anerkannt und preisgekrönt sind. Protagonist der "Ode an die Feder" ist einmal mehr The Artist, ihr persönliches Alter Ego, das ganz analog zur Karriere seiner Zeichnerin mittlerweile diverse Schaffenskrisen überwunden hat und im globalen Kunstmarkt angekommen ist. Dass ihn das nicht zwingend glücklich macht, wird niemanden überraschen, der die bisherigen "The Artist"-Comics kennt.
Doch die gereimten Reflexionen der vogelschnäbeligen Hauptfigur - der Titel des Bandes ist doppeldeutig, weil diese Ode sowohl von einem Federvieh erzählt als auch Haifischs Zeichnerarbeit mit einer Feder dokumentiert - sind ein Novum im Schaffen der Leipziger Comic-Künstlerin, und sie ergänzen ihre wie immer in Neonfarben gehaltenen, meist ganzseitigen plakativen Zeichnungen perfekt. Das ist Pop-Art in Buchform, gerade auch in der Kombination der schwungvollen Linien mit der gewählten Groteskschrift. Man darf auf die internationale Rezeption gespannt sein, wenn das Buch auf Englisch herauskommt.
Haifischs Atelierkollege Max Baitinger wiederum versucht sich in seinem Comic "Sibylla" an etwas ganz anderem aus dem Bereich der Lyrik. Anlässlich des diesjährigen vierhundertsten Geburtstags von Sibylla Schwarz wurde er von einem das Andenken der Greifswalder Barockdichterin pflegenden Verein dafür gewonnen, ihr Leben zum Thema eines biographischen Comics zu machen. Die Ideengeber werden Baitingers Werk nicht gut gekannt haben, sonst hätten sie wissen können, dass dieser Zeichner seinen eigenen Kopf hat. Stattdessen bot man ihm Hilfe bei der Arbeit an: Informationen, Zitatauswahlen, Korrekturen. Was Baitinger in den Comic selbst einfließen lässt und mit Blick etwa auf ein Änderungsersuchen bei einer Darstellung des Landhauses der Familie Schwarz in Frätow schreibt: "Dem Hinweis des architekturkundigen Mitglieds habe ich nichts hinzuzufügen. Ich füge nicht hinzu, dass weder dieses . . ." - und Baitinger zeichnet dazu ein Frank-Lloyd-Wright-Haus - ". . . noch dieses das Landhaus der Schwarzens sei" - und zeichnet eine norwegische Stabkirche. Danach folgen noch eine Strandszene aus der Normandie und eine Krakelzeichnung der Protagonistin: "Oder dass dies nicht der Greifswalder Bodden und dies hier nicht Sibylla Schwarz, er aber durchaus eine Pfeife ist." Und Baitinger beschließt die Sequenz mit Matisses berühmtem Motiv von "Ceci n'est pas une pipe", allerdings mit barocker Meerschaumpfeife. Dieser Comiczeichner weiß, wie man mit allen Mitteln und Traditionen des eigenen Metiers spielt.
So macht er aus der Biographie der im Dreißigjährigen Krieg aufgewachsenen und im Alter von nur siebzehn Jahren schon gestorbenen Sibylla Schwarz einen Hexensabbat der Real- und Kunstgeschichte, in dem Reminiszenzen an Hieronymus Bosch, Breughel, Frans Hals, Max Klinger, den Surrealismus, A. R. Penck und viele mehr sich ein Stelldichein geben - verbunden mit der für Baitinger so typischen Piktogrammatik seiner Figuren und einem Gruß an die Kollegin Haifisch und deren Vorliebe für anthropomorphe Tiere als Comic-Akteure. Doch bei all dieser Schaulust kommt die schwarzsche Lyrik nicht zu kurz. Immer wieder flicht Baitinger Verszeilen aus deren Sonetten ein und schließt sie kurz mit seiner Handlung, die aus den wenigen gesicherten Fakten übers Leben der Dichterin eine fiktive Schreckensgeschichte macht, die in ihrer schwarzgrotesken Stimmung den Vergleich mit Grimmelshausens "Simplicissimus" nicht zu scheuen braucht. Der hatte ja schon einmal ein grafisch revolutionäres Unternehmen in Deutschland inspiriert: die gleichnamige Münchner Satirezeitschrift, deren Zeichner am Fin de Siècle Epoche in der Kunst- und Komikgeschichte machten.
Max Baitinger bestreitet seine Comicrevolution allerdings ganz allein. "Sibylla" ist das klügste und frechste Buch seines Metiers seit Langem. Nicht nur mit Blick auf die hiesige Comic-Szene, sondern weit über deren Grenzen hinaus.
Max Baitinger: "Sibylla".
Reprodukt Verlag, Berlin 2021. 176 S., geb., 24,- Euro.
Anna Haifisch: "The Artist - Ode an die Feder".
Aus dem Englischen von Marcel Beyer. Reprodukt Verlag, Berlin 2021. 104 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus erfreut sich an der Frechheit, mit der Max Baitinger die kurze Lebensgeschichte der Barockdichterin Sibylla Schwarz in Bilder fasst. Alles nur keine langweilig naturgetreu wiedergegebene Vita darf der Betrachter erwarten, warnt Platthaus. Wie Baitinger mit den Fakten wie mit den Traditionen seiner Kunst zu spielen weiß, die Biografie in einen "Hexensabbat der Kunstgeschichte" a la Grimmelshausen transformiert und Hieronymus Bosch, Max Klinger, Breughel und A. R. Penck zitiert, scheint Platthaus künstlerisch überzeugend. Die Schwarz'schen Verse vergisst der Autor darüber nicht, sondern bindet sie in die Handlung mit ein, erklärt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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