Über viele Jahrzehnte war die Bekämpfung des organisierten Verbrechens in Italien von Männern dominiert. Doch seit den 1970ern hat eine neue Generation von Frauen begonnen, gegen die Mafia Widerstand zu leisten.So vertraute Piera Aiello, Augenzeugin bei der Ermordung ihres Mannes, ihr Wissen den Staatsanwälten an und engagiert sich bis heute als Parlamentarierin für einen besseren Schutz der Kronzeugen. Fotografin Letizia Battaglia dokumentiert als Chronistin der Mafia ihre Taten, wie etwa die Ermordung des Bruders des heutigen Staatspräsidenten. Die Journalistin Allessia Candito, mehrfach durch die kalabrische Mafia bedroht, deckt die Verbindungen zwischen Kirche und Mafia auf. Und Laura Garavini setzt mit ihrer Gründung einer Anti-Mafia-Bewegung in Deutschland den Kampf gegen die Mafia auch im deutschsprachigen Raum fort. Mathilde Schwabeneders Porträt dieser Frauen zeichnet ein verstörendes und eindrucksvolles Bild eines Kampfes gegen eine Macht, bei dem ein Sieg aussichtslos scheint - trotzdem kämpfen diese Frauen weiter.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Matthias Rüb liest das Buch der Journalistin Mathilde Schwabeneder über Frauen im Kampf gegen die organisierte Kriminalität in Italien mit Interesse. Die Porträts von Ermittlerinnen, Bürgermeisterinnen und Kronzeuginnen rufen Rüb die Härte des Kampfes gegen die Mafia in Erinnerung. Vor allem die Geschichte der heutigen Abgeordneten Piera Aiello, die die Mörder ihres Mafia-Mannes verfolgte, hat Rüb beeindruckt. Über das Geschäft der Mafia, auch der nigerianischen, die von Neapel operiert, ihre Strukturen und Methoden erfährt Rüb im Buch allerhand Wissenswertes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2021Ausbruch aus der Omertà
Das organisierte Verbrechen ist eine Männerwelt, geprägt durch Gewalt und Einschüchterung. Aber auch die Helden der Mafiabekämpfung in Italien waren über Jahrzehnte fast ausschließlich Männer. Die bekanntesten sind bis heute die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, die 1992 in Palermo im Abstand von wenigen Wochen von der Cosa Nostra ermordet wurden. Unzählige Straßen und Plätze in ganz Italien hat man seither nach ihnen benannt. Auch der Flughafen der sizilianischen Hauptstadt heißt "Aeroporto di Palermo Falcone e Borsellino".
Seit einigen Jahren spielen aber auch Frauen eine immer größere Rolle im Kampf gegen die Mafia - von Sizilien über Kalabrien und Kampanien bis nach Norditalien, wo die Clans längst ihre "Zweigstellen" eingerichtet haben. Die österreichische Journalistin Mathilde Schwabeneder stellt in ihrem Buch zehn Frauen vor, die den bleiernen Schleier der Omertà abgeworfen haben. Als Kronzeugin, Ermittlerin oder Abgeordnete, als Bürgermeisterin, Polizeichefin, Fotoreporterin oder Journalistin haben sie den gefährlichen, oft lebensbedrohlichen Kampf gegen die kriminellen Männerbünde aufgenommen.
Gleich das erste Porträt ist das vielleicht eindrucksvollste. Piera Aiello stammt aus Partanna im Nordwesten Siziliens. 1985 wurde sie, kaum 18 Jahre alt, von ihrer Familie mit dem Mafioso Nicola Atria verheiratet, Sohn des örtlichen Clanchefs Vito Atria. Vater und Sohn Atria wurden 1985 und 1991 von einem verfeindeten Clan ermordet. Piera Aiello und ihre damals 16 Jahre alte Schwägerin Rita Atria, die jüngste Schwester ihres Ehemannes Nicola Atria, vertrauten sich im Sommer 1991 dem Untersuchungsrichter Paolo Borsellino an: Sie kannten die Mörder von Vito und Nicola Atria und ebneten mit ihren Aussagen den Weg zum Prozess gegen die Clans von Partanna. Borsellino ließ die beiden Kronzeuginnen ins Zeugenschutzprogramm aufnehmen. Die beiden jungen Frauen - sowie die damals drei Jahre alte Tochter von Piera Aiello - wurden mit einer neuen Identität ausgestattet und nach Rom gebracht. Genau eine Woche nach der Ermordung von Paolo Borsellino vom 19. Juli 1992 nahm sich Rita Atria in Rom das Leben: Nach dem Tod des Richters fühlte sie sich schutzlos der Mafia ausgeliefert.
Piera Aiello überlebte, buchstäblich. Fast drei Jahrzehnte lebte sie unter falschem Namen, wechselte häufig ihre Wohnungen, bewacht von Polizisten in Zivil. Sie engagierte sich in Anti-Mafia-Organisationen und unterstützte andere Kronzeugen. 2018 wagte sie den Schritt in die Politik und in die Öffentlichkeit: Sie offenbarte ihre wirkliche Identität. Heute ist sie Abgeordnete und Mitglied der Anti-Mafia-Kommission des Parlaments.
In ihren kompakten Porträts stellt Schwabeneder nicht nur unerschrockene Frauen vor, sie beschreibt auch die milliardenschwere "Geschäftswelt" der sizilianischen Cosa Nostra, der kalabrischen 'Ndrangheta, der Sacra Corona Unita in Apulien sowie der Camorra in Kampanien und zumal in Neapel. Die einst auf ihre Ursprungsregionen begrenzten Clans sind längst global aufgestellt und haben ihr kriminelles Portfolio diversifiziert: vom Drogen-, Zigaretten- und Waffenschmuggel über Schutzgelderpressung und Unterwanderung von Politik und Justiz bis zu illegalen Wetten, Abfallmanagement, Gesundheitsversorgung und Geldwäsche.
Den Schluss des Buches bildet das Doppelporträt zweier junger Frauen, die als einzige anonym bleiben: Es sind zwei junge Nigerianerinnen, die von der nigerianischen Mafia nach Italien verfrachtet wurden, um dort als Zwangsprostituierte zu arbeiten. Die nigerianische Mafia hat sich in Castel Volturno nahe Neapel festgesetzt und organisiert von dort aus den Drogenschmuggel und vor allem den Menschenhandel über das Mittelmeer. Die beiden Nigerianerinnen haben sich einer italienischen Hilfsorganisation anvertraut, die sie in ein Schutzprogramm aufgenommen und auch eine Aufenthaltserlaubnis für sie erreicht hat. Unter allen Frauen, die sich dem Zugriff der Mafia entzogen oder der organisierten Kriminalität sogar den Kampf angesagt haben, sind die zur Sexarbeit gezwungenen Migrantinnen der wohl größten Gefahr ausgesetzt: Die äußerst brutale nigerianische Mafia stellt nicht nur ihnen nach, sondern auch ihren Familien daheim in Nigeria.
MATTHIAS RÜB
Mathilde Schwabeneder: "Sie packen aus". Frauen im Kampf gegen die Mafia.
Molden Verlag, Wien 2020. 192 S., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das organisierte Verbrechen ist eine Männerwelt, geprägt durch Gewalt und Einschüchterung. Aber auch die Helden der Mafiabekämpfung in Italien waren über Jahrzehnte fast ausschließlich Männer. Die bekanntesten sind bis heute die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, die 1992 in Palermo im Abstand von wenigen Wochen von der Cosa Nostra ermordet wurden. Unzählige Straßen und Plätze in ganz Italien hat man seither nach ihnen benannt. Auch der Flughafen der sizilianischen Hauptstadt heißt "Aeroporto di Palermo Falcone e Borsellino".
Seit einigen Jahren spielen aber auch Frauen eine immer größere Rolle im Kampf gegen die Mafia - von Sizilien über Kalabrien und Kampanien bis nach Norditalien, wo die Clans längst ihre "Zweigstellen" eingerichtet haben. Die österreichische Journalistin Mathilde Schwabeneder stellt in ihrem Buch zehn Frauen vor, die den bleiernen Schleier der Omertà abgeworfen haben. Als Kronzeugin, Ermittlerin oder Abgeordnete, als Bürgermeisterin, Polizeichefin, Fotoreporterin oder Journalistin haben sie den gefährlichen, oft lebensbedrohlichen Kampf gegen die kriminellen Männerbünde aufgenommen.
Gleich das erste Porträt ist das vielleicht eindrucksvollste. Piera Aiello stammt aus Partanna im Nordwesten Siziliens. 1985 wurde sie, kaum 18 Jahre alt, von ihrer Familie mit dem Mafioso Nicola Atria verheiratet, Sohn des örtlichen Clanchefs Vito Atria. Vater und Sohn Atria wurden 1985 und 1991 von einem verfeindeten Clan ermordet. Piera Aiello und ihre damals 16 Jahre alte Schwägerin Rita Atria, die jüngste Schwester ihres Ehemannes Nicola Atria, vertrauten sich im Sommer 1991 dem Untersuchungsrichter Paolo Borsellino an: Sie kannten die Mörder von Vito und Nicola Atria und ebneten mit ihren Aussagen den Weg zum Prozess gegen die Clans von Partanna. Borsellino ließ die beiden Kronzeuginnen ins Zeugenschutzprogramm aufnehmen. Die beiden jungen Frauen - sowie die damals drei Jahre alte Tochter von Piera Aiello - wurden mit einer neuen Identität ausgestattet und nach Rom gebracht. Genau eine Woche nach der Ermordung von Paolo Borsellino vom 19. Juli 1992 nahm sich Rita Atria in Rom das Leben: Nach dem Tod des Richters fühlte sie sich schutzlos der Mafia ausgeliefert.
Piera Aiello überlebte, buchstäblich. Fast drei Jahrzehnte lebte sie unter falschem Namen, wechselte häufig ihre Wohnungen, bewacht von Polizisten in Zivil. Sie engagierte sich in Anti-Mafia-Organisationen und unterstützte andere Kronzeugen. 2018 wagte sie den Schritt in die Politik und in die Öffentlichkeit: Sie offenbarte ihre wirkliche Identität. Heute ist sie Abgeordnete und Mitglied der Anti-Mafia-Kommission des Parlaments.
In ihren kompakten Porträts stellt Schwabeneder nicht nur unerschrockene Frauen vor, sie beschreibt auch die milliardenschwere "Geschäftswelt" der sizilianischen Cosa Nostra, der kalabrischen 'Ndrangheta, der Sacra Corona Unita in Apulien sowie der Camorra in Kampanien und zumal in Neapel. Die einst auf ihre Ursprungsregionen begrenzten Clans sind längst global aufgestellt und haben ihr kriminelles Portfolio diversifiziert: vom Drogen-, Zigaretten- und Waffenschmuggel über Schutzgelderpressung und Unterwanderung von Politik und Justiz bis zu illegalen Wetten, Abfallmanagement, Gesundheitsversorgung und Geldwäsche.
Den Schluss des Buches bildet das Doppelporträt zweier junger Frauen, die als einzige anonym bleiben: Es sind zwei junge Nigerianerinnen, die von der nigerianischen Mafia nach Italien verfrachtet wurden, um dort als Zwangsprostituierte zu arbeiten. Die nigerianische Mafia hat sich in Castel Volturno nahe Neapel festgesetzt und organisiert von dort aus den Drogenschmuggel und vor allem den Menschenhandel über das Mittelmeer. Die beiden Nigerianerinnen haben sich einer italienischen Hilfsorganisation anvertraut, die sie in ein Schutzprogramm aufgenommen und auch eine Aufenthaltserlaubnis für sie erreicht hat. Unter allen Frauen, die sich dem Zugriff der Mafia entzogen oder der organisierten Kriminalität sogar den Kampf angesagt haben, sind die zur Sexarbeit gezwungenen Migrantinnen der wohl größten Gefahr ausgesetzt: Die äußerst brutale nigerianische Mafia stellt nicht nur ihnen nach, sondern auch ihren Familien daheim in Nigeria.
MATTHIAS RÜB
Mathilde Schwabeneder: "Sie packen aus". Frauen im Kampf gegen die Mafia.
Molden Verlag, Wien 2020. 192 S., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main