Sieben mal sechs ist dreiundvierzig (Orig. Saat Sakkam Trechalis), der erste Roman von Kiran Nagarkar, dem wohl bedeutendsten unter den in Indien lebenden Prosaautoren (Ilija Trojanow), wurde als Meilenstein der indischen Literatur nach der Unabhängigkeit gefeiert. Ob wir Häuser bauen, Freunde gewinnen, Kontinente durchqueren, uns verlieben, nur um noch einsamer zu sein oder aber um der Einsamkeit zu entfliehen - ist das die Bestimmung des Menschen? Kushank, der Protagonist des Romans, ein junger Mann aus Bombay versucht darauf eine Antwort zu finden, indem er sich fragt: Wo liegt der Unterschied? Obwohl er auf der Suche nach seiner Identität alles andere als nur positive Erfahrungen macht, sieht er eher die komische Seite in Armut, Krankheit und Tod, in menschlichen Beziehungen und natürlich in der Sexualität. Frauen spielen in Kushanks Welt eine große Rolle die launische Aroti, die erste Frau in seinem Leben, die schöne und verletzliche Chandani, Kushanks erste Liebe, und die rätselhafte Frau, die mit "Du" angeredet wird. Sie hat Kushank vor langer Zeit verlassen, er sie aber nicht. Was auch immer er fühlt, denkt und erlebt, er erzählt ihr alles, obwohl sie ihm schon längst nicht mehr zuhört. Wichtig für seine Suche sind aber auch die Erlebnisse mit seinen langjährigen Freunden. Mit Raghu, einem unsentimentalen Weltverbesserer, der für eine internationale Hilfsorganisation arbeitet. Oder mit Sadhan, Kushanks Freund aus Benares, und der Frau, die ihren gemeinsamen Freund Ravindra mit einer Sichel getötet hat. Indem Nagarkar ständig neue Erzählstrategien erfindet, entfaltet er rund um Kushank eine Vielzahl packender Geschichten. Das Komische, das Tragische, das Brutale und das Lustige werden miteinander verwoben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2007Ein Liebhaber wie ein Knochen im Curry
Abendschüler der Gewalt: Kiran Nagarkars erstmals übersetztes Debüt / Von Tilmann Lahme
Es war das Buch der Stunde. Als im Herbst vergangenen Jahres die Frankfurter Buchmesse das Gastland Indien präsentierte, kam Kiran Nagarkars Roman "Gottes kleiner Krieger" auf Deutsch heraus, eine erschütternde Innensicht in das Werden eines Terroristen. Nagarkars Gotteskrieger plant sogar einen Mordanschlag auf den kraft "Fatwa" für vogelfrei erklärten Autor der "Satanischen Verse", Salman Rushdie. Ein Nebenstrang des Romans nur, der aber Rushdies Unmut erregte. Es war das Symbol Rushdie, das Nagarkar mit dem Skandal flirten ließ, obwohl Rushdie ihm auch persönlich schon Anlass für Unmut bereitet hat. Mit seiner provokanten These etwa, indische Literatur, die nicht auf Englisch geschrieben sei, sei bedeutungslos.
Das betraf Nagarkar unmittelbar, hatte er doch seinen ersten Roman "Saat Sakkam Trechalis" 1974 auf Marathi, einer der 23 offiziell anerkannten indischen Sprachen, veröffentlicht, zudem versehen mit zahlreichen Passagen in Hindi und in Englisch und durchsetzt mit dialektalen Passagen. 1988 scheiterte eine erste Übersetzung ins Deutsche, die unter dem Titel "Siem mal sex iss 43" angekündigt, aber nie ausgeliefert wurde.
Nun, da Nagarkar auch international als einer der wichtigsten indischen Autoren der Gegenwart bekannt ist, hat sich sein deutscher Verlag, A1 in München, auch des Erstlings angenommen. "Sieben mal sechs ist dreiundvierzig" heißt es jetzt slangfrei, und auch wenn das Nachwort der Übersetzer und ein Glossar darauf verweisen, wie viel dem Leser durch die Übertragung entgeht, die die verschiedenen Sprachebenen nur andeuten kann, erscheint diese Lösung doch als geglückt.
Nagarkar breitet die Erlebnisse des etwa dreißigjährigen Kushank aus, der in Bombay lebt, der armen indischen Mittelschicht entstammt und Schriftsteller sein möchte, mit geringem Erfolg allerdings, so dass er seinen Lebensunterhalt mehr bei Freunden und Bekannten zusammenschnorrt als verdient. Drastisch geht es dabei zu und oft brutal. Gleich zu Beginn des Romans verbrennt sich eine Frau, die die Schläge und Vergewaltigungen ihres Mannes nicht mehr aushält. Kushank wird zur Schwiegermutter geschickt, die sich um die Kinder kümmern soll, sich aber zu helfen weigert und derb über die Sterbende schimpft. Wenig später dringt das Schicksal einer Nachbarsfamilie auf den Leser ein, in der der Vater namens Bhau ("Bruder") seine Kinder, vor allem seine Töchter, regelmäßig und aufs fürchterlichste verprügelt, hörbar für alle Nachbarn, von denen niemand einschreitet.
So oder so ähnlich geht es weiter, wie nebenher tauchen Berichte von sexuellem Missbrauch, von Armut, Lieblosigkeit und jammervollem Tod auf, den prägenden Konstanten von Kushanks Lebenswelt. Elendsprosa ist der Roman dennoch nicht, zumindest nicht in erster Linie, und dies liegt an seiner unerhörten Lakonie und Komik. Auch an seiner Mitleidlosigkeit.
Demütigungen", heißt es einmal, "blinder oder ,aufgeklärter' Glaube, Hokuspokus, schwarzgebrannter Fusel, Schmiergelder, Korruption, Schmutz, totale Resignation und Tod - lauter Dinge, die der Inder an sich in schier unvorstellbaren Mengen verträgt." Und Kushank, "Bhaus treuer Abendschüler", schließt sich mit ein: "Bei mir war es nicht anders." Man verträgt es nicht nur, man lebt sogar dennoch mit Hoffnungen und Freude. Entsprechend ist die Liebe, allem Jammer zum Trotz, das Hauptthema des Romans. Wir begegnen einer überaus dicken Geliebten von Kushank, eher Fortunas Schwester als sie selbst, ein "lächelndes Butterfässchen". Wichtiger als die mollige Zerstreuung ist die launische, verheiratete Aroti, bei der Kushank sich als fünftes Rad am Wagen fühlt, oder, wie er sagt, "als Knochen im Curry". Seine Liebe zur schönen, aufrechten Chandani endet, weil ihre Familie ihn, der aus "keiner guten Familie" stammt, nicht akzeptiert und er, anders als seine Freundin, sich diesem Urteil beugt, im vollen Bewusstsein seines Verrats: "Auch ich habe oft genug in den Fängen dieser Zwillingsschwestern, Ehre und Scham, gezappelt."
Kushanks große Liebe ist eine rätselhafte Frau, die ihn vor Jahren verlassen hat und heute in Amerika lebt. Sie schrieb ihm einmal einen wunderschönen Liebesbrief, während er ihr uferlose, überbordende Episteln sandte, die von allem handelten, nur nicht von ihm und ihnen beiden. Nun, Jahre nach ihrem Abschied, viel zu spät also, repliziert er mit seinem wuchernden Liebesbrief - denn nichts anderes ist der Roman, der sich oft direkt an die Namenlose richtet. Das dient dem Leben nicht mehr, aber der Literatur. Eine Sterbende sagt dem jungen Schriftsteller voraus, er werde ihr Schicksal ausbeuten, indem er über sie schreibe. Der Erzähler dazu: "Jeder Mensch ist ein geborener Zuhälter. Zugegeben, die Ausbeutung von Toten mag eher der Ausnahmefall sein. Und wenn sonst niemand zur Hand ist, schickt man eben sich selbst auf den Strich. Wenn nicht für Geld, dann für Literatur, Kunst und Vaterland oder für sonst eine edle Sache."
Schließlich gleitet der Roman, eine grandiose Reise durch ein Land von Liebe und Schmerz, auch für seinen Helden in die Gewalt ab, unvermittelt, und endet in ihr. Als hätte Nagarkar 1974 schon geahnt, dass in Indien wenig besser, aber vieles schlimmer kommen werde. Gandhi, Symbol der Gewaltlosigkeit, taucht im Buch beiläufig auf: Sein "zahnloses Lächeln" blickt von einem Porträt. Als bissfest erweisen sich hingegen Brutalität und Unterdrückung. Sie sollten auch Kiran Nagarkar selbst treffen. Bedroht und der Blasphemie bezichtigt, verstummte er bald nach seinem Debüt und schlug sich als Werbetexter durch. Erst 1994 fand er zum Schreiben zurück. Auch wenn dies eine traurige Geschichte ist und Nagarkar überhaupt meist Trauriges erzählt: Wir können froh sein, dass wir ihn haben.
Kiran Nagarkar: "Sieben mal sechs ist dreiundvierzig". Roman. Aus dem Marathi, Hindi und Englischen übersetzt von Ditte und Giovanni Bandini. A1 Verlag, München 2007. 357 S., geb., 22,80 [Euro].
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Abendschüler der Gewalt: Kiran Nagarkars erstmals übersetztes Debüt / Von Tilmann Lahme
Es war das Buch der Stunde. Als im Herbst vergangenen Jahres die Frankfurter Buchmesse das Gastland Indien präsentierte, kam Kiran Nagarkars Roman "Gottes kleiner Krieger" auf Deutsch heraus, eine erschütternde Innensicht in das Werden eines Terroristen. Nagarkars Gotteskrieger plant sogar einen Mordanschlag auf den kraft "Fatwa" für vogelfrei erklärten Autor der "Satanischen Verse", Salman Rushdie. Ein Nebenstrang des Romans nur, der aber Rushdies Unmut erregte. Es war das Symbol Rushdie, das Nagarkar mit dem Skandal flirten ließ, obwohl Rushdie ihm auch persönlich schon Anlass für Unmut bereitet hat. Mit seiner provokanten These etwa, indische Literatur, die nicht auf Englisch geschrieben sei, sei bedeutungslos.
Das betraf Nagarkar unmittelbar, hatte er doch seinen ersten Roman "Saat Sakkam Trechalis" 1974 auf Marathi, einer der 23 offiziell anerkannten indischen Sprachen, veröffentlicht, zudem versehen mit zahlreichen Passagen in Hindi und in Englisch und durchsetzt mit dialektalen Passagen. 1988 scheiterte eine erste Übersetzung ins Deutsche, die unter dem Titel "Siem mal sex iss 43" angekündigt, aber nie ausgeliefert wurde.
Nun, da Nagarkar auch international als einer der wichtigsten indischen Autoren der Gegenwart bekannt ist, hat sich sein deutscher Verlag, A1 in München, auch des Erstlings angenommen. "Sieben mal sechs ist dreiundvierzig" heißt es jetzt slangfrei, und auch wenn das Nachwort der Übersetzer und ein Glossar darauf verweisen, wie viel dem Leser durch die Übertragung entgeht, die die verschiedenen Sprachebenen nur andeuten kann, erscheint diese Lösung doch als geglückt.
Nagarkar breitet die Erlebnisse des etwa dreißigjährigen Kushank aus, der in Bombay lebt, der armen indischen Mittelschicht entstammt und Schriftsteller sein möchte, mit geringem Erfolg allerdings, so dass er seinen Lebensunterhalt mehr bei Freunden und Bekannten zusammenschnorrt als verdient. Drastisch geht es dabei zu und oft brutal. Gleich zu Beginn des Romans verbrennt sich eine Frau, die die Schläge und Vergewaltigungen ihres Mannes nicht mehr aushält. Kushank wird zur Schwiegermutter geschickt, die sich um die Kinder kümmern soll, sich aber zu helfen weigert und derb über die Sterbende schimpft. Wenig später dringt das Schicksal einer Nachbarsfamilie auf den Leser ein, in der der Vater namens Bhau ("Bruder") seine Kinder, vor allem seine Töchter, regelmäßig und aufs fürchterlichste verprügelt, hörbar für alle Nachbarn, von denen niemand einschreitet.
So oder so ähnlich geht es weiter, wie nebenher tauchen Berichte von sexuellem Missbrauch, von Armut, Lieblosigkeit und jammervollem Tod auf, den prägenden Konstanten von Kushanks Lebenswelt. Elendsprosa ist der Roman dennoch nicht, zumindest nicht in erster Linie, und dies liegt an seiner unerhörten Lakonie und Komik. Auch an seiner Mitleidlosigkeit.
Demütigungen", heißt es einmal, "blinder oder ,aufgeklärter' Glaube, Hokuspokus, schwarzgebrannter Fusel, Schmiergelder, Korruption, Schmutz, totale Resignation und Tod - lauter Dinge, die der Inder an sich in schier unvorstellbaren Mengen verträgt." Und Kushank, "Bhaus treuer Abendschüler", schließt sich mit ein: "Bei mir war es nicht anders." Man verträgt es nicht nur, man lebt sogar dennoch mit Hoffnungen und Freude. Entsprechend ist die Liebe, allem Jammer zum Trotz, das Hauptthema des Romans. Wir begegnen einer überaus dicken Geliebten von Kushank, eher Fortunas Schwester als sie selbst, ein "lächelndes Butterfässchen". Wichtiger als die mollige Zerstreuung ist die launische, verheiratete Aroti, bei der Kushank sich als fünftes Rad am Wagen fühlt, oder, wie er sagt, "als Knochen im Curry". Seine Liebe zur schönen, aufrechten Chandani endet, weil ihre Familie ihn, der aus "keiner guten Familie" stammt, nicht akzeptiert und er, anders als seine Freundin, sich diesem Urteil beugt, im vollen Bewusstsein seines Verrats: "Auch ich habe oft genug in den Fängen dieser Zwillingsschwestern, Ehre und Scham, gezappelt."
Kushanks große Liebe ist eine rätselhafte Frau, die ihn vor Jahren verlassen hat und heute in Amerika lebt. Sie schrieb ihm einmal einen wunderschönen Liebesbrief, während er ihr uferlose, überbordende Episteln sandte, die von allem handelten, nur nicht von ihm und ihnen beiden. Nun, Jahre nach ihrem Abschied, viel zu spät also, repliziert er mit seinem wuchernden Liebesbrief - denn nichts anderes ist der Roman, der sich oft direkt an die Namenlose richtet. Das dient dem Leben nicht mehr, aber der Literatur. Eine Sterbende sagt dem jungen Schriftsteller voraus, er werde ihr Schicksal ausbeuten, indem er über sie schreibe. Der Erzähler dazu: "Jeder Mensch ist ein geborener Zuhälter. Zugegeben, die Ausbeutung von Toten mag eher der Ausnahmefall sein. Und wenn sonst niemand zur Hand ist, schickt man eben sich selbst auf den Strich. Wenn nicht für Geld, dann für Literatur, Kunst und Vaterland oder für sonst eine edle Sache."
Schließlich gleitet der Roman, eine grandiose Reise durch ein Land von Liebe und Schmerz, auch für seinen Helden in die Gewalt ab, unvermittelt, und endet in ihr. Als hätte Nagarkar 1974 schon geahnt, dass in Indien wenig besser, aber vieles schlimmer kommen werde. Gandhi, Symbol der Gewaltlosigkeit, taucht im Buch beiläufig auf: Sein "zahnloses Lächeln" blickt von einem Porträt. Als bissfest erweisen sich hingegen Brutalität und Unterdrückung. Sie sollten auch Kiran Nagarkar selbst treffen. Bedroht und der Blasphemie bezichtigt, verstummte er bald nach seinem Debüt und schlug sich als Werbetexter durch. Erst 1994 fand er zum Schreiben zurück. Auch wenn dies eine traurige Geschichte ist und Nagarkar überhaupt meist Trauriges erzählt: Wir können froh sein, dass wir ihn haben.
Kiran Nagarkar: "Sieben mal sechs ist dreiundvierzig". Roman. Aus dem Marathi, Hindi und Englischen übersetzt von Ditte und Giovanni Bandini. A1 Verlag, München 2007. 357 S., geb., 22,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hart geht es zu in diesem schon 1974 veröffentlichten Debüt von Kiran Nagarkar, warnt Tilmann Lahme. Gleich zu Beginn verbrennt sich eine unglückliche Frau, und im Verlauf des Romans wird verraten, betrogen, geprügelt und gedarbt. Im Mittelpunkt steht der dreißigjährige Kushank, ein erfolgloser Möchtegern-Schriftsteller, der die 357 Seiten des vorliegenden Buches als epischen Liebesbrief an seine Verflossene schreibt. "Elendsprosa" ist das trotz aller Schwarzmalerei doch nicht, meint der Rezensent, das verhindern üppige Beigaben von Lakonie und Komik. In der Originalfassung ist die Geschichte in einer wilden Mischung aus Marathi, Hindu, Englisch und Dialekt abgefasst. Die Übersetzung versucht erst gar nicht, den Sprachreichtum zu kopieren, was Lahme auch für den besten Weg hält. Nagarkar selbst hat übrigens nach seinem Debüt und einer Anklage wegen Blasphemie das Fach gewechselt und erst 1994 wieder angefangen zu schreiben. Dafür ist Lahme ihm ziemlich dankbar. "Wir können froh sein, dass wir ihn haben."
© Perlentaucher Medien GmbH
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