Sonja ist schön und intelligent und lebt mit Alex. Eine vorbildliche Ehe, er müsste glücklich sein. Aber wann ist die Liebe schon einfach? Und wie funktioniert das Glück? Iwona wäre neben Sonja fast unsichtbar, sie ist spröde und grau. Aber Alex fühlt sich lebendig bei ihr und weiß nicht, warum. Sie liebt ihn. Er trifft sie immer wieder, und als sie von ihm schwanger wird und das Kind kriegt, das Sonja sich wünscht, setzt er alles aufs Spiel.
Peter Stamm erzählt so lakonisch und leidenschaftlich wie kein anderer von widerstreitenden Gefühlen und der Sehnsucht nach dem Leben. Sieben Jahre ist ein großer Roman über die Zumutung des Glücks, geliebt zu werden.
Peter Stamm erzählt so lakonisch und leidenschaftlich wie kein anderer von widerstreitenden Gefühlen und der Sehnsucht nach dem Leben. Sieben Jahre ist ein großer Roman über die Zumutung des Glücks, geliebt zu werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2009Abgründe des Normalen
Das Geheimnis hinter jeder Stirn: Zu Besuch beim Schriftsteller Peter Stamm
Auf dem Rückweg von Peter Stamms Haus in Winterthur sitzt, auf einem Treppenabsatz, ein junges Mädchen mit einem hübschen, unfertigen Gesicht und weint. Es wischt sich über die Augen, nicht, als schämte es sich seiner Tränen, aber doch, als wollte es kein Aufheben darum machen.
Ein Vater, dessen asiatische Züge sich im Gesicht seines blonden Sohnes spiegeln, trägt einen Rucksack, aus dem eine Angel ragt. Auch der Sohn hat einen Rucksack umgeschnallt und darin eine Angel. Es gießt in Strömen, sie reden trotzdem davon, nun zusammen Fische zu fangen.
Ein Halbwüchsiger, dem Locken den Blick verschleiern, wird von Polizisten umringt, er spricht laut, brüllt fast; was er sagt, ist nicht zu verstehen.
Drei der Wirklichkeit abgeluchste Szenen, geschehen innerhalb weniger Minuten, weniger Meter. Täglich geht man an ähnlichen vorbei. Diesmal nicht. Noch hat man Peter Stamms Sorgfalt vor Augen, als er einem zum Schluss eine Rote Bete mitgibt. Er hatte sie aus dem Beet seines Gartens gerupft, ihr den Strunk abgerissen, nicht ohne sich zuvor zu vergewissern, ob man mit dem Grün etwas anfangen wolle. Sie abgespült, getrocknet und in ein Plastiksäckchen gepackt, damit sie nicht abfärbe.
Was also würde Peter Stamm mit ihnen anstellen? Würde er seiner Wahrnehmung an der Tastatur nachfolgen? Natürlich ist auch Stamms Welt aus Atomen gebaut, seine Welt ist unsere Welt, aber wenn er schreibend wie durch ein Vergrößerungsglas auf sie schaut, dann sieht er größere Bausteine im Kleinen. Dann entdeckt er jede Menge Leben in jeder Menge Geschichten oder andersrum. Im Laufe der Jahre hat sich der 46-Jährige so zu einem Spezialisten fürs Allgemeine entwickelt. Für das, was zwischen Menschen geschieht, weil es das ist, was sie verbindet.
Seine Erzählungen und Romane handeln von dem, was jeder kennt: von dem Unspektakulären, das sich für den Einzelnen plötzlich spektakulär anfühlen kann. Vom Normalen, das aus dem Tritt gerät. Es gibt in jedem Leben diese Momente, in denen nichts mehr selbstverständlich ist, in denen man sich fühlt, als betrete man eine stillgelegte Rolltreppe. Es schwindelt einen, während man sie hochsteigt. Weil es immer dann am leichtesten ist, wenn sich Wahrnehmung und die Formulierung, die man für das Wahrgenommene findet, decken, wenn sich beides aufeinanderlegt, ohne dass die Ränder verrutschen. Nach eben dieser Passgenauigkeit von Realität und Sprache sucht Stamm, und er geht dabei präzise vor wie ein Buchhalter, wie der Buchhalter, der er früher war.
Der Autor als Trafo
Nach seiner kaufmännischen Lehre begann er bei der Schweizerischen Verkehrszentrale als Buchhalter, auf deren Außenstation in Paris, mit neunzehn. Er war ein guter Schüler gewesen, in seiner Klasse beliebt, nur im Turnen eine ziemliche Niete, und da so was zählt, wenn man sechzehn ist, verlor er die Lust an der Schule und ging ab. Die Matur holte er dreieinhalb Jahre darauf nach, nicht, um es bloß zu Ende zu führen, sondern um zu lernen. Wäre es ihm nur um ein Blatt gegangen, hätte er später nicht immer wieder Wege abgebrochen, etwa sein Studium der Anglistik, Psychologie und Psychopathologie. Im Grunde aber wollte er früh immer nur eines: schreiben, und dass er das lange nur nebenbei tat, hängt wohl auch damit zusammen, dass bis heute einer seiner Leitsätze über das Schreiben lautet: "Entwickle nicht deinen Stil, sondern deine Persönlichkeit."
Dazu hatte er genug Möglichkeiten. Als Ramper - sieben Jahre lang wies er Flugzeuge bei der Gepäckladung ein -, als Journalist, als Satiriker beim "Nebelspalter", als Hörspiel- und Theaterautor, als Nationalratskandidat für die Grüne Partei Winterthur. Er reiste viel, in die entlegensten Ecken, erfuhr einiges, war - wie es Elisabeth Raabe ausdrückt, die seine erste Verlegerin bei Arche wurde - bereits vor der ersten Veröffentlichung "ein fertiger, intakter Mensch", der sich, auch ohne zu schreiben, durchs Leben geschlagen hätte, es aber dennoch ungeheuer wollte. Er schrieb und schrieb, schmiss ebenso viel weg, drei vollständige Manuskripte, bis er seinen Roman "Agnes" endlich an fünf Verlage schickte. Nur an "die besten, großen", erinnert sich Stamm, darunter Fischer, Rowohlt, Suhrkamp, "in der Verblendung des jungen Autors, der sich für ein Genie hält". Fünf Absagen kamen zurück. Erst als er Gelegenheit hat, das Manuskript der Zürcher Literaturagentur Liepman zu zeigen, geht es los.
"Agnes" macht den Thurgauer 1998 aus dem Stand zum viel beachteten Schriftsteller, dessen Werk in 24 Sprachen übersetzt wird. Es ist die Geschichte von Agnes, die in Chicago einen Schweizer Journalisten kennenlernt, sich verliebt, schwanger wird und sich entscheidet zu gehen, als die Fiktion Übermacht über die Wirklichkeit gewonnen hat. Der Schweizer nämlich hatte auf Agnes' Wunsch hin eine Figur aus ihr gemacht, er hatte ihr gemeinsames Leben auf dem Papier entworfen, Kapitel für Kapitel, bis Agnes seine Einbildung wahr macht.
Auslöser für "Agnes" war ein Augenblick. Stamm saß mit seiner damaligen Freundin in Freiburg an der Saane, betrachtete sie von der Seite und meinte auf einmal, eine Unbekannte neben sich sitzen zu haben. Und obwohl einen das verstören könnte: Stamm machte es glücklich. Es kam ihm wie eine Epiphanie vor, wie ein Aufglimmen des Glücks, und bewog ihn, daraus einen Handlungsfaden zu spinnen. So wie bei einer Matroschka wieder und wieder ein neues Püppchen zum Vorschein kommt, so schachteln sich hier die Geschichten ineinander, und wahrscheinlich verrät Stamms Erleben des Bekannten als zutiefst Unbekanntes darüber hinaus viel - über jeden anderen Protagonisten, den literarischen und realen, wie über Stamm. "Du merkst, dass du immer mit Bildern lebst", so nüchtern formuliert es Stamm.
Das heißt, am Anfang war nicht das Wort. Stattdessen ein Gefühl. Der Schriftsteller arbeitet wie ein Trafo: Zunächst ist da der Abdruck eines Gefühls, das sich wie in einem Tagtraum an die Oberfläche seiner Erinnerung schiebt, dann versucht er, dafür die richtige Form zu finden. Was er findet, ist ein Bild, und dieses Bild erzeugt beim Leser wieder ein Gefühl, ein ureigenes, das nicht zwangsläufig das gleiche sein muss wie jenes, das Stamm hatte. Das baut der Leser in seine Welt ein, in seine Gefühlswelt, somit wahre Welt, und es ist unwichtig, welches Bild sich sein Gedächtnis wählt, um es aufzubewahren. Es geht allein darum, sich der Welt und seiner selbst zu versichern.
Peter Stamm erzählt von seinem siebenjährigen Sohn: wie dieser sich die Welt mittels Sprache erfahrbar mache. "Zu Matteos ersten Wörtern gehörten Auto und Katze, dabei haben wir weder das eine noch das andere." Er habe oft den Eindruck, dass Matteo die Dinge erkenne, indem er ihre Namen lerne. Vielleicht habe er gerade deshalb zuallererst etwas benannt, was ihm fremd war - um sich damit vertraut zu machen.
Nichts anderes tut Stamm, wenn er schreibt: Er macht eine Sache zu seiner Sache. Er erkennt, während er schreibt. Er befragt sich. Bei seinem neuen Roman "Sieben Jahre" fragte er sich: "Inwiefern hat jemand Macht über uns, der uns liebt?" Der Held Alexander beginnt eine Affäre mit Iwona, einer Polin, die ihn gleichermaßen abstößt und anzieht. Verheiratet ist er mit Sonja, schön, klug, eine, die nie zu schwitzen scheint. Iwona begehrt er, obwohl sie weit weniger begehrenswert wirkt als Sonja, bei ihr ist er er, bei Sonja muss er jemanden darstellen. "Sieben Jahre" ist ein großes Buch geworden, und daher ist es kein Zufall, dass es als Anwärter für den Schweizer und Deutschen Buchpreis gilt. Die ersten Leserstimmen hat Stamm schon eingesammelt. Drei Männer offenbarten ihm, auch sie würden so eine Sonja zu Hause haben, so ein Wunder weiblicher Perfektion. Demnach ist Sonja nicht zu schön, um wahr zu sein, es gibt sie.
Darin liegt Stamms Kunst: Jede seiner Geschichten könnte die eigene sein. Seine Leser verlieren sich im Text und können sich doch hinterher neu zusammensetzen. Und da Stamm hochbewusst schreibt und zugleich wie auf einem Bewusstseinsstrom dahintreibend, weil er immer nach dem schlichtesten Wort, eigentlich tonlosen, in seinem Gehirn fahndet, anstatt nach dem klingendsten, deswegen können die Leser nicht aufhören zu lesen. Nicht aufhören, es abzugleichen mit ihrem Leben oder dem Entwurf ihres Lebens.
Einigen Kritikern stieß seine verknappte Sprache auf, Elke Heidenreich bezeichnete ihn als "eiskalte Präzisionsmaschine". Aber wenn er sich bemüht, alles Gefühlige wegzulassen - sich extra fürs Schreiben in den Zug setzt, mit der ewig selben Musik seine Ohren ablenkt oder ein Metronom aufstellt -, dann, weil er das Gegenteil erreichen möchte: Mitgefühl.
Roman als Mordaufruf
Einmal kam ein junger Russe nach einer Lesung zu ihm und sagte, "Agnes" sei seine Geschichte, Agnes seine Freundin, eine Arabistik-Studentin, die ihre Kindheit in Afghanistan verbracht habe. "Was den Studenten an meinem Buch berührt hat, war nicht meine Geschichte, waren nicht meine Gefühle", sagt Stamm, "was ihn berührt hat, waren seine Gefühle und die Tatsache, dass schon vor ihm jemand so gefühlt und darüber geschrieben hatte." Stamm wundert und freut sich darüber zugleich. Einerseits erstaunt es ihn, wie sie von seinen Büchern reden, geradeso, als ob ihnen all diese Dinge passiert wären, andererseits will er exakt das: Seine Leser sollen seine Bücher als Wirklichkeit nehmen, nicht als Literatur. Sein Roman "An einem Tag wie diesem" habe ein Paar zusammengebracht, ein anderes auseinander, hat er gehört.
Was bleibt, ist Verwechslungsgefahr. Häufig würden die Leute von seinen Fiktionen sprechen, "als wäre ich nicht der Urheber". Er wird es in Kauf nehmen müssen, als Preis für die Ernsthaftigkeit, die er scheinbar gewöhnlichen Menschen widmet. Und er muss zugeben, dass er es auch genießt, "Gott zu spielen, weil ich eine Welt schaffe, die die Leute glauben". Eine Italienerin soll ihm so sehr geglaubt haben, dass sie ihr dreijähriges Kind tötete; auf ihrem Nachttisch, hieß es in den Gerichtsakten, habe "Agnes" gelegen.
Selbst sein Lektor beim Fischer-Verlag, Oliver Vogel, gesteht, er müsse aufpassen, sich nicht total zu identifizieren. "Ich glaube ihm jedes Wort, frage ihn danach jedes Mal, ob er die Erzählerfigur ist." Und dabei gebe es doch gar keinen Zweifel, dass "einer, der solche Bücher schreibt, nicht bürgerlich sein kann, Abgründe haben muss". Etwas Amoralisches begleite Stamms Hyperrealismus; sein überaus feines Gehör erlaube ihm keine Schranken beim Nachdenken.
Diese schonungslose Genauigkeit, der sich Stamm aussetzt, die er seinen Lesern zumutet, scheint ihn für einige verdächtig zu machen. Da sieht einer was und wagt es auch noch, dieses Etwas beim Namen zu nennen. Dabei gibt er sich so stinknormal: hat eine Familie, zwei kleine Söhne und eine Frau, die Modedesignerin ist. Wohnt in einem hübschen alten Haus, ist offen, freundlich und unaufgeregt. Sieht aus wie einer, nach dem man sich auf der Straße nicht umdreht. Zieht keine Show ab, weder auf dem Papier noch als Person. Bei Lesungen - einen Kugelschreiber in der Hemdtasche, die Armbanduhr neben sich auf dem Pult - liest er, als wollte er verschwinden hinter dem Geschriebenen. Trotz all seiner vermeintlichen Durchschnittlichkeit aber scheint er etwas über die Menschen zu wissen, schlimmer noch, es ihnen auf den Kopf zusagen zu können, obwohl Stamm betont, seine Geschichten seien nicht autobiographisch, nur sehr persönlich. Stamm sagt: "Alle meine Bücher haben was mit mir zu tun; ich weiß nicht, was, ist auch egal, aber ich schreibe nur das hinein, was ich weiß." Ab und zu erschrecke er wegen dem, was da stehe. Weil es eine Seite von ihm freilege, von der er nichts ahnte, die ihm nicht unbedingt sympathisch sei. Er sagt: "Ich habe öfter den Eindruck, die Leute haben Schiss vor mir. Vielleicht weil ich was Strenges habe?"
Streng wirken seine lotrechten Denkerfurchen, die er sich in den letzten paar Jahren eingefangen haben muss, womöglich über der Schärfe seines Blicks. Es könnte aber auch daran liegen, dass er viele mit seiner zufriedenen Zurückgenommenheit provoziert - so einer muss doch einen enormen Ehrgeiz haben, wie kann er dann nicht zerrieben werden von Ansprüchen?
"Ich glaube, die meisten von uns leben in Situationen, die ihnen nicht ganz entsprechen, sind weniger selbstbestimmt, als sie sein wollen." Er stellt das glasklar fest, ohne zu psychologisieren. "Gertrude Stein hat mal gesagt, die meisten Menschen sind meistens glücklich, und erst fand ich den Satz doof, aber ich glaube, er stimmt. Menschen haben ein großes Talent, sich einzurichten in dem, was sie haben. Man muss vielleicht nur anfangen, das Leben anders anzugucken." Er selbst schaut anders darauf, milder, seitdem er Vater geworden ist.
Mag sein, dass er einfach den Fehler seiner Schriftstellerkollegin Colette nicht wiederholen will, die einsehen musste: "Ich hatte eigentlich ein sehr schönes Leben, nur habe ich es zu spät gemerkt." Mag sein, dass seine Autonomie ihn zufrieden macht: in seiner Phantasie alle, auch die krummen Pfade einschlagen zu können, um sie im wahren Leben nicht mehr gehen zu müssen. Jedenfalls sei für ihn die eigentliche Herausforderung, sagt Stamm, ein normales Leben zu führen, dieses aufregend hinzukriegen, so wie er versucht, die undramatischen Leben seiner Figuren mitreißend zu gestalten. "Ich finde es schade, wenn man nichts aus seinem Leben macht."
Während seines Studiums hatte er einige Monate lang Einblick in die Psychiatrie. Was er sah, kam ihm nicht abartig vor; er kannte solche Gefühlswirren, sie waren lediglich ins Extreme gesteigert. "Jeder Mensch hat doch etwas Immenses, und auch ein Buch ist ja im Grunde ein Wahnsystem."
Vermutlich ist es gar nicht so schwierig, der Person Peter Stamm hinter seinen Texten auf die Spur zu kommen - weil da ja zum Glück seine Texte sind. Zum Beispiel seine Reportage über die norwegische Hafenstadt Båtsfjord. Dort hat er einen Satz geschrieben, der alle Stamm-Stimmung birgt: "Da fiel mir die alte Geschichte ein vom Matrosen, der die silberne Teekanne des Kapitäns über Bord fallen lässt und dann zu ihm geht und fragt: ,Ist etwas verloren, wenn man weiß, wo es ist?'"
ANUSCHKA ROSHANI
Peter Stamm: "Sieben Jahre". Roman. Verlag S. Fischer 2009, 298 Seiten, 18,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Geheimnis hinter jeder Stirn: Zu Besuch beim Schriftsteller Peter Stamm
Auf dem Rückweg von Peter Stamms Haus in Winterthur sitzt, auf einem Treppenabsatz, ein junges Mädchen mit einem hübschen, unfertigen Gesicht und weint. Es wischt sich über die Augen, nicht, als schämte es sich seiner Tränen, aber doch, als wollte es kein Aufheben darum machen.
Ein Vater, dessen asiatische Züge sich im Gesicht seines blonden Sohnes spiegeln, trägt einen Rucksack, aus dem eine Angel ragt. Auch der Sohn hat einen Rucksack umgeschnallt und darin eine Angel. Es gießt in Strömen, sie reden trotzdem davon, nun zusammen Fische zu fangen.
Ein Halbwüchsiger, dem Locken den Blick verschleiern, wird von Polizisten umringt, er spricht laut, brüllt fast; was er sagt, ist nicht zu verstehen.
Drei der Wirklichkeit abgeluchste Szenen, geschehen innerhalb weniger Minuten, weniger Meter. Täglich geht man an ähnlichen vorbei. Diesmal nicht. Noch hat man Peter Stamms Sorgfalt vor Augen, als er einem zum Schluss eine Rote Bete mitgibt. Er hatte sie aus dem Beet seines Gartens gerupft, ihr den Strunk abgerissen, nicht ohne sich zuvor zu vergewissern, ob man mit dem Grün etwas anfangen wolle. Sie abgespült, getrocknet und in ein Plastiksäckchen gepackt, damit sie nicht abfärbe.
Was also würde Peter Stamm mit ihnen anstellen? Würde er seiner Wahrnehmung an der Tastatur nachfolgen? Natürlich ist auch Stamms Welt aus Atomen gebaut, seine Welt ist unsere Welt, aber wenn er schreibend wie durch ein Vergrößerungsglas auf sie schaut, dann sieht er größere Bausteine im Kleinen. Dann entdeckt er jede Menge Leben in jeder Menge Geschichten oder andersrum. Im Laufe der Jahre hat sich der 46-Jährige so zu einem Spezialisten fürs Allgemeine entwickelt. Für das, was zwischen Menschen geschieht, weil es das ist, was sie verbindet.
Seine Erzählungen und Romane handeln von dem, was jeder kennt: von dem Unspektakulären, das sich für den Einzelnen plötzlich spektakulär anfühlen kann. Vom Normalen, das aus dem Tritt gerät. Es gibt in jedem Leben diese Momente, in denen nichts mehr selbstverständlich ist, in denen man sich fühlt, als betrete man eine stillgelegte Rolltreppe. Es schwindelt einen, während man sie hochsteigt. Weil es immer dann am leichtesten ist, wenn sich Wahrnehmung und die Formulierung, die man für das Wahrgenommene findet, decken, wenn sich beides aufeinanderlegt, ohne dass die Ränder verrutschen. Nach eben dieser Passgenauigkeit von Realität und Sprache sucht Stamm, und er geht dabei präzise vor wie ein Buchhalter, wie der Buchhalter, der er früher war.
Der Autor als Trafo
Nach seiner kaufmännischen Lehre begann er bei der Schweizerischen Verkehrszentrale als Buchhalter, auf deren Außenstation in Paris, mit neunzehn. Er war ein guter Schüler gewesen, in seiner Klasse beliebt, nur im Turnen eine ziemliche Niete, und da so was zählt, wenn man sechzehn ist, verlor er die Lust an der Schule und ging ab. Die Matur holte er dreieinhalb Jahre darauf nach, nicht, um es bloß zu Ende zu führen, sondern um zu lernen. Wäre es ihm nur um ein Blatt gegangen, hätte er später nicht immer wieder Wege abgebrochen, etwa sein Studium der Anglistik, Psychologie und Psychopathologie. Im Grunde aber wollte er früh immer nur eines: schreiben, und dass er das lange nur nebenbei tat, hängt wohl auch damit zusammen, dass bis heute einer seiner Leitsätze über das Schreiben lautet: "Entwickle nicht deinen Stil, sondern deine Persönlichkeit."
Dazu hatte er genug Möglichkeiten. Als Ramper - sieben Jahre lang wies er Flugzeuge bei der Gepäckladung ein -, als Journalist, als Satiriker beim "Nebelspalter", als Hörspiel- und Theaterautor, als Nationalratskandidat für die Grüne Partei Winterthur. Er reiste viel, in die entlegensten Ecken, erfuhr einiges, war - wie es Elisabeth Raabe ausdrückt, die seine erste Verlegerin bei Arche wurde - bereits vor der ersten Veröffentlichung "ein fertiger, intakter Mensch", der sich, auch ohne zu schreiben, durchs Leben geschlagen hätte, es aber dennoch ungeheuer wollte. Er schrieb und schrieb, schmiss ebenso viel weg, drei vollständige Manuskripte, bis er seinen Roman "Agnes" endlich an fünf Verlage schickte. Nur an "die besten, großen", erinnert sich Stamm, darunter Fischer, Rowohlt, Suhrkamp, "in der Verblendung des jungen Autors, der sich für ein Genie hält". Fünf Absagen kamen zurück. Erst als er Gelegenheit hat, das Manuskript der Zürcher Literaturagentur Liepman zu zeigen, geht es los.
"Agnes" macht den Thurgauer 1998 aus dem Stand zum viel beachteten Schriftsteller, dessen Werk in 24 Sprachen übersetzt wird. Es ist die Geschichte von Agnes, die in Chicago einen Schweizer Journalisten kennenlernt, sich verliebt, schwanger wird und sich entscheidet zu gehen, als die Fiktion Übermacht über die Wirklichkeit gewonnen hat. Der Schweizer nämlich hatte auf Agnes' Wunsch hin eine Figur aus ihr gemacht, er hatte ihr gemeinsames Leben auf dem Papier entworfen, Kapitel für Kapitel, bis Agnes seine Einbildung wahr macht.
Auslöser für "Agnes" war ein Augenblick. Stamm saß mit seiner damaligen Freundin in Freiburg an der Saane, betrachtete sie von der Seite und meinte auf einmal, eine Unbekannte neben sich sitzen zu haben. Und obwohl einen das verstören könnte: Stamm machte es glücklich. Es kam ihm wie eine Epiphanie vor, wie ein Aufglimmen des Glücks, und bewog ihn, daraus einen Handlungsfaden zu spinnen. So wie bei einer Matroschka wieder und wieder ein neues Püppchen zum Vorschein kommt, so schachteln sich hier die Geschichten ineinander, und wahrscheinlich verrät Stamms Erleben des Bekannten als zutiefst Unbekanntes darüber hinaus viel - über jeden anderen Protagonisten, den literarischen und realen, wie über Stamm. "Du merkst, dass du immer mit Bildern lebst", so nüchtern formuliert es Stamm.
Das heißt, am Anfang war nicht das Wort. Stattdessen ein Gefühl. Der Schriftsteller arbeitet wie ein Trafo: Zunächst ist da der Abdruck eines Gefühls, das sich wie in einem Tagtraum an die Oberfläche seiner Erinnerung schiebt, dann versucht er, dafür die richtige Form zu finden. Was er findet, ist ein Bild, und dieses Bild erzeugt beim Leser wieder ein Gefühl, ein ureigenes, das nicht zwangsläufig das gleiche sein muss wie jenes, das Stamm hatte. Das baut der Leser in seine Welt ein, in seine Gefühlswelt, somit wahre Welt, und es ist unwichtig, welches Bild sich sein Gedächtnis wählt, um es aufzubewahren. Es geht allein darum, sich der Welt und seiner selbst zu versichern.
Peter Stamm erzählt von seinem siebenjährigen Sohn: wie dieser sich die Welt mittels Sprache erfahrbar mache. "Zu Matteos ersten Wörtern gehörten Auto und Katze, dabei haben wir weder das eine noch das andere." Er habe oft den Eindruck, dass Matteo die Dinge erkenne, indem er ihre Namen lerne. Vielleicht habe er gerade deshalb zuallererst etwas benannt, was ihm fremd war - um sich damit vertraut zu machen.
Nichts anderes tut Stamm, wenn er schreibt: Er macht eine Sache zu seiner Sache. Er erkennt, während er schreibt. Er befragt sich. Bei seinem neuen Roman "Sieben Jahre" fragte er sich: "Inwiefern hat jemand Macht über uns, der uns liebt?" Der Held Alexander beginnt eine Affäre mit Iwona, einer Polin, die ihn gleichermaßen abstößt und anzieht. Verheiratet ist er mit Sonja, schön, klug, eine, die nie zu schwitzen scheint. Iwona begehrt er, obwohl sie weit weniger begehrenswert wirkt als Sonja, bei ihr ist er er, bei Sonja muss er jemanden darstellen. "Sieben Jahre" ist ein großes Buch geworden, und daher ist es kein Zufall, dass es als Anwärter für den Schweizer und Deutschen Buchpreis gilt. Die ersten Leserstimmen hat Stamm schon eingesammelt. Drei Männer offenbarten ihm, auch sie würden so eine Sonja zu Hause haben, so ein Wunder weiblicher Perfektion. Demnach ist Sonja nicht zu schön, um wahr zu sein, es gibt sie.
Darin liegt Stamms Kunst: Jede seiner Geschichten könnte die eigene sein. Seine Leser verlieren sich im Text und können sich doch hinterher neu zusammensetzen. Und da Stamm hochbewusst schreibt und zugleich wie auf einem Bewusstseinsstrom dahintreibend, weil er immer nach dem schlichtesten Wort, eigentlich tonlosen, in seinem Gehirn fahndet, anstatt nach dem klingendsten, deswegen können die Leser nicht aufhören zu lesen. Nicht aufhören, es abzugleichen mit ihrem Leben oder dem Entwurf ihres Lebens.
Einigen Kritikern stieß seine verknappte Sprache auf, Elke Heidenreich bezeichnete ihn als "eiskalte Präzisionsmaschine". Aber wenn er sich bemüht, alles Gefühlige wegzulassen - sich extra fürs Schreiben in den Zug setzt, mit der ewig selben Musik seine Ohren ablenkt oder ein Metronom aufstellt -, dann, weil er das Gegenteil erreichen möchte: Mitgefühl.
Roman als Mordaufruf
Einmal kam ein junger Russe nach einer Lesung zu ihm und sagte, "Agnes" sei seine Geschichte, Agnes seine Freundin, eine Arabistik-Studentin, die ihre Kindheit in Afghanistan verbracht habe. "Was den Studenten an meinem Buch berührt hat, war nicht meine Geschichte, waren nicht meine Gefühle", sagt Stamm, "was ihn berührt hat, waren seine Gefühle und die Tatsache, dass schon vor ihm jemand so gefühlt und darüber geschrieben hatte." Stamm wundert und freut sich darüber zugleich. Einerseits erstaunt es ihn, wie sie von seinen Büchern reden, geradeso, als ob ihnen all diese Dinge passiert wären, andererseits will er exakt das: Seine Leser sollen seine Bücher als Wirklichkeit nehmen, nicht als Literatur. Sein Roman "An einem Tag wie diesem" habe ein Paar zusammengebracht, ein anderes auseinander, hat er gehört.
Was bleibt, ist Verwechslungsgefahr. Häufig würden die Leute von seinen Fiktionen sprechen, "als wäre ich nicht der Urheber". Er wird es in Kauf nehmen müssen, als Preis für die Ernsthaftigkeit, die er scheinbar gewöhnlichen Menschen widmet. Und er muss zugeben, dass er es auch genießt, "Gott zu spielen, weil ich eine Welt schaffe, die die Leute glauben". Eine Italienerin soll ihm so sehr geglaubt haben, dass sie ihr dreijähriges Kind tötete; auf ihrem Nachttisch, hieß es in den Gerichtsakten, habe "Agnes" gelegen.
Selbst sein Lektor beim Fischer-Verlag, Oliver Vogel, gesteht, er müsse aufpassen, sich nicht total zu identifizieren. "Ich glaube ihm jedes Wort, frage ihn danach jedes Mal, ob er die Erzählerfigur ist." Und dabei gebe es doch gar keinen Zweifel, dass "einer, der solche Bücher schreibt, nicht bürgerlich sein kann, Abgründe haben muss". Etwas Amoralisches begleite Stamms Hyperrealismus; sein überaus feines Gehör erlaube ihm keine Schranken beim Nachdenken.
Diese schonungslose Genauigkeit, der sich Stamm aussetzt, die er seinen Lesern zumutet, scheint ihn für einige verdächtig zu machen. Da sieht einer was und wagt es auch noch, dieses Etwas beim Namen zu nennen. Dabei gibt er sich so stinknormal: hat eine Familie, zwei kleine Söhne und eine Frau, die Modedesignerin ist. Wohnt in einem hübschen alten Haus, ist offen, freundlich und unaufgeregt. Sieht aus wie einer, nach dem man sich auf der Straße nicht umdreht. Zieht keine Show ab, weder auf dem Papier noch als Person. Bei Lesungen - einen Kugelschreiber in der Hemdtasche, die Armbanduhr neben sich auf dem Pult - liest er, als wollte er verschwinden hinter dem Geschriebenen. Trotz all seiner vermeintlichen Durchschnittlichkeit aber scheint er etwas über die Menschen zu wissen, schlimmer noch, es ihnen auf den Kopf zusagen zu können, obwohl Stamm betont, seine Geschichten seien nicht autobiographisch, nur sehr persönlich. Stamm sagt: "Alle meine Bücher haben was mit mir zu tun; ich weiß nicht, was, ist auch egal, aber ich schreibe nur das hinein, was ich weiß." Ab und zu erschrecke er wegen dem, was da stehe. Weil es eine Seite von ihm freilege, von der er nichts ahnte, die ihm nicht unbedingt sympathisch sei. Er sagt: "Ich habe öfter den Eindruck, die Leute haben Schiss vor mir. Vielleicht weil ich was Strenges habe?"
Streng wirken seine lotrechten Denkerfurchen, die er sich in den letzten paar Jahren eingefangen haben muss, womöglich über der Schärfe seines Blicks. Es könnte aber auch daran liegen, dass er viele mit seiner zufriedenen Zurückgenommenheit provoziert - so einer muss doch einen enormen Ehrgeiz haben, wie kann er dann nicht zerrieben werden von Ansprüchen?
"Ich glaube, die meisten von uns leben in Situationen, die ihnen nicht ganz entsprechen, sind weniger selbstbestimmt, als sie sein wollen." Er stellt das glasklar fest, ohne zu psychologisieren. "Gertrude Stein hat mal gesagt, die meisten Menschen sind meistens glücklich, und erst fand ich den Satz doof, aber ich glaube, er stimmt. Menschen haben ein großes Talent, sich einzurichten in dem, was sie haben. Man muss vielleicht nur anfangen, das Leben anders anzugucken." Er selbst schaut anders darauf, milder, seitdem er Vater geworden ist.
Mag sein, dass er einfach den Fehler seiner Schriftstellerkollegin Colette nicht wiederholen will, die einsehen musste: "Ich hatte eigentlich ein sehr schönes Leben, nur habe ich es zu spät gemerkt." Mag sein, dass seine Autonomie ihn zufrieden macht: in seiner Phantasie alle, auch die krummen Pfade einschlagen zu können, um sie im wahren Leben nicht mehr gehen zu müssen. Jedenfalls sei für ihn die eigentliche Herausforderung, sagt Stamm, ein normales Leben zu führen, dieses aufregend hinzukriegen, so wie er versucht, die undramatischen Leben seiner Figuren mitreißend zu gestalten. "Ich finde es schade, wenn man nichts aus seinem Leben macht."
Während seines Studiums hatte er einige Monate lang Einblick in die Psychiatrie. Was er sah, kam ihm nicht abartig vor; er kannte solche Gefühlswirren, sie waren lediglich ins Extreme gesteigert. "Jeder Mensch hat doch etwas Immenses, und auch ein Buch ist ja im Grunde ein Wahnsystem."
Vermutlich ist es gar nicht so schwierig, der Person Peter Stamm hinter seinen Texten auf die Spur zu kommen - weil da ja zum Glück seine Texte sind. Zum Beispiel seine Reportage über die norwegische Hafenstadt Båtsfjord. Dort hat er einen Satz geschrieben, der alle Stamm-Stimmung birgt: "Da fiel mir die alte Geschichte ein vom Matrosen, der die silberne Teekanne des Kapitäns über Bord fallen lässt und dann zu ihm geht und fragt: ,Ist etwas verloren, wenn man weiß, wo es ist?'"
ANUSCHKA ROSHANI
Peter Stamm: "Sieben Jahre". Roman. Verlag S. Fischer 2009, 298 Seiten, 18,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.09.2009Kaltes Feuer
Peter Stamm liest aus seinem Roman „Sieben Jahre”
Es liest sich eher als Zufall, dass Peter Stamms Roman „Sieben Jahre” (S. Fischer, 18,95 Euro) in München beziehungsweise in Possenhofen am Starnberger See spielt. Die Kulisse bleibt undeutlich und austauschbar, auch wenn sich der Autor in der Gegend offenbar auskennt. Da Stamm Schweizer ist, läge die Zürcher Goldküste für seine emotional kaltschnäuzig implodierenden Figuren im jugendlichen und sehr adretten Architekten-Milieu eigentlich näher. Gewiss, labile Zyniker wie Alex und seine schöne und zugleich brillante Sonja, die den Dünkel ihrer Familien weiterleben mit etwas weniger Geld, das erst einmal nur für das Häuschen in zweiter Reihe, nicht aber für das Seegrundstück reicht, die gibt es nicht nur in der Schweiz, sondern auch hierzulande. Und es ist bei dieser Geschichte ja auch egal, welche landschaftliche Grundierung Peter Stamm wählte für die Ödnis, die das Innenleben seiner Protagonisten beherrscht, die nicht zuletzt bedingt ist durch die konsequente Erfüllung eines vorgezeichneten Lebensplans. Den bestimmen die ungeschriebenen Gesetze des Großbürgertums. Und es ist schon ein seltsamer Bruch in der durchschnittlichen Existenz dieses Alex, als Iwona auftaucht, eine plumpe, dumpfe Polin.
Dass er sie kennenlernt, dass er ihr auf merkwürdige Art verfällt und über Jahre hinweg seiner daraus resultierenden Hörigkeit nachgibt, ist die Folge eines Jung-Männer-Streiches. Und der geht, man weiß es, immer auf Kosten der anderen. Die streng katholische Polin, deren Los es logischerweise ist, putzen zu gehen, gibt sich ihrerseits dem bis zur Selbstaufgabe Geliebten hin, obgleich ihr dies ihre Religion verbietet. Die Passivität, ihre alles ertragende Liebe, mit der sie als willenloser, allenfalls vegetativ reagierender Fleischberg mit strähnigem Haar Peters Zudringlichkeit, seine gefühlsmäßige Gleichgültigkeit hinnimmt, ist schwer erträglich. Aber wie Peter Stamm sie in dieser Dulderrolle beschreibt, macht er sie zur überzeugenden Antipodin von Sonja, die ihrerseits nur kurzzeitig Gefahr läuft, über den anhaltenden, unerwartet leidenschaftlichen, ja obsessiven Seitensprung ihres Alex die innere Balance zu verlieren.
Peter Stamm schlägt in diesem Dreiergeflecht eine perfide Volte, die zum bösen Ende auf grausame Weise das standesgemäße Gleichgewicht wieder herstellt: Im irdischen Leben werden die Ersten fast immer die Ersten und die Letzten stets die Letzten bleiben. Auch weil die Ersten die Letzten im Zweifelsfall zur Käuflichkeit zwingen, um das eigene fadenscheinige Glück um den Preis verratener Sehnsüchte zu retten. Aus der psychologisch krude argumentierten, in sich feingesponnenen Geschichte um Alex, Sonja und Iwona liest Peter Stamm heute im Literaturhaus, Salvatorplatz 1 (20 Uhr). EVA-ELISABETH FISCHER
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Peter Stamm liest aus seinem Roman „Sieben Jahre”
Es liest sich eher als Zufall, dass Peter Stamms Roman „Sieben Jahre” (S. Fischer, 18,95 Euro) in München beziehungsweise in Possenhofen am Starnberger See spielt. Die Kulisse bleibt undeutlich und austauschbar, auch wenn sich der Autor in der Gegend offenbar auskennt. Da Stamm Schweizer ist, läge die Zürcher Goldküste für seine emotional kaltschnäuzig implodierenden Figuren im jugendlichen und sehr adretten Architekten-Milieu eigentlich näher. Gewiss, labile Zyniker wie Alex und seine schöne und zugleich brillante Sonja, die den Dünkel ihrer Familien weiterleben mit etwas weniger Geld, das erst einmal nur für das Häuschen in zweiter Reihe, nicht aber für das Seegrundstück reicht, die gibt es nicht nur in der Schweiz, sondern auch hierzulande. Und es ist bei dieser Geschichte ja auch egal, welche landschaftliche Grundierung Peter Stamm wählte für die Ödnis, die das Innenleben seiner Protagonisten beherrscht, die nicht zuletzt bedingt ist durch die konsequente Erfüllung eines vorgezeichneten Lebensplans. Den bestimmen die ungeschriebenen Gesetze des Großbürgertums. Und es ist schon ein seltsamer Bruch in der durchschnittlichen Existenz dieses Alex, als Iwona auftaucht, eine plumpe, dumpfe Polin.
Dass er sie kennenlernt, dass er ihr auf merkwürdige Art verfällt und über Jahre hinweg seiner daraus resultierenden Hörigkeit nachgibt, ist die Folge eines Jung-Männer-Streiches. Und der geht, man weiß es, immer auf Kosten der anderen. Die streng katholische Polin, deren Los es logischerweise ist, putzen zu gehen, gibt sich ihrerseits dem bis zur Selbstaufgabe Geliebten hin, obgleich ihr dies ihre Religion verbietet. Die Passivität, ihre alles ertragende Liebe, mit der sie als willenloser, allenfalls vegetativ reagierender Fleischberg mit strähnigem Haar Peters Zudringlichkeit, seine gefühlsmäßige Gleichgültigkeit hinnimmt, ist schwer erträglich. Aber wie Peter Stamm sie in dieser Dulderrolle beschreibt, macht er sie zur überzeugenden Antipodin von Sonja, die ihrerseits nur kurzzeitig Gefahr läuft, über den anhaltenden, unerwartet leidenschaftlichen, ja obsessiven Seitensprung ihres Alex die innere Balance zu verlieren.
Peter Stamm schlägt in diesem Dreiergeflecht eine perfide Volte, die zum bösen Ende auf grausame Weise das standesgemäße Gleichgewicht wieder herstellt: Im irdischen Leben werden die Ersten fast immer die Ersten und die Letzten stets die Letzten bleiben. Auch weil die Ersten die Letzten im Zweifelsfall zur Käuflichkeit zwingen, um das eigene fadenscheinige Glück um den Preis verratener Sehnsüchte zu retten. Aus der psychologisch krude argumentierten, in sich feingesponnenen Geschichte um Alex, Sonja und Iwona liest Peter Stamm heute im Literaturhaus, Salvatorplatz 1 (20 Uhr). EVA-ELISABETH FISCHER
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Eigentümlichen Reiz bescheinigt Rezensentin Wiebke Porombka diesem Roman, obwohl sie unsicher bleibt, ob dies nicht eine unfreiwillige Begleiterscheinung des Buches ist. Denn zuerst sind ihr die deutlichen Schwächen aufgefallen, deren gravierendste aus ihrer Sicht die "langweilige" Sprache ist, die eine Aneinanderreihung von Hauptsätzen kennzeichnet. Aber auch inhaltlich bleiben für Porombka Fragen offen. Unter anderem die, was den Schriftsteller grundsätzlich an der biblischen Geschichte von Jakob interessiert, der erst sieben Jahre mit der falschen Frau leben muss, bevor er die richtige bekommt. Denn die zeitgenössische Fassung, die Peter Stamm hier erzählt, beantwortet die Frage der Rezensentin nicht. Werden hier zwei Beziehungskonzepte einander gegenüber gestellt? Vernunft versus Liebe? Heraus kommt für die Rezensentin schließlich die Geschichte eines Mannes, der seine Stärke ausschließlich aus den Schwächen anderer bezieht. Darin besteht der bescheinigte Reiz. Aber der kam, befürchtet sie eben, unfreiwillig zustande, weil der unentschlossene Autor von seinem Text "hinterrücks überrumpelt" worden sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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