"Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe" - Natascha Wodins Mutter sagte diesen Satz immer wieder und nahm doch, was sie meinte, mit ins Grab. Da war die Tochter zehn und wusste nicht viel mehr, als dass sie zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war. Wieso lebten sie in einem der Lager für "Displaced Persons", woher kam die Mutter, und was hatte sie erlebt? Erst Jahrzehnte später öffnet sich die Blackbox ihrer Herkunft, erst ein bisschen, dann immer mehr.
"Sie kam aus Mariupol" ist das außergewöhnliche Buch einer Spurensuche. Natascha Wodin geht dem Leben ihrer ukrainischen Mutter nach, die aus der Hafenstadt Mariupol stammte und mit ihrem Mann 1943 als "Ostarbeiterin" nach Deutschland verschleppt wurde. Sie erzählt beklemmend, ja bestürzend intensiv vom Anhängsel des Holocaust, einer Fußnote der Geschichte: der Zwangsarbeit im Dritten Reich. Ihre Mutter, die als junges Mädchen den Untergang ihrer Adelsfamilie im stalinistischen Terror miterlebte, bevor sie mit ungewissem Ziel ein deutsches Schiff bestieg, tritt wie durch ein spätes Wunder aus der Anonymität heraus, bekommt ein Gesicht, das unvergesslich ist. "Meine arme, kleine, verrückt gewordene Mutter", kann Natascha Wodin nun zärtlich sagen, und auch für uns Leser wird begreifbar, was verlorenging. Dass es dieses bewegende, dunkel-leuchtende Zeugnis eines Schicksals gibt, das für Millionen anderer steht, ist ein literarisches Ereignis.
"Das erinnert nicht von ungefähr an die Verfahrensweise, mit der W. G. Sebald, der große deutsche Gedächtniskünstler, verlorene Lebensläufe der Vergessenheit entriss." (Sigrid Löffler in ihrer Laudatio auf Natascha Wodin bei der Verleihung des Alfred-Döblin-Preises 2015)
"Sie kam aus Mariupol" ist das außergewöhnliche Buch einer Spurensuche. Natascha Wodin geht dem Leben ihrer ukrainischen Mutter nach, die aus der Hafenstadt Mariupol stammte und mit ihrem Mann 1943 als "Ostarbeiterin" nach Deutschland verschleppt wurde. Sie erzählt beklemmend, ja bestürzend intensiv vom Anhängsel des Holocaust, einer Fußnote der Geschichte: der Zwangsarbeit im Dritten Reich. Ihre Mutter, die als junges Mädchen den Untergang ihrer Adelsfamilie im stalinistischen Terror miterlebte, bevor sie mit ungewissem Ziel ein deutsches Schiff bestieg, tritt wie durch ein spätes Wunder aus der Anonymität heraus, bekommt ein Gesicht, das unvergesslich ist. "Meine arme, kleine, verrückt gewordene Mutter", kann Natascha Wodin nun zärtlich sagen, und auch für uns Leser wird begreifbar, was verlorenging. Dass es dieses bewegende, dunkel-leuchtende Zeugnis eines Schicksals gibt, das für Millionen anderer steht, ist ein literarisches Ereignis.
"Das erinnert nicht von ungefähr an die Verfahrensweise, mit der W. G. Sebald, der große deutsche Gedächtniskünstler, verlorene Lebensläufe der Vergessenheit entriss." (Sigrid Löffler in ihrer Laudatio auf Natascha Wodin bei der Verleihung des Alfred-Döblin-Preises 2015)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2017Meine Mutter, die Unberührbare
Natascha Wodin hat die Geschichte ihrer Familie recherchiert: "Sie kam aus Mariupol" erzählt aus großer Nähe von den Katastrophen eines Jahrhunderts.
Von Andreas Kilb
Ungefähr auf halber Strecke ihres Buches kommen der Autorin ernste Zweifel am Sinn ihres Tuns. "Was ging mich das alles an", fragt Natascha Wodin sich und ihre Leser, "das sowjetische und das postsowjetische Fiasko, das nie endende russische Fatum, das Nichtaufwachenkönnen aus einem kollektiven Albtraum, das Gefangensein zwischen Untertanentum und Anarchie, zwischen Leidensgeduld und Gewalt, diese ganze unaufgeklärte, finstere Welt, diese Familiengeschichte aus Ohnmacht, Besitzergreifung, Willkür und Tod, dieses unselige Russland - die ewige Mater Dolorosa, die ihre Kinder so unerbittlich umarmte?"
Ja, was? Gerade hat Natascha Wodin bei ihrer Recherche über die Geschichte ihrer Vorfahren herausgefunden, dass ihr Großcousin Kiril, der Enkel ihrer Tante Lidia, seine eigene Mutter getötet hat. Sie sieht sie vor sich, "meine Cousine Jelena, mit den Pranken des Riesenbabys um ihren Hals". Mit diesem Bild vor Augen denkt die Autorin an ihre eigene Kindheit zurück, ihren Weg aus einer Wohnanlage für "Displaced Persons", für Zwangsarbeiter und Heimatvertriebene, in eine selbständige Existenz als Dolmetscherin und Schriftstellerin. "Ich hatte als Mädchen instinktiv genau das Richtige getan, indem ich das Weite gesucht, mich gerettet hatte vor meinen Ursprüngen, ohne zu ahnen, wovon ich in Wirklichkeit ein Teil war." Jetzt aber melden sich die Ursprünge zurück, die familiäre Herkunft, und mit ihr das Gefühl, "dass ich in einem giftigen, verdorbenen Grund wurzelte, aus dem sogar ein Muttermörder hervorgegangen war". All die Fluchtversuche, die Aufbrüche in ein Leben ohne Fatum und Fiasko, so scheint es, waren vergebens.
Es ist nur ein kurzer Moment der Resignation in diesem ganz und gar unresignierten und tapferen Buch, ein Augenblick der Mutlosigkeit, bevor die Suche nach den Ursprüngen, nach der Großmutter des Muttermörders und den anderen Familienmitgliedern, die allesamt jenem unseligen Russland entstammen, mit unverminderter Energie weitergeht. Aber dieser Augenblick der Finsternis ist für das Verständnis des Buches wichtiger als jeder andere, denn er schafft die Grundierung, vor der sich Natascha Wodins autobiographische Erzählung um so heller abhebt. Die Schriftstellerin, 1945 in Fürth geboren, hätte sich das alles ja auch ersparen können. Ihre Hassliebe zu Russland hat sie schon in ihrem Romandebüt "Die gläserne Stadt" beschworen, ihre Kindheit in Mittelfranken in "Die Ehe" und "Einmal lebt ich", und in "Nachtgeschwister", dem bisher erfolgreichsten Roman, hat sie ihrer Liebesbeziehung zu dem verstorbenen Schriftsteller Wolfgang Hilbig ein bewegendes Denkmal gesetzt.
Natascha Wodin, könnte man sagen, ist mit sich im Reinen. Doch es gibt einen Menschen, dessen Tod und dessen Leben sie nicht verwunden hat, und das ist ihre Mutter. Erst später, fast ganz am Ende in diesem Buch, werden wir erfahren, dass die Erzählerin nur deshalb annimmt, ihr Großcousin Kiril habe seine Mutter eigenhändig erwürgt, weil sie selbst als Kind die würgenden Hände ihrer Mutter an ihrem Hals gespürt hat.
Jewgenia Jakowlewa Iwatschenko. So lautet der Name, den Natascha Wodin eines Nachts im Sommer in die Suchmaschine ihres Computers eintippt, ohne auf ein brauchbares Ergebnis zu hoffen. Fast fünfzig Jahre ist es her, so erfahren wir, dass Wodins Mutter, ebenjene Jewgenia, ihrem Leben im Wasser der Regnitz bei Forchheim ein Ende gesetzt hat. Die Chance, etwas über sie und ihre Vorfahren in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol herauszubekommen, ist minimal. Aber dann zeigt der Browser den eingegebenen Suchbegriff auf einer Website mit dem Titel "Azov's Greeks" an, und als die Schriftstellerin den Link öffnet, stellt sie fest, dass die dort verzeichnete Jewgenia Jakowlewa im selben Jahr am selben Ort geboren wurde wie ihre Mutter.
Als Natascha Wodin eine Anfrage startet, meldet sich ein gewisser Konstantin und bietet an, ihr bei der Suche nach Familienangehörigen weiterzuhelfen. Sie antwortet, er schickt ihr per E-Mail die Scans eines vergilbten Zeitungsartikels und einer alten Ordensurkunde, und so, nicht in langsamen Schritten, sondern in unvermuteten Schüben, öffnet sich für Natascha Wodin das, was sie "die Blackbox meines Lebens" nennt: die Geschichte einer russisch-griechischen Großfamilie, deren Mitglieder Zeugen und Opfer der zwei großen Menschheitsverbrechen wurden, die sich im zwanzigsten Jahrhundert im östlichen Teil des europäischen Kontinents ereigneten - stalinistische Massenverfolgungen und deutscher Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.
Die Website "Azov's Greeks" gibt es tatsächlich, auch wenn der Name und die Biographie, die die Autorin ihrem Helfer aus den Weiten des Internets gibt, offenbar fiktiv sind, denn an der Stelle jenes Konstantin steht ein Igor Tasiz, der im Text sonst nicht auftaucht, an der Spitze der Danksagungsliste am Ende des Buches. Auch die darin aufgeführten Daten und Fakten zur Geschichte der Stadt Mariupol, der Universität von Odessa, der Stalinschen Straflager am Weißen Meer und des Systems der Zwangsarbeit, durch das zwischen 1941 und 1944 Hunderttausende aus der Ukraine nach Westen zum Einsatz in der deutschen Rüstungsindustrie verfrachtet wurden, sind historisch belegt. Und dennoch ist "Sie kam aus Mariupol" kein bloßer Tatsachenbericht, sondern ein Stück Literatur. Das liegt nicht nur an der Sprache der Autorin, die auf jeder Stufe ihrer Suche jene zerbrechliche Balance zwischen Distanz und Nähe hält, die ihre Erzählung vor dem Abkippen in Betroffenheits- wie Belehrungsprosa gleichermaßen bewahrt. Es liegt vor allem an der Form, die Natascha Wodin ihrer Familienrecherche gegeben hat.
Nur scheinbar nämlich ist "Sie kam aus Mariupol" ein geradlinig durchgeschriebenes Buch. Je länger man in ihm liest, desto genauer erkennt man, wie geschickt Natascha Wodin ihre so spontan wirkende Recherche strukturiert hat. Das beginnt mit dem Schauplatz, einer Wohnung am Schaalsee in Mecklenburg, die die Autorin mit einer Freundin teilt. Die gleißenden Sonnenaufgänge, die sie dort jeden Morgen erlebt, sind ebenso Metapher wie biographischer Ausgangspunkt ihrer Recherche. Das Licht aus dem Osten erhellt die Welt, auch die ihrer Kindheit, die durch das Nachzeichnen der Familiengeschichte klarere Konturen bekommt. Zugleich spiegelt sich in der sommerlichen Stille des Sees das verlorene Paradies der polyglotten Küstenstadt Mariupol. Deren Kolorit zeichnet die Autorin mit ihrer deutschen Palette nach, so wie sie die Farben der Bürgerkriegs- und Hungerjahre, der Terrorwellen, mit der Stalin sein in allen Fugen ächzendes Reich überzieht, und des Arbeitslagers, in dem ihre Tante Lidia die besten Jahre ihres Lebens vergeudet, aus eigener Erfahrung ergänzt. So wie alle Geschichten ist auch diese eine Erfindung, ein Akt der Phantasie, und am glaubwürdigsten wirkt sie dort, wo sie am deutlichsten erfunden ist wie bei der Schilderung jenes Nachmittags im Frühjahr 1945, an dem ihre Eltern, zwei ausgemergelte "Ostarbeiter" in einer Leipziger Waffenfabrik, das Kind Natascha Wodin zeugten.
Im Zentrum all der Familienporträts, der feigen und tapferen, begabten und talentlosen, lebenslustigen und verschlossenen, singenden und schreibenden Onkel, Tanten, Cousins, Großmütter und Großväter steht eine Leerstelle: Jewgenia Jakowlewa Iwaschtschenko, die Mutter. Ihr Bildnis wird nie fertig, weil sie es selbst in den Fluten der Regnitz zerstört hat. Mit jedem Verwandten, dessen Lebensspuren sie ausgräbt, wird der Erzählerin schmerzlicher bewusst, wie wenig sie über jene Frau weiß, die sie als zehnjähriges Mädchen in der "Stadt ohne Mitleid" - so hieß ein damals in Forchheim gedrehter Film - allein zurückließ. Ein Kinderfoto, das sie im Lauf ihrer Suche entdeckt, zeigt ihr die Mutter als außerirdische Erscheinung: "Eine kleine, in weiße Spitze gehüllte Prinzessin der unheilbaren Traurigkeit." Auf dem tiefsten Grund von Natascha Wodins Buch liegt die Sehnsucht, dieses unberührbare Wesen in die Arme nehmen und trösten zu können.
Es hat jüngst kluge Bücher über den Albtraum des zwanzigsten Jahrhunderts gegeben, von Orlando Figes' "Flüsterern" bis zu Timothy Snyders "Bloodlands". Sie alle erzählen die Geschichte der Gewalt so, wie sie in den Archiven erscheint, als weit entferntes blutiges Gewimmel. Natascha Wodin zeigt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Geschehen. Aber sie holt es so nah heran, dass wir unsere eigene Geschichte darin gespiegelt sehen. Der Preis für diese Wahrheit ist ein Leben. Auch das lernt man in diesem Buch.
Natascha Wodin: "Sie kam aus Mariupol".
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 368 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Natascha Wodin hat die Geschichte ihrer Familie recherchiert: "Sie kam aus Mariupol" erzählt aus großer Nähe von den Katastrophen eines Jahrhunderts.
Von Andreas Kilb
Ungefähr auf halber Strecke ihres Buches kommen der Autorin ernste Zweifel am Sinn ihres Tuns. "Was ging mich das alles an", fragt Natascha Wodin sich und ihre Leser, "das sowjetische und das postsowjetische Fiasko, das nie endende russische Fatum, das Nichtaufwachenkönnen aus einem kollektiven Albtraum, das Gefangensein zwischen Untertanentum und Anarchie, zwischen Leidensgeduld und Gewalt, diese ganze unaufgeklärte, finstere Welt, diese Familiengeschichte aus Ohnmacht, Besitzergreifung, Willkür und Tod, dieses unselige Russland - die ewige Mater Dolorosa, die ihre Kinder so unerbittlich umarmte?"
Ja, was? Gerade hat Natascha Wodin bei ihrer Recherche über die Geschichte ihrer Vorfahren herausgefunden, dass ihr Großcousin Kiril, der Enkel ihrer Tante Lidia, seine eigene Mutter getötet hat. Sie sieht sie vor sich, "meine Cousine Jelena, mit den Pranken des Riesenbabys um ihren Hals". Mit diesem Bild vor Augen denkt die Autorin an ihre eigene Kindheit zurück, ihren Weg aus einer Wohnanlage für "Displaced Persons", für Zwangsarbeiter und Heimatvertriebene, in eine selbständige Existenz als Dolmetscherin und Schriftstellerin. "Ich hatte als Mädchen instinktiv genau das Richtige getan, indem ich das Weite gesucht, mich gerettet hatte vor meinen Ursprüngen, ohne zu ahnen, wovon ich in Wirklichkeit ein Teil war." Jetzt aber melden sich die Ursprünge zurück, die familiäre Herkunft, und mit ihr das Gefühl, "dass ich in einem giftigen, verdorbenen Grund wurzelte, aus dem sogar ein Muttermörder hervorgegangen war". All die Fluchtversuche, die Aufbrüche in ein Leben ohne Fatum und Fiasko, so scheint es, waren vergebens.
Es ist nur ein kurzer Moment der Resignation in diesem ganz und gar unresignierten und tapferen Buch, ein Augenblick der Mutlosigkeit, bevor die Suche nach den Ursprüngen, nach der Großmutter des Muttermörders und den anderen Familienmitgliedern, die allesamt jenem unseligen Russland entstammen, mit unverminderter Energie weitergeht. Aber dieser Augenblick der Finsternis ist für das Verständnis des Buches wichtiger als jeder andere, denn er schafft die Grundierung, vor der sich Natascha Wodins autobiographische Erzählung um so heller abhebt. Die Schriftstellerin, 1945 in Fürth geboren, hätte sich das alles ja auch ersparen können. Ihre Hassliebe zu Russland hat sie schon in ihrem Romandebüt "Die gläserne Stadt" beschworen, ihre Kindheit in Mittelfranken in "Die Ehe" und "Einmal lebt ich", und in "Nachtgeschwister", dem bisher erfolgreichsten Roman, hat sie ihrer Liebesbeziehung zu dem verstorbenen Schriftsteller Wolfgang Hilbig ein bewegendes Denkmal gesetzt.
Natascha Wodin, könnte man sagen, ist mit sich im Reinen. Doch es gibt einen Menschen, dessen Tod und dessen Leben sie nicht verwunden hat, und das ist ihre Mutter. Erst später, fast ganz am Ende in diesem Buch, werden wir erfahren, dass die Erzählerin nur deshalb annimmt, ihr Großcousin Kiril habe seine Mutter eigenhändig erwürgt, weil sie selbst als Kind die würgenden Hände ihrer Mutter an ihrem Hals gespürt hat.
Jewgenia Jakowlewa Iwatschenko. So lautet der Name, den Natascha Wodin eines Nachts im Sommer in die Suchmaschine ihres Computers eintippt, ohne auf ein brauchbares Ergebnis zu hoffen. Fast fünfzig Jahre ist es her, so erfahren wir, dass Wodins Mutter, ebenjene Jewgenia, ihrem Leben im Wasser der Regnitz bei Forchheim ein Ende gesetzt hat. Die Chance, etwas über sie und ihre Vorfahren in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol herauszubekommen, ist minimal. Aber dann zeigt der Browser den eingegebenen Suchbegriff auf einer Website mit dem Titel "Azov's Greeks" an, und als die Schriftstellerin den Link öffnet, stellt sie fest, dass die dort verzeichnete Jewgenia Jakowlewa im selben Jahr am selben Ort geboren wurde wie ihre Mutter.
Als Natascha Wodin eine Anfrage startet, meldet sich ein gewisser Konstantin und bietet an, ihr bei der Suche nach Familienangehörigen weiterzuhelfen. Sie antwortet, er schickt ihr per E-Mail die Scans eines vergilbten Zeitungsartikels und einer alten Ordensurkunde, und so, nicht in langsamen Schritten, sondern in unvermuteten Schüben, öffnet sich für Natascha Wodin das, was sie "die Blackbox meines Lebens" nennt: die Geschichte einer russisch-griechischen Großfamilie, deren Mitglieder Zeugen und Opfer der zwei großen Menschheitsverbrechen wurden, die sich im zwanzigsten Jahrhundert im östlichen Teil des europäischen Kontinents ereigneten - stalinistische Massenverfolgungen und deutscher Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.
Die Website "Azov's Greeks" gibt es tatsächlich, auch wenn der Name und die Biographie, die die Autorin ihrem Helfer aus den Weiten des Internets gibt, offenbar fiktiv sind, denn an der Stelle jenes Konstantin steht ein Igor Tasiz, der im Text sonst nicht auftaucht, an der Spitze der Danksagungsliste am Ende des Buches. Auch die darin aufgeführten Daten und Fakten zur Geschichte der Stadt Mariupol, der Universität von Odessa, der Stalinschen Straflager am Weißen Meer und des Systems der Zwangsarbeit, durch das zwischen 1941 und 1944 Hunderttausende aus der Ukraine nach Westen zum Einsatz in der deutschen Rüstungsindustrie verfrachtet wurden, sind historisch belegt. Und dennoch ist "Sie kam aus Mariupol" kein bloßer Tatsachenbericht, sondern ein Stück Literatur. Das liegt nicht nur an der Sprache der Autorin, die auf jeder Stufe ihrer Suche jene zerbrechliche Balance zwischen Distanz und Nähe hält, die ihre Erzählung vor dem Abkippen in Betroffenheits- wie Belehrungsprosa gleichermaßen bewahrt. Es liegt vor allem an der Form, die Natascha Wodin ihrer Familienrecherche gegeben hat.
Nur scheinbar nämlich ist "Sie kam aus Mariupol" ein geradlinig durchgeschriebenes Buch. Je länger man in ihm liest, desto genauer erkennt man, wie geschickt Natascha Wodin ihre so spontan wirkende Recherche strukturiert hat. Das beginnt mit dem Schauplatz, einer Wohnung am Schaalsee in Mecklenburg, die die Autorin mit einer Freundin teilt. Die gleißenden Sonnenaufgänge, die sie dort jeden Morgen erlebt, sind ebenso Metapher wie biographischer Ausgangspunkt ihrer Recherche. Das Licht aus dem Osten erhellt die Welt, auch die ihrer Kindheit, die durch das Nachzeichnen der Familiengeschichte klarere Konturen bekommt. Zugleich spiegelt sich in der sommerlichen Stille des Sees das verlorene Paradies der polyglotten Küstenstadt Mariupol. Deren Kolorit zeichnet die Autorin mit ihrer deutschen Palette nach, so wie sie die Farben der Bürgerkriegs- und Hungerjahre, der Terrorwellen, mit der Stalin sein in allen Fugen ächzendes Reich überzieht, und des Arbeitslagers, in dem ihre Tante Lidia die besten Jahre ihres Lebens vergeudet, aus eigener Erfahrung ergänzt. So wie alle Geschichten ist auch diese eine Erfindung, ein Akt der Phantasie, und am glaubwürdigsten wirkt sie dort, wo sie am deutlichsten erfunden ist wie bei der Schilderung jenes Nachmittags im Frühjahr 1945, an dem ihre Eltern, zwei ausgemergelte "Ostarbeiter" in einer Leipziger Waffenfabrik, das Kind Natascha Wodin zeugten.
Im Zentrum all der Familienporträts, der feigen und tapferen, begabten und talentlosen, lebenslustigen und verschlossenen, singenden und schreibenden Onkel, Tanten, Cousins, Großmütter und Großväter steht eine Leerstelle: Jewgenia Jakowlewa Iwaschtschenko, die Mutter. Ihr Bildnis wird nie fertig, weil sie es selbst in den Fluten der Regnitz zerstört hat. Mit jedem Verwandten, dessen Lebensspuren sie ausgräbt, wird der Erzählerin schmerzlicher bewusst, wie wenig sie über jene Frau weiß, die sie als zehnjähriges Mädchen in der "Stadt ohne Mitleid" - so hieß ein damals in Forchheim gedrehter Film - allein zurückließ. Ein Kinderfoto, das sie im Lauf ihrer Suche entdeckt, zeigt ihr die Mutter als außerirdische Erscheinung: "Eine kleine, in weiße Spitze gehüllte Prinzessin der unheilbaren Traurigkeit." Auf dem tiefsten Grund von Natascha Wodins Buch liegt die Sehnsucht, dieses unberührbare Wesen in die Arme nehmen und trösten zu können.
Es hat jüngst kluge Bücher über den Albtraum des zwanzigsten Jahrhunderts gegeben, von Orlando Figes' "Flüsterern" bis zu Timothy Snyders "Bloodlands". Sie alle erzählen die Geschichte der Gewalt so, wie sie in den Archiven erscheint, als weit entferntes blutiges Gewimmel. Natascha Wodin zeigt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Geschehen. Aber sie holt es so nah heran, dass wir unsere eigene Geschichte darin gespiegelt sehen. Der Preis für diese Wahrheit ist ein Leben. Auch das lernt man in diesem Buch.
Natascha Wodin: "Sie kam aus Mariupol".
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 368 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2017Weiße Hände, dunkle Zeit
In ihrem Roman „Sie kam aus Mariupol“ erkundet Natascha Wodin die Herkunftswelt
ihrer Mutter. Sie steht damit zu Recht auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse
VON HANS-PETER KUNISCH
Die Geschichte von der „Gläsernen Stadt“, in der „die Häuser, die Möbel, die Straßen, selbst die Schuhe an den Füßen der Bewohner“ aus Glas sind, wirkt in der ärmlich-dreckigen Nachkriegswelt der fränkischen Provinz, in der Natascha Wodins Ich-Erzählerin aufwächst, wie ein Märchen vom anderen Stern. Im weniger richtigen Leben wohnt das 1945 geborene Mädchen, dessen Mutter von der Stadt aus Glas erzählt, im Schuppen einer Eisenfabrik, dann in den verwanzten Baracken von Valka, einem berüchtigten Nürnberger Lager für Displaced Persons. Selbst das Haus am Rand von Forchheim, in das die Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter mit den Eltern zieht, wird nie sauber. Der Vater, der sich als Hühnerzüchter versucht, kommt betrunken und gewaltlüstern nach Hause, ist mit seiner Frau und ihren „kleinen weißen Händen“ nie zufrieden.
„Die gläserne Stadt“ war im Jahr 1983 Natascha Wodins Erzähldebüt. In ihrem neuen Roman „Sie kam aus Mariupol“, der auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises steht, kehrt diese Geschichte als Chiffre des Geheimnisses wieder, von dem das Leben der Mutter umgeben ist. Nahezu unverstellt geht Wodin diesem Geheimnis nach. Irgendwann tippt sie den Namen ins russische Internet. Schon seit Langem will sie, die nach katholischem Mädchenheim, Obdachlosigkeit, Telefonistinnen- und Stenotypistinnendasein schließlich Russisch-Dolmetscherin und Schriftstellerin wurde, ein Buch über diese Frau schreiben, die sie kaum kennt.
Denn die Mutter ging aus ihrer elenden Nachkriegsexistenz in den Fluss, die Regnitz, als die Tochter zehn Jahre alt war. Schon vorher war das Leben Nataschas nicht leicht. Den Kindern von Nazis und Mitläufern gefällt es, das Russenmädchen zu jagen. Sie rennt, lügt sich eine fürstliche Herkunft herbei, wird der giftigen, diebischen Göre ähnlich, die man ihr auf den Leib dichtet. Auch die Mutter hält sie für das Böse selbst. Einmal versucht die Tochter auf dilettantische Weise, sie mit Nadeln im Bett umzubringen.
Jahrzehnte nach dieser dunklen Kindheit entdeckt die fast siebzigjährige Tochter, dass die Stadt Mariupol, die sie sich eiskalt und lebensfeindlich vorgestellt hatte, im Süden der Ukraine liegt, am Asowschen Meer, mit Sommertemperaturen bis zu vierzig Grad. Natascha muss ihr Mutterbild revidieren, an die Stelle von Mantel und Eis treten Meer und Sandalen.
Aber die Suche hat erst begonnen. Im Internet trifft Natascha Wodin auf Konstantin, einen ukrainischen Genealogie-Freak, der in Russland wohnt und ihre fiebrige Suche unterstützt. Die geisterhafte Beziehung zu Konstantin trägt den ersten Teil des Buchs. Das Hin und Her im Internet, dessen erotisches Potenzial für Betagte, die ungesehen bleiben wollen, schon in Natascha Wodins Roman „Alter, fremdes Land“ eine wichtige Rolle spielte, kommt hier etwas redselig daher. Richtig in Fahrt kommt „Mariupol“ erst, als die Erzählerin im Netz auf Lidia stößt, die Schwester der Mutter, und auf deren Tochter und Enkel. Der Enkel erzählt von seiner eigenen kleinen Familie, und dass er seine Mutter umgebracht habe, wegen einer psychischen Störung aber als nicht schuldfähig gelte.
Das Entsetzen über die virtuelle Begegnung mit dem friedlichen Monster ist der eigentliche emotionale Auftakt des Buchs. Wodins Angst und Abscheu treten vielleicht auch deshalb so markant hervor, weil sie als Kind selber ihre Mutter umbringen wollte. Und sie lässt sich die zwei Hefte mit dem Lebensbericht schicken, die Lidia hinterlassen und ein Cousin gefunden hat. Dieser Lebensbericht wird zum Höhepunkt des Romans.
Und das, obwohl er zunächst einen schroffen Stilbruch bedeutet. Nach alltagssprachlichem Geplauder zu Beginn des Buchs, einem schwelgerisch-poetischen Versinken in einem Recherche-Sommer am mecklenburgischen Schaalsee und dramaturgisch inszenierten Tagen vor dem Computer folgt nun ein radikaler Sprung in die Geschichte der eigenen Familie und der Ukraine. Man erfährt vom Leben im ursprünglich griechischen Mariupol, wird in die Russische Revolution versetzt. Wodin bearbeitet, verkürzt die Vorlage, wählt einen dürren, nahezu dokumentarischen Stil, und rasch wird klar, warum. So viel an familiengeschichtlichen Erinnerungen wie an politischen Ereignissen kommt hier zusammen, dass jedes poetische Aufblähen des Stoffes gefährlich gewesen wäre.
Irgendwo in ihren Kindheitserinnerungen hat Natascha Wodin das Detail aufbewahrt, ein Vorfahre der Mutter sei Italiener gewesen. Jetzt erfährt sie, dass die Urgroßeltern De Martinos hießen, über den damals florierenden Kohlehandel zu den reichsten Kaufleuten der Stadt gehörten und in einem fürstlichen Haus lebten, das auch die Eltern der Mutter aufnahm. Der Vater, ein verarmter Rechtsanwalt, der auf der Seite der Bolschewiken stand, wurde von den Schwiegereltern verachtet, obwohl auch sie begriffen, dass die Zeit der Zaren zu Ende ging.
Die Figur von Wodins Mutter, das erklärte ursprüngliche Ziel der Recherche, tritt im Laufe des Buches zurück. Von der neun Jahre älteren Schwester wird sie kaum erwähnt, in dieser tritt eine neue Erzählerin in den Vordergrund und wird zur Hauptfigur. Die neue Erzählstimme ist markant genug, um diese Verschiebung und den damit verbundenen Stilwechsel nicht als störend erscheinen zu lassen. Durch die Perspektive der 1911 geborenen Schwester treten die vorrevolutionären Verhältnisse im Haus anschaulich hervor. Wodins Mutter, Jahrgang 1920, hat diese Pracht nie erlebt. Ihr Leben begann im Chaos und fand nicht mehr heraus. Nur ihre weißen Hände, die nicht Socken stopfen konnten, verweisen noch auf die vorrevolutionäre Welt. Sie konnte noch studieren und fand eine Anstellung beim deutschen „Arbeitsamt“, der Vermittlungsstelle für Zwangsarbeiter.
Mit nicht geringem Pathos versetzt sich Wodin in den Alltag dieser „Sklaven unserer Kultur“, wie Himmler sie nannte. Ob aber die deutsche Existenz der Eltern eine Folge von „Verschleppung“ war? Auch der Vater, der seine erste, jüdische Frau auf der Höhe der Verfolgungen verließ, hat eine zwiespältige Geschichte, die ihm unter russischer Besatzung nicht bekommen wäre. Natascha Wodin ist auf beider Seite, sie beurteilt die Eltern nicht. Ihr ist ein so klassisches wie außergewöhnliches Buch gelungen. Geradlinigkeit wird darin weder stilistisch noch thematisch angestrebt. Und man kann hier gut auf sie verzichten.
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 364 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Im Internet trifft Natascha Wodin
auf einen ukrainischen
Genealogie-Freak, der ihr hilft
Aus Natascha Wodins Privatarchiv: der Bruder der Mutter zusammen mit Cousinen am Ufer des Dnjepr im Jahr 1927. Der Geburtsname der Mutter, Jewgenia Jakowlewna Iwaschtschenko, eröffnete im Archiv den Blick auf das vorrevolutionäre Leben ihrer wohlhabenden Herkunftsfamilie.
Foto: Privatarchiv Natascha Wodin
Natascha Wodin, 1945 in Fürth geboren, hat schon in ihrer Erzählung „Die gläserne Stadt“ (1983) begonnen, ihre Familiengeschichte zu erkunden.
Foto: dpa
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In ihrem Roman „Sie kam aus Mariupol“ erkundet Natascha Wodin die Herkunftswelt
ihrer Mutter. Sie steht damit zu Recht auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse
VON HANS-PETER KUNISCH
Die Geschichte von der „Gläsernen Stadt“, in der „die Häuser, die Möbel, die Straßen, selbst die Schuhe an den Füßen der Bewohner“ aus Glas sind, wirkt in der ärmlich-dreckigen Nachkriegswelt der fränkischen Provinz, in der Natascha Wodins Ich-Erzählerin aufwächst, wie ein Märchen vom anderen Stern. Im weniger richtigen Leben wohnt das 1945 geborene Mädchen, dessen Mutter von der Stadt aus Glas erzählt, im Schuppen einer Eisenfabrik, dann in den verwanzten Baracken von Valka, einem berüchtigten Nürnberger Lager für Displaced Persons. Selbst das Haus am Rand von Forchheim, in das die Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter mit den Eltern zieht, wird nie sauber. Der Vater, der sich als Hühnerzüchter versucht, kommt betrunken und gewaltlüstern nach Hause, ist mit seiner Frau und ihren „kleinen weißen Händen“ nie zufrieden.
„Die gläserne Stadt“ war im Jahr 1983 Natascha Wodins Erzähldebüt. In ihrem neuen Roman „Sie kam aus Mariupol“, der auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises steht, kehrt diese Geschichte als Chiffre des Geheimnisses wieder, von dem das Leben der Mutter umgeben ist. Nahezu unverstellt geht Wodin diesem Geheimnis nach. Irgendwann tippt sie den Namen ins russische Internet. Schon seit Langem will sie, die nach katholischem Mädchenheim, Obdachlosigkeit, Telefonistinnen- und Stenotypistinnendasein schließlich Russisch-Dolmetscherin und Schriftstellerin wurde, ein Buch über diese Frau schreiben, die sie kaum kennt.
Denn die Mutter ging aus ihrer elenden Nachkriegsexistenz in den Fluss, die Regnitz, als die Tochter zehn Jahre alt war. Schon vorher war das Leben Nataschas nicht leicht. Den Kindern von Nazis und Mitläufern gefällt es, das Russenmädchen zu jagen. Sie rennt, lügt sich eine fürstliche Herkunft herbei, wird der giftigen, diebischen Göre ähnlich, die man ihr auf den Leib dichtet. Auch die Mutter hält sie für das Böse selbst. Einmal versucht die Tochter auf dilettantische Weise, sie mit Nadeln im Bett umzubringen.
Jahrzehnte nach dieser dunklen Kindheit entdeckt die fast siebzigjährige Tochter, dass die Stadt Mariupol, die sie sich eiskalt und lebensfeindlich vorgestellt hatte, im Süden der Ukraine liegt, am Asowschen Meer, mit Sommertemperaturen bis zu vierzig Grad. Natascha muss ihr Mutterbild revidieren, an die Stelle von Mantel und Eis treten Meer und Sandalen.
Aber die Suche hat erst begonnen. Im Internet trifft Natascha Wodin auf Konstantin, einen ukrainischen Genealogie-Freak, der in Russland wohnt und ihre fiebrige Suche unterstützt. Die geisterhafte Beziehung zu Konstantin trägt den ersten Teil des Buchs. Das Hin und Her im Internet, dessen erotisches Potenzial für Betagte, die ungesehen bleiben wollen, schon in Natascha Wodins Roman „Alter, fremdes Land“ eine wichtige Rolle spielte, kommt hier etwas redselig daher. Richtig in Fahrt kommt „Mariupol“ erst, als die Erzählerin im Netz auf Lidia stößt, die Schwester der Mutter, und auf deren Tochter und Enkel. Der Enkel erzählt von seiner eigenen kleinen Familie, und dass er seine Mutter umgebracht habe, wegen einer psychischen Störung aber als nicht schuldfähig gelte.
Das Entsetzen über die virtuelle Begegnung mit dem friedlichen Monster ist der eigentliche emotionale Auftakt des Buchs. Wodins Angst und Abscheu treten vielleicht auch deshalb so markant hervor, weil sie als Kind selber ihre Mutter umbringen wollte. Und sie lässt sich die zwei Hefte mit dem Lebensbericht schicken, die Lidia hinterlassen und ein Cousin gefunden hat. Dieser Lebensbericht wird zum Höhepunkt des Romans.
Und das, obwohl er zunächst einen schroffen Stilbruch bedeutet. Nach alltagssprachlichem Geplauder zu Beginn des Buchs, einem schwelgerisch-poetischen Versinken in einem Recherche-Sommer am mecklenburgischen Schaalsee und dramaturgisch inszenierten Tagen vor dem Computer folgt nun ein radikaler Sprung in die Geschichte der eigenen Familie und der Ukraine. Man erfährt vom Leben im ursprünglich griechischen Mariupol, wird in die Russische Revolution versetzt. Wodin bearbeitet, verkürzt die Vorlage, wählt einen dürren, nahezu dokumentarischen Stil, und rasch wird klar, warum. So viel an familiengeschichtlichen Erinnerungen wie an politischen Ereignissen kommt hier zusammen, dass jedes poetische Aufblähen des Stoffes gefährlich gewesen wäre.
Irgendwo in ihren Kindheitserinnerungen hat Natascha Wodin das Detail aufbewahrt, ein Vorfahre der Mutter sei Italiener gewesen. Jetzt erfährt sie, dass die Urgroßeltern De Martinos hießen, über den damals florierenden Kohlehandel zu den reichsten Kaufleuten der Stadt gehörten und in einem fürstlichen Haus lebten, das auch die Eltern der Mutter aufnahm. Der Vater, ein verarmter Rechtsanwalt, der auf der Seite der Bolschewiken stand, wurde von den Schwiegereltern verachtet, obwohl auch sie begriffen, dass die Zeit der Zaren zu Ende ging.
Die Figur von Wodins Mutter, das erklärte ursprüngliche Ziel der Recherche, tritt im Laufe des Buches zurück. Von der neun Jahre älteren Schwester wird sie kaum erwähnt, in dieser tritt eine neue Erzählerin in den Vordergrund und wird zur Hauptfigur. Die neue Erzählstimme ist markant genug, um diese Verschiebung und den damit verbundenen Stilwechsel nicht als störend erscheinen zu lassen. Durch die Perspektive der 1911 geborenen Schwester treten die vorrevolutionären Verhältnisse im Haus anschaulich hervor. Wodins Mutter, Jahrgang 1920, hat diese Pracht nie erlebt. Ihr Leben begann im Chaos und fand nicht mehr heraus. Nur ihre weißen Hände, die nicht Socken stopfen konnten, verweisen noch auf die vorrevolutionäre Welt. Sie konnte noch studieren und fand eine Anstellung beim deutschen „Arbeitsamt“, der Vermittlungsstelle für Zwangsarbeiter.
Mit nicht geringem Pathos versetzt sich Wodin in den Alltag dieser „Sklaven unserer Kultur“, wie Himmler sie nannte. Ob aber die deutsche Existenz der Eltern eine Folge von „Verschleppung“ war? Auch der Vater, der seine erste, jüdische Frau auf der Höhe der Verfolgungen verließ, hat eine zwiespältige Geschichte, die ihm unter russischer Besatzung nicht bekommen wäre. Natascha Wodin ist auf beider Seite, sie beurteilt die Eltern nicht. Ihr ist ein so klassisches wie außergewöhnliches Buch gelungen. Geradlinigkeit wird darin weder stilistisch noch thematisch angestrebt. Und man kann hier gut auf sie verzichten.
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 364 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Im Internet trifft Natascha Wodin
auf einen ukrainischen
Genealogie-Freak, der ihr hilft
Aus Natascha Wodins Privatarchiv: der Bruder der Mutter zusammen mit Cousinen am Ufer des Dnjepr im Jahr 1927. Der Geburtsname der Mutter, Jewgenia Jakowlewna Iwaschtschenko, eröffnete im Archiv den Blick auf das vorrevolutionäre Leben ihrer wohlhabenden Herkunftsfamilie.
Foto: Privatarchiv Natascha Wodin
Natascha Wodin, 1945 in Fürth geboren, hat schon in ihrer Erzählung „Die gläserne Stadt“ (1983) begonnen, ihre Familiengeschichte zu erkunden.
Foto: dpa
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Ein großer und wichtiger Text über das Vergessen. (...) Seinen Höhepunkt hat dieses hochspannende, glänzend geschriebene, den Rahmen einer Suche nach den eigenen Wurzeln weit überschreitende Buch in den Passagen, die das Leben der vierköpfigen Familie in den ersten zehn Jahren nach Kriegsende beschreiben. Dietmar Jacobsen literaturkritik.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Weder Roman noch Autobiografie, aber in jedem Falle "markerschütternd" ist Natascha Wodins neues Buch "Sie kam aus Mariupol", versichert Rezensentin Cornelia Geissler. Gebannt liest sie die Familiengeschichte der Autorin, die, 1945 als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter in Deutschland geboren, mit Hilfe eines Hobbyhistorikers die Herkunft ihrer Mutter rekonstruiert. In nächtlichen E-Mails und Telefonaten setzt sich anhand von Fotos, Urkunden, Kirchenbucheinträgen und Visaersuchen langsam ein Bild der Mutter zusammen, die einer adligen Familie aus Mariupol entstammte, welche ihre Privilegien durch die Oktoberrevolution und die "Säuberungen" Stalins verlor, informiert die Kritikerin. Wie Wodin die tragischen Lebenswege ihrer Familie beleuchtet und mit den jüngsten Ereignissen in der Ukraine verschränkt, findet die Rezensentin ergreifend. Nicht zuletzt verdankt Geissler diesem Buch, das sie in einem Atemzug mit den Werken Primo Levis, Imre Kertesz', Daniil Granins oder Erich Loests nennt, einen ebenso eindringlichen wie wichtigen Einblick in das Schicksal von nichtjüdischen Zwangsarbeitern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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