Die gesammelten Familiengeschichten des großen Erzählers Maxim Biller.
Was hat das Heute mit dem Gestern zu tun? Warum wollen wir oft nichts von unserer Vergangenheit wissen, ohne die wir gar nicht die wären, die wir sind? Und wer waren unsere Eltern und Großeltern wirklich? Wer Maxim Billers Bücher kennt und liebt, weiß, dass ihm diese Fragen besonders wichtig sind, sie bilden den poetischen und auch sehr menschlichen Kern seiner Literatur. Dabei begegnen uns in seinem Werk bestimmte Figuren und Orte immer wieder in neuen, überraschenden Variationen: Gebrochene Väter, traurige Mütter und stolze Söhne genauso wie Stalins düsteres Moskau, das wilde Prag von 1968, das flirrende Berlin der Nachwendezeit, das stille, melancholische Hamburg und natürlich auch Tel Aviv, die weiße Stadt am Meer, in der man als Jude wenigstens manchmal vergessen kann, wie blutig die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts war, ohne ihr ganz entkommen zu können. Sogar noch weniger als seiner fröhlichen, lauten, traumatisierten, komplizierten Verwandtschaft. Dieser Band versammelt das erste Mal die besten Familiengeschichten des großen Erzählers Maxim Biller: eine Lektüre, die süchtig macht.
Mit einem Nachwort von Helge Malchow
Was hat das Heute mit dem Gestern zu tun? Warum wollen wir oft nichts von unserer Vergangenheit wissen, ohne die wir gar nicht die wären, die wir sind? Und wer waren unsere Eltern und Großeltern wirklich? Wer Maxim Billers Bücher kennt und liebt, weiß, dass ihm diese Fragen besonders wichtig sind, sie bilden den poetischen und auch sehr menschlichen Kern seiner Literatur. Dabei begegnen uns in seinem Werk bestimmte Figuren und Orte immer wieder in neuen, überraschenden Variationen: Gebrochene Väter, traurige Mütter und stolze Söhne genauso wie Stalins düsteres Moskau, das wilde Prag von 1968, das flirrende Berlin der Nachwendezeit, das stille, melancholische Hamburg und natürlich auch Tel Aviv, die weiße Stadt am Meer, in der man als Jude wenigstens manchmal vergessen kann, wie blutig die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts war, ohne ihr ganz entkommen zu können. Sogar noch weniger als seiner fröhlichen, lauten, traumatisierten, komplizierten Verwandtschaft. Dieser Band versammelt das erste Mal die besten Familiengeschichten des großen Erzählers Maxim Biller: eine Lektüre, die süchtig macht.
Mit einem Nachwort von Helge Malchow
»In seinem neu erschienen Erzählband Sieben Versuche zu lieben arbeitet sich Biller in stilistischer Präzision und einnehmender Tonalität nun an den Wahrheiten von Familiengeschichten ab.« Clemens Hermann Wagner literaturkritik.de 20200828
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2020Es könnte alles ganz anders sein
Maxim Billers Familiengeschichten "Sieben Versuche zu lieben" und seine gesammelten Essays "Wer nichts glaubt, schreibt"
Von Eckhard Schumacher
Es ist schon etwas her, fast dreißig Jahre, dass man im "Spiegel" eine irritierende Besprechung von Maxim Billers zweitem Buch "Die Tempojahre" lesen konnte. Offensiv bewundernd, auch ein bisschen aufdringlich, näherte sich Rainald Goetz Maxim Biller an, stellte aber zugleich, ohne sie zu nutzen, nahezu alle Werkzeuge für einen grundlegenden Verriss zur Verfügung. Wenn man damals, Anfang der 1990er Jahre, von "Tempo" und Billers dort sehr regelmäßig publizierten "100 Zeilen Hass" eher gelangweilt war, konnte diese merkwürdige Ambivalenz den Blick auf überraschende Weise wieder öffnen. Bei allen Einwänden gegen "Tempo" und die "Tempojahre", geschuldet nicht zuletzt der Absehbarkeit der treff- und selbstsicheren Hass-Kolumnen, war es eben doch sehr interessant, dass Biller immer "auch noch ganz andere Sachen" gelesen hatte, und zwar, wie Goetz hinzufügt, "ganz anders als alle anderen". Und bemerkenswert war, was Goetz schon mit Blick auf Billers erstes Buch, den 1990 erschienenen Erzählungsband "Wenn ich einmal reich und tot bin", als dessen "Lebensthema" identifizierte - die gar nicht so selbstverständliche "Selbstverständlichkeit", mit der Biller immer wieder auf seine Herkunft und seine Familie zurückkommt und sich so, von München zurück über Hamburg, Prag und Moskau, immer wieder erneut in die "mörderische Mitte" des 20. Jahrhunderts leiten lässt.
Zwei Bücher erinnern jetzt an diese Anfänge, indem sie sie als Anfänge von etwas lesbar machen, das in den folgenden dreißig Jahren fortgesetzt werden sollte, in verschiedenen Formen und Formaten, in unterschiedlichen, häufig eng benachbarten, manchmal direkt ineinander greifenden Konstellationen. Dabei bestätigen "Sieben Versuche zu lieben", eine Zusammenstellung von Billers "Familiengeschichten" aus den Jahren 1990 bis 2007, wie auch "Wer nichts glaubt, schreibt", eine Auswahl von Essays und Reden aus den vergangenen dreißig Jahren, nicht zuletzt, wie wichtig Herkunft und Familie, wie wesentlich Emigrationserfahrungen, die eigenen wie die der Eltern, Großeltern und Verwandten, für Billers literarische und journalistische Texte sind. Sie machen aber nicht nur einmal mehr Billers "Lebensthema" sichtbar, sondern auch die Selbstverständlichkeit, mit der er an ihm festhält.
Dazu gehört, das zeigen insbesondere die kaum gealterten, weiterhin extrem zugänglichen literarischen Texte, dass Biller die Koordinaten der verschiedenen Emigrationsgeschichten, die hier vor allem auf die Niederschlagung des Prager Frühlings zurückzuführen sind, immer wieder verschiebt, ineinander überblendet und nicht selten auch prinzipiell in Frage stellt. So verweisen die dreizehn Erzählungen, die in "Sieben Versuche zu lieben" zusammengeführt werden, auf Billers Anfänge als Schriftsteller, eröffnen zugleich aber auch einen neuen Blick auf seinen 2018 erschienenen Roman "Sechs Koffer", werden lesbar als dessen Vorgeschichte, als ein mehrteiliges Prequel, das sich, auch das wird im Detail sichtbar, in teilweise nur minimalen Variationen fortschreibt.
Immer wieder geht es in den Geschichten um die Suche nach Wahrheit, um die Aufklärung eines Geheimnisses, um ein Familiengeheimnis, das, wie das Ich in der Erzählung "Erinnerung, schweig" gegenüber seinem Vater fordert, "endlich gelöst werden muss" und dann "alles über uns offenbart". Aber so wie "Sechs Koffer" vor Augen führt, wie die Frage, welches Mitglied der russisch-jüdischen Familie den 1960 in Moskau verhafteten und hingerichteten Großvater des Erzählers verraten hat, auch in der Zusammenschau von sechs verschiedenen Perspektiven nicht eindeutig aufzulösen ist, zeigen auch die früheren Texte, dass es die eine, einzig gültige Geschichte nicht gibt. Verfügbar sind immer nur verschiedene Versionen. Als Leser rückt man dabei unversehens in die Position des Protagonisten der Erzählung "Warum starb Aurora", der auf der Spur eines Familiengeheimnisses um abweichende "Versionen der Berichte, die er von den Eltern gehört hatte", bittet, um sie zu vergleichen und so "die einzig gültige Geschichte seiner Familie herauszudestillieren, die definitive Wahrheit". Dass dies auch in diesem Fall geradezu strukturell misslingt, verdankt sich Billers spezifischer Auffassung von Wahrheit, vor allem aber seiner Erzählweise, die mit vergleichsweise konventionellen Mitteln ungewöhnliche Perspektiven eröffnet.
In Billers Geschichten erweisen sich einfache Gut-böse-Sortiermechanismen, die durchaus angeboten werden, als wenig tragfähig, rücken Fakten und Fiktionen gerade dann ununterscheidbar aneinander, wenn, wie eigentlich immer, der autobiographische Rahmen überdeutlich hervortritt, werden Stereotype und Klischees nicht nur entlarvt, sondern auch reproduziert, werden Figuren nur knapp skizziert, bleiben aber doch auf komplizierte Weise in sich widersprüchlich. Durchgehend sind die Geschichten so angelegt, dass sie nicht einfach aufgehen, selbst wenn überraschende Wendungen eben dies nahelegen. Sie rufen vielmehr immer wieder Gegengeschichten auf, die sich häufig als nur leicht verschobene Versionen erweisen, aber gerade deshalb deutlicher sichtbar machen, worum es geht, ohne es auf den - eben nicht verfügbaren - Punkt zu bringen.
Fast beiläufig entwirft und reflektiert Biller auf diese Weise in seinen Erzählverfahren ein dezidiert jüdisches Selbstverständnis, das er gleichermaßen aufbaut wie in sich zusammenfallen lässt. Es werden Unvereinbarkeiten, Paradoxien und Komplexitätszumutungen sichtbar, die mit der gängigen Bindestrichformel deutsch-jüdischer Identität kaum mehr erfasst werden können, sich aber in den Geschichten, die Biller selbst als "forschende Fiktionen" beschreibt, weitgehend frei entfalten können. Als Jude wisse man "absolut genau", erläutert Biller in seiner im Reclam-Band nachlesbaren Heidelberger Poetik-Vorlesung, dass es "keine letztgültige Wahrheit" gebe, da es immer auf die Perspektive und die Machtverhältnisse ankomme, in denen man lebt. Man wisse aber auch, fügt Biller hinzu, "dass man trotzdem nie aufgeben darf, nach der Wahrheit zu suchen". Was seine Texte "so jüdisch" mache, sei entsprechend nicht zuletzt die Einladung an jeden, der seine Erzählungen und Romane lese, zu denken, "es könnte auch alles ganz anders sein, als es dort steht".
Vor diesem Hintergrund ist gut nachvollziehbar, dass Biller mit der "110-Dezibel-Besserwisserei", die er vielen, vor allem aber den "Ur-68ern und ihren 70er-Jahre-Lehrlingen" vorwirft, wenig anfangen kann. Totalitäres Denken und autoritäres Auftreten sind zwei der Zielscheiben, auf die Biller seine Kritik ausrichtet, die er, was nach der Lektüre der Familiengeschichten kurzzeitig aus dem Blick geraten kann, allerdings auch nicht in Form feingliedriger Binnendifferenzierungen formuliert. Als "echtes Kind der 70er" hält Biller, wie er selbst feststellt, vielmehr "stur" an dem fest, was er anderen vorhält, "an diesem berauschenden Gut-oder-böse-Denken". Der Hass, dessen performatives, energetisches und poetisches Potential Biller auch nach den Tempojahren weiter in Anschlag bringt, verliert sich aber nicht notwendig in vermeintlichen Selbstwidersprüchen. Wenn er, wie Biller in Abgrenzung zur gegenwärtigen "Hass- und-Hetz-Atmosphäre im Internet" schreibt, als "radikale, aggressive, sorgfältig komponierte Polemik" angelegt ist, kann der Hass maßloses Schimpfen und stringentes Argumentieren tatsächlich hochgradig erkenntnisfördernd verbinden. Das gelingt häufig in Billers Essays, häufig aber auch nicht.
Liest man die Essays nacheinander, stellt sich zunehmend der Eindruck ein, dass hier ein Prinzip in Serie gegangen ist, das Goetz schon 1992 an den "Tempojahren" hervorgehoben hat: Biller rennt die "selbst schon aufgemachten Türen noch einmal mit Fanfare und Getöse ein". Das kann erhellend und auch erheiternd sein, verliert aber doch merklich an Kraft, wenn über die Jahre immer wieder nur festgestellt wird, wie blass und blutleer die deutsche Gegenwartsliteratur ist, wenn Biller seit der Gruppe 47 immer wieder nur "irrelevante Sprachexperimente" vorfindet, "bedeutungsleere Wortneuschöpfungen, weltabgewandte Akademismen und schwammige Pauschalgefühle", "sperrige, abweisende Ideen und Wortkonstrukte ohne Sinn für Dramaturgie", "lauwarme, wohltemperierte Geschichten". Der vielfach angeprangerte "kalte, leere Suhrkamp-Ton", das "bis zur romantischen Unentschlüsselbarkeit hermetische, antirealistische Suhrkampbuch" wird in den Wiederholungsschleifen der eingängigen Adjektivreihen zu einem zunehmend leeren Platzhalter, der nicht dadurch an argumentativer Kraft gewinnt, dass ihm eine vergleichsweise überschaubare Programmatik entgegengehalten wird, die sich aus den Schlagworten Mut, Leben, Wahrheit, Intensität, Sex und Unverschämtheit speist.
Damit ist weder etwas gegen einen Realismus gesagt, der "die Realität zugleich einfasst und transzendiert", noch gegen Billers Forderung, dass "wir nichtdeutschen Schriftsteller deutscher Sprache endlich anfangen sollten, die Freiheit unserer Multilingualität und Fremdperspektive zu nutzen". Das passiert aber spätestens seit den 1990er Jahren weitaus häufiger, als Biller es nahelegt, so dass der "Luxus der wahrheitsspendenden Generalisierung" wie auch die "Kraft der polemischen, intellektuellen Übertreibung" manchmal selbst etwas blass erscheint. Das, was die gegenüber diesem Gestus in mehrfacher Hinsicht komplementär angelegten "Sieben Versuche zu lieben" so eindringlich machen, die nur minimale Verschiebung einer wiederkehrenden Ausgangsaufstellung, funktioniert in den Essays nur bedingt. Auch hier arbeitet Biller mit dem Prinzip der Variation durch Versionen, deren Abweichungen man aber weniger bemerkt, weil die Meinungsbekundungen so laut sind, so dass man auch dann irgendwann aufhört zuzuhören, wenn es, wie eigentlich immer, interessant ist.
Biller positioniert sich durchaus in dem Sinn bewusst als Außenseiter, in dem Hannah Arendt Franz Kafka, Rahel Varnhagen und Heinrich Heine als Parias begriffen hat. Die "Energie jener, die am Rand stehen", verbindet er aber offensiv mit dem Wunsch dazuzugehören. Er bleibt nicht nur "ein kommentierender, siebengescheiter Außenseiter", sondern verfolgt seit den 1970er Jahren durchaus erfolgreich das Projekt, "in diesem Land immer alles mitzumachen, was man mitmachen konnte". Seine Polemiken gegen Rechte, Linke und die bevorzugt angegriffenen "Linksrechtsdeutschen", gegen die "vollkommene Geschichtslosigkeit" und den "Provinzialismus" der Deutschen sind auch deshalb so aufschlussreich. Und sie gewinnen enorm, wenn man die beiden jetzt erschienenen Bücher, die literarischen und die journalistischen Texte nebeneinanderlegt, miteinander liest, gegeneinander hält.
Als Thea Dorn kürzlich das "Literarische Quartett" mit einem merkwürdig deplazierten Ernst-Jünger-Zitat eröffnete, um einen Gegenpol zum gängigen Corona-Diskurs zu markieren, wünschte man sich für einen Moment tatsächlich Maxim Biller ins Fernsehen zurück, der diesen Einstieg angemessen zu kommentieren gewusst hätte. Das war aber gar nicht nötig, Biller hatte seinen Kommentar schon geschrieben. Man konnte die ohnehin uninteressante Sendung abschalten, den Reclam-Band zur Hand nehmen, eine erstmals 1994 in "Tempo" veröffentlichte Reportage aufschlagen und Billers verblüffend aktuellen Kommentar zu der gegenwärtig nicht nur vom Literaturfernsehen wieder aufgeworfenen Frage "Warum Ernst Jünger?" lesen.
Maxim Biller: "Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten". Verlag Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 22 Euro. Maxim Biller: "Wer nichts glaubt, schreibt". Essays über Deutschland und die Literatur". Reclam Verlag, 272 Seiten, 9,80 Euro
Eckhard Schumacher ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Universität Greifswald.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Maxim Billers Familiengeschichten "Sieben Versuche zu lieben" und seine gesammelten Essays "Wer nichts glaubt, schreibt"
Von Eckhard Schumacher
Es ist schon etwas her, fast dreißig Jahre, dass man im "Spiegel" eine irritierende Besprechung von Maxim Billers zweitem Buch "Die Tempojahre" lesen konnte. Offensiv bewundernd, auch ein bisschen aufdringlich, näherte sich Rainald Goetz Maxim Biller an, stellte aber zugleich, ohne sie zu nutzen, nahezu alle Werkzeuge für einen grundlegenden Verriss zur Verfügung. Wenn man damals, Anfang der 1990er Jahre, von "Tempo" und Billers dort sehr regelmäßig publizierten "100 Zeilen Hass" eher gelangweilt war, konnte diese merkwürdige Ambivalenz den Blick auf überraschende Weise wieder öffnen. Bei allen Einwänden gegen "Tempo" und die "Tempojahre", geschuldet nicht zuletzt der Absehbarkeit der treff- und selbstsicheren Hass-Kolumnen, war es eben doch sehr interessant, dass Biller immer "auch noch ganz andere Sachen" gelesen hatte, und zwar, wie Goetz hinzufügt, "ganz anders als alle anderen". Und bemerkenswert war, was Goetz schon mit Blick auf Billers erstes Buch, den 1990 erschienenen Erzählungsband "Wenn ich einmal reich und tot bin", als dessen "Lebensthema" identifizierte - die gar nicht so selbstverständliche "Selbstverständlichkeit", mit der Biller immer wieder auf seine Herkunft und seine Familie zurückkommt und sich so, von München zurück über Hamburg, Prag und Moskau, immer wieder erneut in die "mörderische Mitte" des 20. Jahrhunderts leiten lässt.
Zwei Bücher erinnern jetzt an diese Anfänge, indem sie sie als Anfänge von etwas lesbar machen, das in den folgenden dreißig Jahren fortgesetzt werden sollte, in verschiedenen Formen und Formaten, in unterschiedlichen, häufig eng benachbarten, manchmal direkt ineinander greifenden Konstellationen. Dabei bestätigen "Sieben Versuche zu lieben", eine Zusammenstellung von Billers "Familiengeschichten" aus den Jahren 1990 bis 2007, wie auch "Wer nichts glaubt, schreibt", eine Auswahl von Essays und Reden aus den vergangenen dreißig Jahren, nicht zuletzt, wie wichtig Herkunft und Familie, wie wesentlich Emigrationserfahrungen, die eigenen wie die der Eltern, Großeltern und Verwandten, für Billers literarische und journalistische Texte sind. Sie machen aber nicht nur einmal mehr Billers "Lebensthema" sichtbar, sondern auch die Selbstverständlichkeit, mit der er an ihm festhält.
Dazu gehört, das zeigen insbesondere die kaum gealterten, weiterhin extrem zugänglichen literarischen Texte, dass Biller die Koordinaten der verschiedenen Emigrationsgeschichten, die hier vor allem auf die Niederschlagung des Prager Frühlings zurückzuführen sind, immer wieder verschiebt, ineinander überblendet und nicht selten auch prinzipiell in Frage stellt. So verweisen die dreizehn Erzählungen, die in "Sieben Versuche zu lieben" zusammengeführt werden, auf Billers Anfänge als Schriftsteller, eröffnen zugleich aber auch einen neuen Blick auf seinen 2018 erschienenen Roman "Sechs Koffer", werden lesbar als dessen Vorgeschichte, als ein mehrteiliges Prequel, das sich, auch das wird im Detail sichtbar, in teilweise nur minimalen Variationen fortschreibt.
Immer wieder geht es in den Geschichten um die Suche nach Wahrheit, um die Aufklärung eines Geheimnisses, um ein Familiengeheimnis, das, wie das Ich in der Erzählung "Erinnerung, schweig" gegenüber seinem Vater fordert, "endlich gelöst werden muss" und dann "alles über uns offenbart". Aber so wie "Sechs Koffer" vor Augen führt, wie die Frage, welches Mitglied der russisch-jüdischen Familie den 1960 in Moskau verhafteten und hingerichteten Großvater des Erzählers verraten hat, auch in der Zusammenschau von sechs verschiedenen Perspektiven nicht eindeutig aufzulösen ist, zeigen auch die früheren Texte, dass es die eine, einzig gültige Geschichte nicht gibt. Verfügbar sind immer nur verschiedene Versionen. Als Leser rückt man dabei unversehens in die Position des Protagonisten der Erzählung "Warum starb Aurora", der auf der Spur eines Familiengeheimnisses um abweichende "Versionen der Berichte, die er von den Eltern gehört hatte", bittet, um sie zu vergleichen und so "die einzig gültige Geschichte seiner Familie herauszudestillieren, die definitive Wahrheit". Dass dies auch in diesem Fall geradezu strukturell misslingt, verdankt sich Billers spezifischer Auffassung von Wahrheit, vor allem aber seiner Erzählweise, die mit vergleichsweise konventionellen Mitteln ungewöhnliche Perspektiven eröffnet.
In Billers Geschichten erweisen sich einfache Gut-böse-Sortiermechanismen, die durchaus angeboten werden, als wenig tragfähig, rücken Fakten und Fiktionen gerade dann ununterscheidbar aneinander, wenn, wie eigentlich immer, der autobiographische Rahmen überdeutlich hervortritt, werden Stereotype und Klischees nicht nur entlarvt, sondern auch reproduziert, werden Figuren nur knapp skizziert, bleiben aber doch auf komplizierte Weise in sich widersprüchlich. Durchgehend sind die Geschichten so angelegt, dass sie nicht einfach aufgehen, selbst wenn überraschende Wendungen eben dies nahelegen. Sie rufen vielmehr immer wieder Gegengeschichten auf, die sich häufig als nur leicht verschobene Versionen erweisen, aber gerade deshalb deutlicher sichtbar machen, worum es geht, ohne es auf den - eben nicht verfügbaren - Punkt zu bringen.
Fast beiläufig entwirft und reflektiert Biller auf diese Weise in seinen Erzählverfahren ein dezidiert jüdisches Selbstverständnis, das er gleichermaßen aufbaut wie in sich zusammenfallen lässt. Es werden Unvereinbarkeiten, Paradoxien und Komplexitätszumutungen sichtbar, die mit der gängigen Bindestrichformel deutsch-jüdischer Identität kaum mehr erfasst werden können, sich aber in den Geschichten, die Biller selbst als "forschende Fiktionen" beschreibt, weitgehend frei entfalten können. Als Jude wisse man "absolut genau", erläutert Biller in seiner im Reclam-Band nachlesbaren Heidelberger Poetik-Vorlesung, dass es "keine letztgültige Wahrheit" gebe, da es immer auf die Perspektive und die Machtverhältnisse ankomme, in denen man lebt. Man wisse aber auch, fügt Biller hinzu, "dass man trotzdem nie aufgeben darf, nach der Wahrheit zu suchen". Was seine Texte "so jüdisch" mache, sei entsprechend nicht zuletzt die Einladung an jeden, der seine Erzählungen und Romane lese, zu denken, "es könnte auch alles ganz anders sein, als es dort steht".
Vor diesem Hintergrund ist gut nachvollziehbar, dass Biller mit der "110-Dezibel-Besserwisserei", die er vielen, vor allem aber den "Ur-68ern und ihren 70er-Jahre-Lehrlingen" vorwirft, wenig anfangen kann. Totalitäres Denken und autoritäres Auftreten sind zwei der Zielscheiben, auf die Biller seine Kritik ausrichtet, die er, was nach der Lektüre der Familiengeschichten kurzzeitig aus dem Blick geraten kann, allerdings auch nicht in Form feingliedriger Binnendifferenzierungen formuliert. Als "echtes Kind der 70er" hält Biller, wie er selbst feststellt, vielmehr "stur" an dem fest, was er anderen vorhält, "an diesem berauschenden Gut-oder-böse-Denken". Der Hass, dessen performatives, energetisches und poetisches Potential Biller auch nach den Tempojahren weiter in Anschlag bringt, verliert sich aber nicht notwendig in vermeintlichen Selbstwidersprüchen. Wenn er, wie Biller in Abgrenzung zur gegenwärtigen "Hass- und-Hetz-Atmosphäre im Internet" schreibt, als "radikale, aggressive, sorgfältig komponierte Polemik" angelegt ist, kann der Hass maßloses Schimpfen und stringentes Argumentieren tatsächlich hochgradig erkenntnisfördernd verbinden. Das gelingt häufig in Billers Essays, häufig aber auch nicht.
Liest man die Essays nacheinander, stellt sich zunehmend der Eindruck ein, dass hier ein Prinzip in Serie gegangen ist, das Goetz schon 1992 an den "Tempojahren" hervorgehoben hat: Biller rennt die "selbst schon aufgemachten Türen noch einmal mit Fanfare und Getöse ein". Das kann erhellend und auch erheiternd sein, verliert aber doch merklich an Kraft, wenn über die Jahre immer wieder nur festgestellt wird, wie blass und blutleer die deutsche Gegenwartsliteratur ist, wenn Biller seit der Gruppe 47 immer wieder nur "irrelevante Sprachexperimente" vorfindet, "bedeutungsleere Wortneuschöpfungen, weltabgewandte Akademismen und schwammige Pauschalgefühle", "sperrige, abweisende Ideen und Wortkonstrukte ohne Sinn für Dramaturgie", "lauwarme, wohltemperierte Geschichten". Der vielfach angeprangerte "kalte, leere Suhrkamp-Ton", das "bis zur romantischen Unentschlüsselbarkeit hermetische, antirealistische Suhrkampbuch" wird in den Wiederholungsschleifen der eingängigen Adjektivreihen zu einem zunehmend leeren Platzhalter, der nicht dadurch an argumentativer Kraft gewinnt, dass ihm eine vergleichsweise überschaubare Programmatik entgegengehalten wird, die sich aus den Schlagworten Mut, Leben, Wahrheit, Intensität, Sex und Unverschämtheit speist.
Damit ist weder etwas gegen einen Realismus gesagt, der "die Realität zugleich einfasst und transzendiert", noch gegen Billers Forderung, dass "wir nichtdeutschen Schriftsteller deutscher Sprache endlich anfangen sollten, die Freiheit unserer Multilingualität und Fremdperspektive zu nutzen". Das passiert aber spätestens seit den 1990er Jahren weitaus häufiger, als Biller es nahelegt, so dass der "Luxus der wahrheitsspendenden Generalisierung" wie auch die "Kraft der polemischen, intellektuellen Übertreibung" manchmal selbst etwas blass erscheint. Das, was die gegenüber diesem Gestus in mehrfacher Hinsicht komplementär angelegten "Sieben Versuche zu lieben" so eindringlich machen, die nur minimale Verschiebung einer wiederkehrenden Ausgangsaufstellung, funktioniert in den Essays nur bedingt. Auch hier arbeitet Biller mit dem Prinzip der Variation durch Versionen, deren Abweichungen man aber weniger bemerkt, weil die Meinungsbekundungen so laut sind, so dass man auch dann irgendwann aufhört zuzuhören, wenn es, wie eigentlich immer, interessant ist.
Biller positioniert sich durchaus in dem Sinn bewusst als Außenseiter, in dem Hannah Arendt Franz Kafka, Rahel Varnhagen und Heinrich Heine als Parias begriffen hat. Die "Energie jener, die am Rand stehen", verbindet er aber offensiv mit dem Wunsch dazuzugehören. Er bleibt nicht nur "ein kommentierender, siebengescheiter Außenseiter", sondern verfolgt seit den 1970er Jahren durchaus erfolgreich das Projekt, "in diesem Land immer alles mitzumachen, was man mitmachen konnte". Seine Polemiken gegen Rechte, Linke und die bevorzugt angegriffenen "Linksrechtsdeutschen", gegen die "vollkommene Geschichtslosigkeit" und den "Provinzialismus" der Deutschen sind auch deshalb so aufschlussreich. Und sie gewinnen enorm, wenn man die beiden jetzt erschienenen Bücher, die literarischen und die journalistischen Texte nebeneinanderlegt, miteinander liest, gegeneinander hält.
Als Thea Dorn kürzlich das "Literarische Quartett" mit einem merkwürdig deplazierten Ernst-Jünger-Zitat eröffnete, um einen Gegenpol zum gängigen Corona-Diskurs zu markieren, wünschte man sich für einen Moment tatsächlich Maxim Biller ins Fernsehen zurück, der diesen Einstieg angemessen zu kommentieren gewusst hätte. Das war aber gar nicht nötig, Biller hatte seinen Kommentar schon geschrieben. Man konnte die ohnehin uninteressante Sendung abschalten, den Reclam-Band zur Hand nehmen, eine erstmals 1994 in "Tempo" veröffentlichte Reportage aufschlagen und Billers verblüffend aktuellen Kommentar zu der gegenwärtig nicht nur vom Literaturfernsehen wieder aufgeworfenen Frage "Warum Ernst Jünger?" lesen.
Maxim Biller: "Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten". Verlag Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 22 Euro. Maxim Biller: "Wer nichts glaubt, schreibt". Essays über Deutschland und die Literatur". Reclam Verlag, 272 Seiten, 9,80 Euro
Eckhard Schumacher ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Universität Greifswald.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main