Dass sich die Vorstellungen von innerer und äußerer Sicherheit in Westeuropa und Russland unterscheiden, zeigt aktuell die Krise der Ukraine. Dieser Band russischer und deutscher Forscher gibt Einblick in die jeweiligen Konzepte.Akteure, Diskurse und Praktiken, die für die Sicherheit im nationalstaatlichen und internationalen Rahmen verantwortlich waren, werden analysiert und konkrete Sicherheitsproblematiken aus russischer oder deutscher Sicht behandelt - von regionalen Konflikten der Zeit um 1920 bis zum Kaukasuskonflikt der Gegenwart. Durch Resümees in der jeweils anderen Sprache gewinnen die Leser dieses Kooperationsbandes Einblick in einen ebenso schwierigen wie notwendigen Dialog zu einem brisanten Thema.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2015Kulturen der Sicherheit
Wieder und wieder eskaliert die Lage in der Ostukraine. Ein Waffenstillstand, der seinen Namen verdient, ist nicht in Sicht, von Frieden ganz zu schweigen. Warum haben Berlins Vermittlungsbemühungen bislang nicht nachhaltig Erfolg? Es könnte an den verschiedenen historischen Sicherheitskulturen liegen, die im Ukraine-Konflikt aufeinanderprallen. Im März 2012 trafen sich Historiker, Philosophen, Soziologen und Politikwissenschaftler an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften (RSUG) in Moskau in Kooperation und mit Unterstützung der Freien Universität Berlin und ihres Moskauer Büros zu einer internationalen Konferenz, die Sicherheitskulturen in Deutschland und Russland seit dem späten neunzehnten Jahrhundert verglich.
Die Ergebnisse liegen nun in einem erhellenden Band vor, mit dem für die Historiographie ein neues Arbeitsgebiet erschlossen wird ("Sicherheitskulturen im Vergleich. Deutschland und Russland/UdSSR seit dem späten 19. Jahrhundert." Hrsg. von Arnd Bauerkämper und Natalia Rostislavleva, Paderborn 2014).
Natalia Rostislavleva, Direktorin des russisch-deutschen Wissenschafts- und Lehrzentrums der RSUG, hat anhand der Werke der russischen Historiker M. M. Kovalevskij, N. I. Kareev, A. K. Dzivelegov und W. P. Buseskul die Wechselbeziehungen zwischen Freiheit und Sicherheit in den historischen Studien in Russland an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert rekonstruiert. Dabei zeigt sich, dass diese Geschichtswissenschaftler die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit durch das Prisma der Geschichte Englands, Frankreichs, Deutschlands und der Vereinigten Staaten betrachteten. Zugleich nahmen Zensur und Universitätsreglements auf Lehre und Forschung derart Einfluss, dass die wissenschaftlichen Akteure ihr Verständnis von Sicherheit jeweils neu bestimmten und mit ihren Freiheitskonzepten abwogen.
Elementare Auswirkungen bis in diese Tage dürfte haben, was Rostislavlevas Kollegin Alexandra Bachturina beschreibt: dass sich die russischen Eliten bereits vor 1914 der fehlenden Verbindung zwischen dem Zentrum und den Grenzgebieten des Russischen Reiches bewusst gewesen seien. In der Folge - um die als territoriale Integrität des Zarenreiches verstandene Sicherheit zu gewährleisten - initiierten vor allem Nikolai Bunge und Pjotr Stolypin Entwicklungsprojekte, um die peripheren Regionen enger in das Zarenreich zu integrieren. Jedoch waren diese Politik und Programme wie die gezielten Deportationen in Grenzgebiete auch nach Bachturinas Urteil letztlich nicht erfolgreich.
Bei den Wahrnehmungen von Unsicherheit, den entsprechenden Debatten in der Zwischenkriegszeit und den Wirkungen auf die Sicherheitskulturen nach 1945 stellt Ilya Zhenin, ebenfalls RSUG, fest, dass die Geschichte der Weimarer Republik in den russischen Diskursen seit 1990 mit Unsicherheit assoziiert und damit negativ konnotiert worden sei. In seinem Vergleich der gegenwärtigen Sicherheitslage Russlands mit derjenigen der Weimarer Republik erkennt er gemeinsame Züge wie die Suche nach Schuldigen und die Genese einer "souveränen Demokratie".
Als Hintergrund kann dienen, was Sergej Kretinin von der Staatlichen Universität Woronesch herausarbeitet: Zwischen 1918 und 1922 betrachteten die Bolschewiki Polen als Raum für die Erweiterung der Revolution. Dagegen nahmen die politischen Eliten in Deutschland die polnischen Nachbarn durch das Prisma des schlesischen Aufstands wahr. Sie hatten Angst vor dem Beginn einer Weltrevolution und befürchteten die Unterstützung der polnischen regionalen Bewegungen durch Frankreich. Dabei interpretiert Kretinin den sowjetisch-polnischen Krieg und die Konfrontation in Oberschlesien als neuen, grenzüberschreitenden Typ regionaler Konflikte, die letztlich maßgeblich zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beigetragen hätten.
Für die Zeit nach 1945 ruft Aleksej Sindeev vom Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften den Beitrag der europäischen Zusammenarbeit zur Entwicklung der deutschen Sicherheitskultur in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Erinnerung. Zusammen mit der beginnenden Entspannungspolitik und der Anerkennung vieler Staaten des Warschauer Pakts habe die europäische Integration das Sicherheitsdenken westdeutscher Politiker verändert und eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion begründet, die auch mit einer engeren wirtschaftlichen Kooperation einhergegangen sei. In Zukunft müsse Sicherheit im bilateralen Verhältnis, aber auch in der Kooperation zwischen Russland und der Europäischen Union noch weiter gefasst und vor allem eine klare, langfristig angelegte sicherheitspolitische Strategie der Gemeinschaft gegenüber der östlichen Großmacht entwickelt werden.
Dass sich diese nun, zumindest kurz- und mittelfristig, auf Sanktionen gegen Russland als Antwort auf eine erneute imperiale Expansionsstrategie des Kreml konzentrieren muss, konnte im März 2012 bei der Moskauer Konferenz zu den Sicherheitskulturen Deutschlands und Russlands zwar noch niemand ahnen, zeigt aber, wie zentral dieser Untersuchungsgegenstand nicht nur für das Verständnis des Ukraine-Konflikts ist, sondern auch für das entsprechende Handeln.
THOMAS SPECKMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wieder und wieder eskaliert die Lage in der Ostukraine. Ein Waffenstillstand, der seinen Namen verdient, ist nicht in Sicht, von Frieden ganz zu schweigen. Warum haben Berlins Vermittlungsbemühungen bislang nicht nachhaltig Erfolg? Es könnte an den verschiedenen historischen Sicherheitskulturen liegen, die im Ukraine-Konflikt aufeinanderprallen. Im März 2012 trafen sich Historiker, Philosophen, Soziologen und Politikwissenschaftler an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften (RSUG) in Moskau in Kooperation und mit Unterstützung der Freien Universität Berlin und ihres Moskauer Büros zu einer internationalen Konferenz, die Sicherheitskulturen in Deutschland und Russland seit dem späten neunzehnten Jahrhundert verglich.
Die Ergebnisse liegen nun in einem erhellenden Band vor, mit dem für die Historiographie ein neues Arbeitsgebiet erschlossen wird ("Sicherheitskulturen im Vergleich. Deutschland und Russland/UdSSR seit dem späten 19. Jahrhundert." Hrsg. von Arnd Bauerkämper und Natalia Rostislavleva, Paderborn 2014).
Natalia Rostislavleva, Direktorin des russisch-deutschen Wissenschafts- und Lehrzentrums der RSUG, hat anhand der Werke der russischen Historiker M. M. Kovalevskij, N. I. Kareev, A. K. Dzivelegov und W. P. Buseskul die Wechselbeziehungen zwischen Freiheit und Sicherheit in den historischen Studien in Russland an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert rekonstruiert. Dabei zeigt sich, dass diese Geschichtswissenschaftler die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit durch das Prisma der Geschichte Englands, Frankreichs, Deutschlands und der Vereinigten Staaten betrachteten. Zugleich nahmen Zensur und Universitätsreglements auf Lehre und Forschung derart Einfluss, dass die wissenschaftlichen Akteure ihr Verständnis von Sicherheit jeweils neu bestimmten und mit ihren Freiheitskonzepten abwogen.
Elementare Auswirkungen bis in diese Tage dürfte haben, was Rostislavlevas Kollegin Alexandra Bachturina beschreibt: dass sich die russischen Eliten bereits vor 1914 der fehlenden Verbindung zwischen dem Zentrum und den Grenzgebieten des Russischen Reiches bewusst gewesen seien. In der Folge - um die als territoriale Integrität des Zarenreiches verstandene Sicherheit zu gewährleisten - initiierten vor allem Nikolai Bunge und Pjotr Stolypin Entwicklungsprojekte, um die peripheren Regionen enger in das Zarenreich zu integrieren. Jedoch waren diese Politik und Programme wie die gezielten Deportationen in Grenzgebiete auch nach Bachturinas Urteil letztlich nicht erfolgreich.
Bei den Wahrnehmungen von Unsicherheit, den entsprechenden Debatten in der Zwischenkriegszeit und den Wirkungen auf die Sicherheitskulturen nach 1945 stellt Ilya Zhenin, ebenfalls RSUG, fest, dass die Geschichte der Weimarer Republik in den russischen Diskursen seit 1990 mit Unsicherheit assoziiert und damit negativ konnotiert worden sei. In seinem Vergleich der gegenwärtigen Sicherheitslage Russlands mit derjenigen der Weimarer Republik erkennt er gemeinsame Züge wie die Suche nach Schuldigen und die Genese einer "souveränen Demokratie".
Als Hintergrund kann dienen, was Sergej Kretinin von der Staatlichen Universität Woronesch herausarbeitet: Zwischen 1918 und 1922 betrachteten die Bolschewiki Polen als Raum für die Erweiterung der Revolution. Dagegen nahmen die politischen Eliten in Deutschland die polnischen Nachbarn durch das Prisma des schlesischen Aufstands wahr. Sie hatten Angst vor dem Beginn einer Weltrevolution und befürchteten die Unterstützung der polnischen regionalen Bewegungen durch Frankreich. Dabei interpretiert Kretinin den sowjetisch-polnischen Krieg und die Konfrontation in Oberschlesien als neuen, grenzüberschreitenden Typ regionaler Konflikte, die letztlich maßgeblich zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beigetragen hätten.
Für die Zeit nach 1945 ruft Aleksej Sindeev vom Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften den Beitrag der europäischen Zusammenarbeit zur Entwicklung der deutschen Sicherheitskultur in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Erinnerung. Zusammen mit der beginnenden Entspannungspolitik und der Anerkennung vieler Staaten des Warschauer Pakts habe die europäische Integration das Sicherheitsdenken westdeutscher Politiker verändert und eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion begründet, die auch mit einer engeren wirtschaftlichen Kooperation einhergegangen sei. In Zukunft müsse Sicherheit im bilateralen Verhältnis, aber auch in der Kooperation zwischen Russland und der Europäischen Union noch weiter gefasst und vor allem eine klare, langfristig angelegte sicherheitspolitische Strategie der Gemeinschaft gegenüber der östlichen Großmacht entwickelt werden.
Dass sich diese nun, zumindest kurz- und mittelfristig, auf Sanktionen gegen Russland als Antwort auf eine erneute imperiale Expansionsstrategie des Kreml konzentrieren muss, konnte im März 2012 bei der Moskauer Konferenz zu den Sicherheitskulturen Deutschlands und Russlands zwar noch niemand ahnen, zeigt aber, wie zentral dieser Untersuchungsgegenstand nicht nur für das Verständnis des Ukraine-Konflikts ist, sondern auch für das entsprechende Handeln.
THOMAS SPECKMANN
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