Eine Winternacht in Göteborg. Ein Anschlag auf einen Comicshop. Unter den Attentätern: ein junges Mädchen, die das Ganze filmen und später ins Internet stellen soll. Mitten im Angriff kommen ihr Zweifel. Auf einmal ist sie sich sicher, dass falsch ist, was sie tut. Zwei Jahre später, inzwischen untergebracht in der Psychiatrie, bittet sie um ein Treffen mit einem Schriftsteller, dessen Bücher sie gelesen hat. Ihm überreicht sie ein Manuskript, in dem sie eine düstere Zukunftsvision zeichnet. Was aber will sie ihm sagen? Was ist wirklich passiert? Der Schriftsteller macht sich auf die Suche nach Antworten, spricht mit Zeugen und Opfern des Attentats. Es ist die Suche nach Wahrheit, aber auch die Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob man als Muslim noch in Schweden leben kann.
Dieses Buch hallt lange nach, weil es ein Beitrag zum Verständnis unserer Gegenwart ist, der sich jeglicher Vereinfachung entzieht, der simplen Parolen die Komplexität des Menschen gegenüberstellt. Ein wichtiges Buch. Eindringlich und poetisch. Hochaktuell und originell. Traurig und tröstlich zugleich.
Dieses Buch hallt lange nach, weil es ein Beitrag zum Verständnis unserer Gegenwart ist, der sich jeglicher Vereinfachung entzieht, der simplen Parolen die Komplexität des Menschen gegenüberstellt. Ein wichtiges Buch. Eindringlich und poetisch. Hochaktuell und originell. Traurig und tröstlich zugleich.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ob Michel Houellebecq wohl ein schlechtes Gewissen hatte und sich gefragt hat, ob er "Öl ins Feuer" gegossen hätte, als der Anschlag auf Charlie Hebdo passierte, genau an dem Tag, als sein Roman "Unterwerfung" ausgeliefert wurde, fragt sich die Kritikerin Sophie Wennerscheid von diesem Buch. Eine Frage, die sie sich bei dem Roman von Johannes Anyuru nicht stellt, aber das liegt vielleicht an den Verwicklungen und Zeitverschiebungen des Romans. Zwei Personen sind die Hauptprotagonisten, lesen wir: Ein Autor und eine junge Frau, die seine Tochter sein könnte oder auch nicht und die an einem islamistischen Attentat in Schweden beteiligt war, zu dem es dann doch nicht kam, weil die junge Frau ihre Mittäter erschoss. Dies spielt sich ab vor dem Hintergrund des heutigen Schwedens ebenso wie vor einem islamfeindlichen, rassistisch-totalitären Schweden der Zukunft, in dem angebliche "Schwedenfeinde" gefoltert und getötet werden. Die Rezensentin lobt den Roman für seine Komplexität und Vielschichtigkeit und für die Fülle der literarischen Anspielungen. Erstaunlicherweise wird am Ende "Trauer in Hoffnung" verwandelt - und das, so die atemlos mitgehende Kritikerin, ausgerechnet durch die Poesie im Menschenbild des Islam.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.05.2021Im Atem
Gottes
Kunstvoll: Der Schwede Johannes Anyuru hat einen
Roman über Muslime in Europa geschrieben
VON SOPHIE WENNERSCHEID
Am Tag der Auslieferung von Michel Houellebecqs Roman „Die Unterwerfung“, dem 7. Januar 2015, kam es zu dem islamistischen Anschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Eine Situation, die selbst für so einen skandalerprobten Autor wie Houellebecq äußerst unbehaglich gewesen sein dürfte. Sah es doch so aus, als habe er mit seinem Roman über die Islamisierung des Westens bewusst Öl ins Feuer geschüttet und den Kampf der Kulturen so sehr beschworen, dass er Wirklichkeit geworden war. Oder ist dieser Kampf seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ohnehin längst bittere Realität, die nach literarischer Bearbeitung drängt?
Diese Frage steht auch im Hintergrund des jetzt auf Deutsch vorliegenden Romans „Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken“, geschrieben von dem schwedischen Autor Johannes Anyuru. Anders als Houellebecq guckt Anyuru nicht von außen auf den Islam, sondern von innen. Darauf deutet bereits die ungewöhnliche „Widmung“ hin, die dem Roman vorangestellt ist. Nicht für die Liebste oder den Vater ist das Buch geschrieben, sondern „Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen“ – die Wendung, mit der fast alle Suren des Korans beginnen.
Allein diese religiöse Rahmung macht Anyurus Buch zu einer Besonderheit auf dem europäischen Buchmarkt. Aber mehr noch sind es die politische Brisanz und die literarische Komplexität, die den Roman auszeichnen. „Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken“ verwebt mehrere Zeitebenen miteinander, hat zwei Erzählfiguren und stellt uns eine Gesellschaft vor, die mit dem Bild Schwedens als Heile-Welt-Bullerbü nichts mehr gemeinsam hat. Zerschlagen wird dieses Bild gleich im ersten Kapitel des Romans, das von einem Terroranschlag auf einen Comicbuchladen im Zentrum Göteborgs erzählt. Wir folgen dem Geschehen aus der Perspektive der jungen Nour, einer der drei muslimischen Selbstmordattentäter, die den Anschlag mit ihrem Handy filmt, damit er später ins Netz gestellt werden kann. Die Handykamera wackelt fürchterlich. Und auch im Kopf Nours geht einiges durcheinander. Was tut sie hier, und wer ist sie überhaupt? Alles fühlt sich falsch an. „Das Display wächst und schluckt das Leben.“
Aus dem Wirbel der blutigen Bilder heraus versetzt es die Leserin im folgenden Kapitel in die Erzählgegenwart der Romanhandlung, etwa zwei Jahre nach dem Anschlag. Hier begegnen wir der Figur eines Autors, der deutliche Züge Anyurus trägt, und der jungen Attentäterin, die jetzt aber den Namen Annika Isagel trägt. Das Mädchen hat den Anschlag nicht wie geplant verübt, sondern seinen Mitstreiter erschossen. Weil sie darauf beharrt, nicht Annika zu sein, sondern aus der Zukunft zu kommen, wurde sie in die forensische Abteilung der psychiatrischen Klinik Tundra eingewiesen. Bei ihrer ersten Begegnung mit dem Autor begrüßt sie ihn mit dem muslimischen Friedensgruß As-salaamu alaikum. Der Autor, selbst Muslim, kann und will darauf nicht antworten. Weiß er nur zu gut, wie sehr Taten wie die des Mädchens das Verhältnis von Muslimen und Nicht-Muslimen belasten werden. Um dieses gänzlich aus den Fugen geratene Verhältnis geht es auch in dem Manuskript, das das Mädchen dem Autor zur Lektüre gibt. Es erzählt von einem Schweden, das 15 Jahre in der Zukunft liegt und sich in ein islamophobes, rassistisches Land gewandelt hat, in dem alle, die sich weigern, den „Mitbürgervertrag“ zu unterschreiben, zu „Schwedenfeinden“ erklärt, gedemütigt, drangsaliert und am Ende gefoltert und getötet werden. Die Schilderungen gehen unter die Haut, auch wenn Anyuru sprachlich manchmal etwas grob aufträgt.
Der Autor der Romanhandlung versucht, den Text als dystopische Science-Fiction-Erzählung abzutun oder als Zwangsvorstellungen einer Traumatisierten. Aber es gelingt nicht. Immer tiefer verstrickt er sich in das Erzählte. Er beginnt über den Anschlag und die politischen Hintergründe zu recherchieren, spricht mit seiner aus Algerien stammenden Frau Isra über seine wachsende Fremdheit gegenüber Schweden und entdeckt Züge des Mädchens in seiner eigenen Tochter. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rücken einander auf beunruhigende Weise näher. Verläuft Zeit wirklich linear oder ist sie nicht immer irgendwie gebrochen? Was, wenn wir die Möglichkeit hätten, sie zurückzudrehen? Könnte alles auch ganz anders sein, ist eine andere Welt, eine bessere Zukunft denkbar?
Anyurus raffinierte Schreibpraxis erinnert nicht von ungefähr an das berühmte Abhebespiel, bei dem ein um zwei Hände herum verlaufender Faden immer wieder anders aufgenommen und verschoben wird, sodass neue Muster und Figuren entstehen. Zu Beginn des Romans spielt das Mädchen das Spiel, am Ende ist es die kleine Tochter des Autors, die die Kordel zwischen ihren Fingern zu einem Stern aufspannt. „Sie blickte auf, bemerkte, dass ich neben ihr stand. ‚Papa, kannst du mir helfen? Man muss eigentlich zu zweit sein.‘ Ich setzte mich auf das Bett, griff nach dem richtigen Teil der Schnur, ohne dass meine Tochter es mir zeigen musste, und sie lachte begeistert. ‚Du kannst es schon?‘ Ich nickte. Es war das Spiel, das mir das Tundramädchen, das mein Schatten gewesen war, oder der Schatten meiner Tochter, oder vielleicht nur meine Tochter, an einem regnerischen Tag vor vielen Jahren beigebracht hatte.“
Die amerikanische Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway, auf die im Roman einmal kurz verwiesen wird, möchte das auf Englisch string figures genannte Fadenspiel als Denkform verstanden wissen, bei der zwischen naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung, Philosophie und literarischem Erzählen nicht streng unterschieden wird. Für sie ist das alles „sf“: string figures, science fiction, speculative feminism, speculative fabulations. Anyuru nimmt den Faden des immer auch politischen Nachdenkens über die Zukunft auf, webt aber ein neues Muster, in dem vor allem existentielle und religiöse Fragen ihren Platz haben. Fragen, die immer auch mit dem Ort des Menschen in der Unendlichkeit des Universums zu tun haben.
Von dieser Frage nach Zeit und Raum her erschließen sich die zahlreichen Verweise des Romans auf einen in Schweden sehr bekannten, in Deutschland aber weitgehend in Vergessenheit geratenen Klassiker der skandinavischen Literatur: das Science-Fiction Langgedicht „Aniara. Eine Revue vom Menschen in Raum und Zeit“ aus dem Jahr 1956. Geschrieben von dem schwedischen Nobelpreisträger Harry Martinson, vielfach übersetzt, als Oper adaptiert, und 2018 schließlich als SF-Film neu zu Ehren gekommen.
Martinsons ebenso wunderbares wie verstörendes Gedicht erzählt die Reise des Raumschiffes Aniara, das auf seinem Weg von der durch die Menschen zerstörten Erde zum Planeten Mars von seinem Kurs abgekommen ist und nun durch die Leere des Universums gleitet wie eine winzig kleine „Blase in Gottes Atem“. Die Lage der Weltraumpassagiere ist verzweifelt. Ihr einziger Trost ist die künstliche Intelligenz Mima, die sie mit Bildern und Tönen aus dem Weltall versorgt, sich am Ende aber selbst zerstört, weil sie all das Leid, das die Menschen der Natur angetan haben, nicht mehr erträgt. Sie hört das Weinen der von der Atombombe zersprengten Steine und implodiert.
Doch so gottverlassen und hoffnungslos diese Reise auch anmutet, ist ihr doch ein kleines Hoffnungszeichen eingeschrieben. Aniara bewegt sich nämlich auf die Sternenkonstellation Lyra zu. Und die ist, Apollo und Orpheus sei Dank, Zeichen der Kraft der Poesie, die Trauer in Hoffnung verwandeln kann. Von einer solchen Hoffnung zeugt auch Anyurus Roman. Während Isra, die Frau des Autors, prophezeit, dass die Attentäter in den Tränen ihrer Mütter ertrinken werden, halten eben diese Mütter an der Überzeugung fest, dass jede Beziehung der Nähe eine Liebesbeziehung ist. „Wir sind ein Liebesgedicht“, erklärt die Mutter ihrer Tochter in einer besonders bedrängten Situation in dem rassistischen Schweden der Zukunft. „Du und ich. Alles ist Gottes Liebesgedicht für den Propheten.“ So verstanden ist der Islam nicht Unterwerfung, sondern Hingabe.
Literatur als Fadenspiel: „Papa,
kannst du mir helfen? Man
muss eigentlich zu zweit sein.“
Johannes Anyuru:
Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken. Roman. Aus dem
Schwedischen von
Paul Berf. Luchterhand,
München 2021.
336 Seiten, 22 Euro.
Johannes Anyuru, geboren 1979, debütierte als Lyriker. „Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken“, sein zweiter Roman, war ein mehrfach ausgezeichneter Bestseller in Schweden.
Foto: Henrik Montgomery/picture alliance / TT NYHETSBYRÅ
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Gottes
Kunstvoll: Der Schwede Johannes Anyuru hat einen
Roman über Muslime in Europa geschrieben
VON SOPHIE WENNERSCHEID
Am Tag der Auslieferung von Michel Houellebecqs Roman „Die Unterwerfung“, dem 7. Januar 2015, kam es zu dem islamistischen Anschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Eine Situation, die selbst für so einen skandalerprobten Autor wie Houellebecq äußerst unbehaglich gewesen sein dürfte. Sah es doch so aus, als habe er mit seinem Roman über die Islamisierung des Westens bewusst Öl ins Feuer geschüttet und den Kampf der Kulturen so sehr beschworen, dass er Wirklichkeit geworden war. Oder ist dieser Kampf seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ohnehin längst bittere Realität, die nach literarischer Bearbeitung drängt?
Diese Frage steht auch im Hintergrund des jetzt auf Deutsch vorliegenden Romans „Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken“, geschrieben von dem schwedischen Autor Johannes Anyuru. Anders als Houellebecq guckt Anyuru nicht von außen auf den Islam, sondern von innen. Darauf deutet bereits die ungewöhnliche „Widmung“ hin, die dem Roman vorangestellt ist. Nicht für die Liebste oder den Vater ist das Buch geschrieben, sondern „Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen“ – die Wendung, mit der fast alle Suren des Korans beginnen.
Allein diese religiöse Rahmung macht Anyurus Buch zu einer Besonderheit auf dem europäischen Buchmarkt. Aber mehr noch sind es die politische Brisanz und die literarische Komplexität, die den Roman auszeichnen. „Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken“ verwebt mehrere Zeitebenen miteinander, hat zwei Erzählfiguren und stellt uns eine Gesellschaft vor, die mit dem Bild Schwedens als Heile-Welt-Bullerbü nichts mehr gemeinsam hat. Zerschlagen wird dieses Bild gleich im ersten Kapitel des Romans, das von einem Terroranschlag auf einen Comicbuchladen im Zentrum Göteborgs erzählt. Wir folgen dem Geschehen aus der Perspektive der jungen Nour, einer der drei muslimischen Selbstmordattentäter, die den Anschlag mit ihrem Handy filmt, damit er später ins Netz gestellt werden kann. Die Handykamera wackelt fürchterlich. Und auch im Kopf Nours geht einiges durcheinander. Was tut sie hier, und wer ist sie überhaupt? Alles fühlt sich falsch an. „Das Display wächst und schluckt das Leben.“
Aus dem Wirbel der blutigen Bilder heraus versetzt es die Leserin im folgenden Kapitel in die Erzählgegenwart der Romanhandlung, etwa zwei Jahre nach dem Anschlag. Hier begegnen wir der Figur eines Autors, der deutliche Züge Anyurus trägt, und der jungen Attentäterin, die jetzt aber den Namen Annika Isagel trägt. Das Mädchen hat den Anschlag nicht wie geplant verübt, sondern seinen Mitstreiter erschossen. Weil sie darauf beharrt, nicht Annika zu sein, sondern aus der Zukunft zu kommen, wurde sie in die forensische Abteilung der psychiatrischen Klinik Tundra eingewiesen. Bei ihrer ersten Begegnung mit dem Autor begrüßt sie ihn mit dem muslimischen Friedensgruß As-salaamu alaikum. Der Autor, selbst Muslim, kann und will darauf nicht antworten. Weiß er nur zu gut, wie sehr Taten wie die des Mädchens das Verhältnis von Muslimen und Nicht-Muslimen belasten werden. Um dieses gänzlich aus den Fugen geratene Verhältnis geht es auch in dem Manuskript, das das Mädchen dem Autor zur Lektüre gibt. Es erzählt von einem Schweden, das 15 Jahre in der Zukunft liegt und sich in ein islamophobes, rassistisches Land gewandelt hat, in dem alle, die sich weigern, den „Mitbürgervertrag“ zu unterschreiben, zu „Schwedenfeinden“ erklärt, gedemütigt, drangsaliert und am Ende gefoltert und getötet werden. Die Schilderungen gehen unter die Haut, auch wenn Anyuru sprachlich manchmal etwas grob aufträgt.
Der Autor der Romanhandlung versucht, den Text als dystopische Science-Fiction-Erzählung abzutun oder als Zwangsvorstellungen einer Traumatisierten. Aber es gelingt nicht. Immer tiefer verstrickt er sich in das Erzählte. Er beginnt über den Anschlag und die politischen Hintergründe zu recherchieren, spricht mit seiner aus Algerien stammenden Frau Isra über seine wachsende Fremdheit gegenüber Schweden und entdeckt Züge des Mädchens in seiner eigenen Tochter. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rücken einander auf beunruhigende Weise näher. Verläuft Zeit wirklich linear oder ist sie nicht immer irgendwie gebrochen? Was, wenn wir die Möglichkeit hätten, sie zurückzudrehen? Könnte alles auch ganz anders sein, ist eine andere Welt, eine bessere Zukunft denkbar?
Anyurus raffinierte Schreibpraxis erinnert nicht von ungefähr an das berühmte Abhebespiel, bei dem ein um zwei Hände herum verlaufender Faden immer wieder anders aufgenommen und verschoben wird, sodass neue Muster und Figuren entstehen. Zu Beginn des Romans spielt das Mädchen das Spiel, am Ende ist es die kleine Tochter des Autors, die die Kordel zwischen ihren Fingern zu einem Stern aufspannt. „Sie blickte auf, bemerkte, dass ich neben ihr stand. ‚Papa, kannst du mir helfen? Man muss eigentlich zu zweit sein.‘ Ich setzte mich auf das Bett, griff nach dem richtigen Teil der Schnur, ohne dass meine Tochter es mir zeigen musste, und sie lachte begeistert. ‚Du kannst es schon?‘ Ich nickte. Es war das Spiel, das mir das Tundramädchen, das mein Schatten gewesen war, oder der Schatten meiner Tochter, oder vielleicht nur meine Tochter, an einem regnerischen Tag vor vielen Jahren beigebracht hatte.“
Die amerikanische Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway, auf die im Roman einmal kurz verwiesen wird, möchte das auf Englisch string figures genannte Fadenspiel als Denkform verstanden wissen, bei der zwischen naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung, Philosophie und literarischem Erzählen nicht streng unterschieden wird. Für sie ist das alles „sf“: string figures, science fiction, speculative feminism, speculative fabulations. Anyuru nimmt den Faden des immer auch politischen Nachdenkens über die Zukunft auf, webt aber ein neues Muster, in dem vor allem existentielle und religiöse Fragen ihren Platz haben. Fragen, die immer auch mit dem Ort des Menschen in der Unendlichkeit des Universums zu tun haben.
Von dieser Frage nach Zeit und Raum her erschließen sich die zahlreichen Verweise des Romans auf einen in Schweden sehr bekannten, in Deutschland aber weitgehend in Vergessenheit geratenen Klassiker der skandinavischen Literatur: das Science-Fiction Langgedicht „Aniara. Eine Revue vom Menschen in Raum und Zeit“ aus dem Jahr 1956. Geschrieben von dem schwedischen Nobelpreisträger Harry Martinson, vielfach übersetzt, als Oper adaptiert, und 2018 schließlich als SF-Film neu zu Ehren gekommen.
Martinsons ebenso wunderbares wie verstörendes Gedicht erzählt die Reise des Raumschiffes Aniara, das auf seinem Weg von der durch die Menschen zerstörten Erde zum Planeten Mars von seinem Kurs abgekommen ist und nun durch die Leere des Universums gleitet wie eine winzig kleine „Blase in Gottes Atem“. Die Lage der Weltraumpassagiere ist verzweifelt. Ihr einziger Trost ist die künstliche Intelligenz Mima, die sie mit Bildern und Tönen aus dem Weltall versorgt, sich am Ende aber selbst zerstört, weil sie all das Leid, das die Menschen der Natur angetan haben, nicht mehr erträgt. Sie hört das Weinen der von der Atombombe zersprengten Steine und implodiert.
Doch so gottverlassen und hoffnungslos diese Reise auch anmutet, ist ihr doch ein kleines Hoffnungszeichen eingeschrieben. Aniara bewegt sich nämlich auf die Sternenkonstellation Lyra zu. Und die ist, Apollo und Orpheus sei Dank, Zeichen der Kraft der Poesie, die Trauer in Hoffnung verwandeln kann. Von einer solchen Hoffnung zeugt auch Anyurus Roman. Während Isra, die Frau des Autors, prophezeit, dass die Attentäter in den Tränen ihrer Mütter ertrinken werden, halten eben diese Mütter an der Überzeugung fest, dass jede Beziehung der Nähe eine Liebesbeziehung ist. „Wir sind ein Liebesgedicht“, erklärt die Mutter ihrer Tochter in einer besonders bedrängten Situation in dem rassistischen Schweden der Zukunft. „Du und ich. Alles ist Gottes Liebesgedicht für den Propheten.“ So verstanden ist der Islam nicht Unterwerfung, sondern Hingabe.
Literatur als Fadenspiel: „Papa,
kannst du mir helfen? Man
muss eigentlich zu zweit sein.“
Johannes Anyuru:
Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken. Roman. Aus dem
Schwedischen von
Paul Berf. Luchterhand,
München 2021.
336 Seiten, 22 Euro.
Johannes Anyuru, geboren 1979, debütierte als Lyriker. „Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken“, sein zweiter Roman, war ein mehrfach ausgezeichneter Bestseller in Schweden.
Foto: Henrik Montgomery/picture alliance / TT NYHETSBYRÅ
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»Der neue Roman von Johannes Anyuru kehrt die Sicht der Welt so um, wie es nur große Literatur vermag.« Tobias Sedlmaier / NZZ am Sonntag