In der ersten Erzählung geht es um eine reale Person: Sidonia, eine ganz außergewöhnliche junge Frau, die im 18. Jahrhundert lebte. Sie war nicht nur Dichterin, sondern sogar kaiserlich gekrönte Poetin - und dennoch schlug ihr in ihrer Zeit viel Ablehnung entgegen, während sie heute fast vergessen
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Besonders der Kontrast zwischen Sidonia und ihrer Schwester Martha macht glasklar, wie sehr…mehrIn der ersten Erzählung geht es um eine reale Person: Sidonia, eine ganz außergewöhnliche junge Frau, die im 18. Jahrhundert lebte. Sie war nicht nur Dichterin, sondern sogar kaiserlich gekrönte Poetin - und dennoch schlug ihr in ihrer Zeit viel Ablehnung entgegen, während sie heute fast vergessen ist.
Besonders der Kontrast zwischen Sidonia und ihrer Schwester Martha macht glasklar, wie sehr das, was Sidonia sich vom Leben wünscht, mit dem bricht, was von ihr erwartet wird - Martha, das Musterbild der "guten" Frau, sorgt sich um ihren Haushalt, ihre Kinder, ihren Mann, und erwartet darüber hinaus keine Selbsterfüllung. Sofia dagegen verschafft sich ihre Freiheiten, trotzt sie ihrem Leben entschlossen ab, was die Autorin hier sehr prägnant darstellt.
Sidonias "Stimme" empfand ich als sehr sympathisch und glaubhaft, und mir hat gut gefallen, mit welch scharfem Verstand sie ihre Zeit und die Gesellschaft, in der sie lebt, beobachtet.
Meist sind historische Fakten gut in die Geschichte verwoben, aber es gibt auch immer wieder Szenen, in denen sie wie Fremdkörper störend herausstechen, und dann hatte ich das Gefühl, dass die Erzählung mir nicht ganz den Sprung ermöglicht vom historischen zum literarischen Interesse.
In der zweiten Erzählung geht es um die literarisch begabte, psychisch kranke Sofia, die im aufgeklärten 20. Jahrhundert lebt - aber ihre Eltern gehören einer christlichen Sekte an, die den Frauen wenig mehr Rechte zugesteht, als sie Sidonia im 18. Jahrhundert hatte.
Sofia kommt hier nur posthum durch ihr Tagebuch zu Wort, das geprägt ist von getriebenen, fiebrigen Wahnvorstellungen. Deswegen hatte ich das Gefühl, die wahre Sofia weniger als Person kennenzulernen als als ihre Krankheit und deren Auswirkungen auf die ohnehin gestörte Familienwelt. Das hat mir gefehlt und es mir schwer gemacht, wirklich in ihre Geschichte einzutauchen.
Interessant ist in meinen Augen, wie sie in ihren Wahnvorstellungen ihren tatsächlichen Alltag zu etwas Albtraumhaften macht: die Mutter als Oger.
Cornelia ist die Angepasste, Brave, die jetzt den Nachlass ihres Vaters abwickelt. Dabei denkt sie über ihre Familie nach, während sie als Architektin für einen Kunden ausgerechnet ein Glashaus baut... Wir sehen die Dinge größtenteils durch ihre Augen, wobei ich ihre Stimme oft als etwas emotionslos empfand und selten das Gefühl hatte, wirklich mit ihr mitzufühlen.
Ich finde es schwierig, diese Erzählungen nach meinen üblichen Kriterien zu beurteilen, aber zusammenfassend möchte ich sagen:
Beide Erzählungen sind für mich eher gesammelte Momentaufnahmen aus den Leben der beiden Frauen als Geschichten mit klassischem Spannungsbogen. Obwohl das sicher so beabsichtigt ist, fehlte mir dadurch das Hinfiebern auf Konflikt und Auflösung, und daher konnten mich die Geschichten auch nicht so recht packen, obwohl ich die Themen (Frauenrechte, Geschlechterrollen, literarische Selbstverwirklichung) hochinteressant fand.
Die Charaktere konnten mich nur zum Teil fesseln; besonders fehlte mir in der zweiten Erzählung der "Draht" zu Sofia.
Manchmal gefiel mir der Schreibstil richtig gut. Dann fand ich ihn lebendig - voll dichter Atmosphäre und viel Liebe zum prägnanten Detail - und spürte dahinter eine große Tiefe. Oft ist er meines Erachtens aber auch holprig und abgehackt, gelegentlich sogar etwas steril.
Was mich sehr gestört und immer wieder aus dem Fluss der Geschichte gerissen hat:
Besonders in der ersten Erzählung springen Zeitformen und Erzählperspektive immer wieder hin und her. Ein Absatz kann mit einem auktorialen Erzähler im Präteritum beginnen und in der Ich-Perspektive im Präsens enden. Das kann in meinen Augen gut funktionieren, wenn es gezielt als Stilmittel eingesetzt wird, um dramatische, emotionale oder anderweitig hervorzuhebende Schlüsselszenen besonders zu betonen, aber hier erscheint es mir meist eher willkürlich.