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Was es bedeutet, die Heimat zu verlieren
Ulrike Draesner kreuzt die Lebenswege der schlesischen Grolmanns mit dem Schicksal einer aus Ostpolen nach Wroclaw vertriebenen Familie. Vier Generationen kommen zu Wort. Virtuos entwirft der Roman ein Kaleidoskop der Erinnerungen, die sich zu immer neuen Bildern fügen. Sie zeigen, wie durch Zwangsmigration zugefügte Traumata sich auswirken, wie seelische Landschaften sich von einer Generation in die nächste weiterstempeln. Die Geschichten der Grolmanns und der Nienaltowskis werden zum Spiegel von hundert Jahren mitteleuropäischer Geschichte.…mehr

Produktbeschreibung
Was es bedeutet, die Heimat zu verlieren

Ulrike Draesner kreuzt die Lebenswege der schlesischen Grolmanns mit dem Schicksal einer aus Ostpolen nach Wroclaw vertriebenen Familie. Vier Generationen kommen zu Wort. Virtuos entwirft der Roman ein Kaleidoskop der Erinnerungen, die sich zu immer neuen Bildern fügen. Sie zeigen, wie durch Zwangsmigration zugefügte Traumata sich auswirken, wie seelische Landschaften sich von einer Generation in die nächste weiterstempeln. Die Geschichten der Grolmanns und der Nienaltowskis werden zum Spiegel von hundert Jahren mitteleuropäischer Geschichte. Mitreißend und poetisch erzählt die Autorin von den Mühen und Seligkeiten der Liebe zwischen Eltern und Kindern, von Luftwurzeln, Freiheit und Migration.

Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2024 für Draesners Gesamtwerk: »Ulrike Draesners Werke halten - mit hochentwickeltem Sprachbewusstsein - literarische Signale politischer Vorgänge in Zeitenwenden fest; sie bezeugen dadurch die verwandelnde Kraft der Literatur.« (aus der Begründung der Jury)
Autorenporträt
Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane und Gedichte vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Preis der LiteraTour Nord, dem Bayerischen Buchpreis, dem Deutschen Preis für Nature Writing, dem Ida-Dehmel-Literaturpreis (alle 2020) sowie mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021). Von 2015 bis 2017 lebte sie in Oxford, seit April 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Draesner wohnt und schreibt in Leipzig und Berlin - neben Romanen und Gedichten auch Erzählungen und Essays. Für ihr dichterisches Gesamtwerk wurde ihr 2014 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik verliehen, denn, so die Jury, 'Ulrike Draesner poetisiert die Welt'.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Auch wenn Katharina Teutsch nicht die ganzen 500 expressiven Seiten dieses Romans von Ulrike Draesner mitgeht - der Text hat es in sich, meint sie. Teutsch verweist damit auf die sprachliche Kunstfertigkeit der Autorin, der es laut Rezensentin gelingt, die Familiengeschichte des Affenforschers Eustachius Grolmann, die gesellschaftliche Verfassung zwischen 1939 und 1945, den Kreislauf von Heimat, Flucht und Heimkehr und die philosophische Frage nach Empathie bei Mensch und Tier mittels Figurenrede und dank eigener Kenntnisse der Neurowissenschaften in einen insgesamt packenden Text zu fassen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2014

Noch nicht einmal auf Affenempathie ist Verlass
Krieg, Flucht und Vertreibung: Ulrike Draesner ergründet in einem glänzenden Roman die Verfasstheit einer traumatisierten Generation

Anpassungssucht und -kunst, Aufbaudrang, Angst, Einsamkeit, innere Verstümmelung: Sehr früh in diesem Roman über die Familiengeschichte des Primatenforschers Eustachius Grolmann fallen Schlüsselbegriffe. Es geht um die Verfasstheit einer Generation, die zwischen 1939 und 1945 traumatische Erfahrungen gemacht hat. Solche von Flucht und Vertreibung im Falle der Grolmanns, die in einer eiskalten Januarnacht mit durchgeweichten Pappkoffern aus Breslau in Richtung Bayern aufbrechen, aber auch die Folgen von persönlicher Verstrickung und der faktischen Schuld, vielem zugesehen, wenig eingegriffen, eventuell selbst getötet zu haben. Wer hat Schuld am Verschwinden des älteren Grolmann-Bruders, der mit einer Behinderung lebte, wenig sprach und wenn doch, dann stotternd, der hinkte und seiner Familie im April 1945 auf ungeklärte Weise abhandenkommt?

Hat Eustachius, der es im wiederaufbauwütigen Nachkriegsdeutschland zu einem anerkannten Primatologen bringt, etwas mit dem Verschwinden seines Bruders zu tun? "Ein ferner Bruder, behindert, versteckt. Stets dagesessen wie ein besonnter Stein. Die Katze habe auf dem geschlafen", erzählt er seinem Psychologen, ebenfalls einem Schlesier, allerdings einem in Polen gebliebenen, der sich prompt in Grolmanns Tochter Simone verliebt und damit den Kreislauf von Heimat, Flucht und Heimkehr schließt. Erst kurz vor Schluss des Romans, der mit dem Tod des hochbetagten Affenforschers endet, lösen sich ungeheuerliche Erinnerungsbrocken aus dem emotionalen Gesteinsmassiv des Heimatvertriebenen und Heimatverdrängten. Und dann ist bereits nicht mehr zu erkennen, ob es sich um die Wahrheit handelt oder ob eine schleichend einsetzende Demenz den Mann bereits an den Rand der Zurechnungsfähigkeit gebracht hat.

Die Vertreibung, das stille Leiden daran, heißt es später im Roman aus der Perspektive des Grolmann-Großvaters Hannes, sei "Schuldabtragung für alle" gewesen, die unvertrieben geblieben und in den Optimismus des deutschen Wiederaufbaus entlassen worden waren. Sündenbockfunktion. Ein bis heute brisantes Thema, wenn es um Fragen der Angemessenheit von Leidens-, aber eben auch Schadensansprüchen der kriegsvertriebenen deutschen Minderheiten in Osteuropa geht. Draesner lässt ihre Figuren reden, vertreten durch vier Generationen, denn noch die Enkel haben es mit dem Erbe ihrer Eltern und Großeltern zu tun, indem sie versuchen, sie zu verstehen.

Ist es Zufall, dass Lilly, die Großmutter, nach der Flucht in Deutschland Arbeit ausgerechnet als Verpackerin findet, dass sie also Verpackungskünstlerin wird? Ist es eine Laune des Schicksals, dass Eustachius, ihr Sohn, später Karriere als Affenforscher macht? Emil, der verschwundene Bruder, nationalsozialistischer Biopolitik zufolge der Kategorie des "unwerten Lebens" zuzuordnen, wurde auch "der Aff'" genannt. Eustachius ("wickblaue Augen!"), der vor Jahrzehnten von seiner Ehefrau verlassen wurde und diese scheinbar ungerührt durch eine Schildkröte ersetzt hat, scheint kein großer Empathiker zu sein. Seine Affen liebt er unmittelbarer als seine Angehörigen. Er knallt im Alter sogar ein bisschen durch, weil er ein illegales Affengehege in seinem Privathaus unterhält und dort Aggressionsforschung betreibt - und zwar durch Elektroden am eigenen Kopf. Sein letzter faustischer Plan: Selbstbeobachtung. Ein verstörendes Video, in dem kongolesische Schimpansen ein Affenbaby verspeisen, lässt die langlebige Forschungsidee vom guten Tier bereits schal werden, bevor sie zum großen Vertriebenentrostpflaster verkitschen kann. Noch nicht mal auf Affenempathie ist Verlass - auch nicht auf die Schwachen. Hat sich Emil, der hinkende Bruder, wirklich der SS angeschlossen? Hat Eustachius ihn deshalb auf dem Gewissen? Und welches Gewissen überhaupt?

Der, wenn man so will, philosophische Überbau von "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" ist die ungelöste Empathie-Frage. Denn diese stellt, so wie es um die Welt bestellt ist, ein Problem dar. Eustachius' Tochter Simone, ebenfalls Primatologin, spricht von ihr als Sündenfall: "Unser Denken in Spiegelungen. Man könnte auch sagen: Die Entstehung unserer Obsession, miteinander verbunden zu sein."

Die Empathie, die daraus erwachsende Liebe, ist unsere Fessel, aber sie ist eben auch das, was uns am Ende fundamental vom Affen unterscheidet. Durch die Fähigkeit, uns in den Kopf unseres Gegenübers hineinzuversetzen, ist der Mensch zu List wie Mitleidsfähigkeit gleichermaßen ausgebildet. Draesner, die den Forschungsstand der Neurowissenschaften kennt, lässt die Einfühlungsfrage in Bezug auf Primaten offen. Nur so viel ist sicher: Von gegenseitiger Fürsorge bis hin zu Kannibalismus scheint auch dem Affen nichts Menschliches fremd zu sein - was den Affenforscher Eustachius kurz vor Ende seines Lebens noch einmal schonungslos auf sich selbst zurückwirft.

Ulrike Draesner, die neben scharf geschliffenen Erzählungen auch Lyrikbände veröffentlicht, nutzt alle sprachlichen Register, um das Gefühl der Heimatlosigkeit mit dem Wissen darum zu bannen. Von glänzender Erlebnisprosa, etwa aus der Perspektive des Wehrmachtoffiziers Hannes, bis hin zu den stockenden Erinnerungen seiner Ehefrau Lilly an den verschollenen Sohn. Dann springen die Zeilen mitten im Satzglied, dann überlagert sich schon mal der Vertreibungseuphemismus "verbracht" mit dem Adjektiv "verbraucht". Nicht immer geht man mit bei so viel Expressivität auf so langer Strecke (der Roman hat mehr als fünfhundertfünfzig Seiten). Insgesamt haben es die "sieben Sprünge vom Rand der Welt" aber durchaus in sich. Denn die Sprache vollzieht die Heimat-Suchbewegungen der Grolmann-Sippe nach. "Auch das Wort Mimikry brachte Stach mir bei", sagt Lilly über ihren affenforschenden Sohn, "es bedeutete Vertreibung. Tiere vertrieben sich aus sich selbst, indem sie sich verpackten. Sie hatten nichts anderes als den eigenen Körper. Auf ihn lief es hinaus. Bei ihnen wie bei uns."

KATHARINA TEUTSCH

Ulrike Draesner: "Sieben Sprünge vom Rand der Welt". Roman.

Luchterhand Verlag, München 2014. 559 S., geb., 21,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Eine der herausragenden Erzählerinnen der deutschen Gegenwartsliteratur.« Sandra Kegel / Frankfurter Allgemeine Zeitung