Produktdetails
- Verlag: Verlag für Berlin-Brandenburg
- Originaltitel: The Boys: Triumph Over Adversity
- Seitenzahl: 512
- Erscheinungstermin: Dezember 2007
- Deutsch
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 885g
- ISBN-13: 9783866502222
- ISBN-10: 3866502222
- Artikelnr.: 22837278
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Martin Gilbert rekonstruiert eindrucksvoll das Schicksal von 732 jungen Holocaust-Überlebenden
Nicht die dokumentarisch-wissenschaftliche Aufarbeitung des millionenfachen Mords, sondern erst die Sendung des amerikanischen Fernsehfilms "Holocaust" - also die Identifikation mit einer jüdischen Familie "von nebenan" - führte Anfang der achtziger Jahre in Deutschland zum emotionalen Durchbruch. So muss man sich wundern, dass die Kollektivbiographie von Martin Gilbert über das Schicksal von 732 jungen Holocaust-Überlebenden mehr als zehn Jahre brauchte, bis sie jetzt, mit Unterstützung diverser Stiftungen, bei einem kleineren Verlag auch in deutscher Sprache erschien. Gedenkveranstaltungen, Mahnmale und wissenschaftliche Darstellungen sind kein Ersatz für die Konfrontation mit dem grauenvollen Einzelschicksal.
Da der Mord an sechs Millionen Menschen den Verstand übersteigt, schreibt einer der Überlebenden, wurde er "eine Statistik neben anderen; mehr Symbol als Wirklichkeit". Man sieht nicht die Gesichter der Mütter, Väter, Schwestern, Brüder, die an der Rampe selektiert und in den Tod geschickt werden, weil ihre Arbeitskraft selbst bei todbringender Ernährung keinen Nutzen verspricht. Nur der Arbeitseinsatz unter unmenschlichen Bedingungen brachte eine letzte Überlebenschance mit sich. Nur deshalb war es dem Central British Fund möglich, dass er im Osten, vornehmlich in Theresienstadt, dem Ziel der letzten Todesmärsche, einer größeren Zahl befreiter Waisenkinder, meist Jungen im Alter von 16 bis 20 Jahren, auf der Insel ein neues Leben schenken konnte; die Zahl 1000 konnte nicht erreicht werden, bei 1,5 Millionen Kindern, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Man weiß, dass Hitler auf Anraten von Herbert Backe, dem Reichsernährungsminister, am liebsten sogleich alle Juden ausgesondert und in den Tod geschickt hätte, wenn nicht die SS noch auf ihrer wirtschaftlichen Ausbeutung bis zum Tod bestanden hätte. Aber auf diese Vorgänge kommt es Gilbert nicht an. Für ihn hat die Kette der Einzelschicksale Vorrang; er stellt sie zusammen aus den publizierten oder auf seine Bitte hin niedergeschriebenen Erinnerungen der "Boys", die nach dem Krieg wie Pech und Schwefel zusammenhielten. Es beginnt mit der kulturell noch intakten, aber keineswegs völlig unbeschwerten Jugend in den polnischen Dörfern und Kleinstädten der Vorkriegszeit. Ob die Koexistenz mit den Christen friedlich oder unfriedlich verlief, hing oftmals von der Einstellung des katholischen Priesters ab.
Raufereien unter den Buben gab es mitunter nach dem Katechismusunterricht, wenn man die Juden "Christus-Mörder" nannte und sie aufforderte: "Juden, geht nach Israel!" Der weitverbreitete Antisemitismus im Polen der Vorkriegszeit, der noch nach Mai 1945, wie einige der "Boys" selbst erleben mussten, sein Unwesen trieb, ist eine Erklärung dafür, warum gerade das Generalgouvernement zum Golgatha für die Juden Europas werden konnte. Mit dem Krieg begann das Martyrium, das System gezielter Mordaktionen. Man war auf das Schlimmste nicht gefasst, weil die Erinnerung an das zivilisierte deutsche Besatzungsregime von 1914 bis 1918 dies nicht zuließ. Wer das Ghetto verlassen wollte, den traf eine deutsche Kugel. Tuberkulose und Unterernährung dezimierten die Bevölkerung noch vor den Massenerschießungen und Deportationen in die Vernichtungslager. Das Überleben der Jugendlichen hing von zahlreichen Zufällen ab: eine bewusst falsche Geburtsangabe, blondes Haar, ein gutes Versteck, Extrarationen, eine leichtere Arbeit. Auch das Leben in den Arbeitslagern war so ausgerichtet, dass es letztlich ebenso seiner Vernichtung diente wie der Arbeit selbst, ganz im Sinne der ideologischen Vorgaben. Besonders aufschlussreich ist das Kapitel über die sinnlosen Todesmärsche gegen Ende des Krieges, bei denen oftmals nur ein Viertel oder noch weniger überlebten. Die deutschen Wachmannschaften hatten ein gewisses Interesse daran, die Evakuierten am Leben zu erhalten, um sich nicht der kämpfenden Truppe anschließen zu müssen.
Nur die Hälfte des Buches beschreibt das Inferno, die irdische Hölle und das Entrinnen aus ihr. Der zweite Teil könnte die Überschrift tragen: Auferstehung von den Toten. Aus der Erinnerung der "Boys" - nunmehr ältere Herren - werden auch Befreiung und Resozialisierung anschaulich hervorgeholt. Der Umgang mit den traumatischen Erfahrungen der Jugendlichen, die alle ihre Angehörigen verloren hatten, stellte für ihre Betreuer in England eine große Herausforderung dar. Doch die "Boys", die fünf Jahre in geradezu animalischer Weise um ihr Überleben gekämpft hatten, statt Schulunterricht zu genießen, waren ungemein wissbegierig. Doch wussten sie mehr als ihre Altersgenossen: Sie hatten in die Abgründe der menschlichen Natur geblickt, hatten in Auschwitz und andernorts vergeblich ihren Gott gesucht und sich gleichwohl ihre jüdische kulturelle Identität bewahrt. Und damit ist sehr viel über den Charakter der Religion schlechthin gesagt. Ihr kollektives Credo war nicht Hass, sondern Versöhnung, weil, so ihr Argument, sonst ihre Schergen den Sieg davongetragen hätten. Zeitlebens fühlten sie sich wie eine Großfamilie, der Zusammenhalt und regelmäßiges Wiedersehen viel bedeutet; eine durch das gemeinsame Schicksal zusammengeschweißte, verschworene Gemeinschaft, wo auch immer in der Welt, in England, Israel oder Amerika, der Einzelne sein Leben fortführte.
Das materialreiche Buch dürfte sich als Fundgrube für Dokumentarfilmer erweisen, die zeigen wollen, wozu der Mensch fähig ist, im absolut Schlechten wie im exemplarisch Guten. Am Ende kommt der Leser zu der Einsicht: Ja, es ist ein tausendjähriges Reich, und zwar wegen der fortlaufenden, ständig wachzuhaltenden Erinnerung an dieses Menschheitsverbrechen, diesen Zivilisationsbruch - nicht im 5., sondern inmitten des 20. Jahrhunderts.
LOTHAR KETTENACKER
Martin Gilbert: Sie waren die Boys. Die Geschichte von 732 jungen Holocaust-Überlebenden. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2008. 559 S., 24,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main