Sieben auf einen Streich: Wer sind die Wegbereiter der modernen deutschen Literatur? Marcel Reich-Ranicki schreibt in seinen Essays über sieben große Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts und deren Werke, die ihn schon in seiner Schulzeit im Berlin der dreißiger Jahre interessiert, irritiert und fasziniert haben: Thomas Mann, Kafka und Brecht und ihre Bedeutung für Epik, Lyrik und Dramatik; die Romanciers Döblin und Musil, den Erotiker Schnitzler und den Feuilletonisten Tucholsky.
Reich-Ranicki zeigt in seinen Porträts, daß jene, denen wir Verse und Prosa von höchster Qualität verdanken, allesamt auch schwache Menschen waren, leidend und einsam, gequält von Ehrgeiz und Eitelkeit. Er zeigt ihre Lächerlichkeit, ihre Originalität, doch vor allem zeigt er ihre Größe und Erhabenheit.
Reich-Ranicki zeigt in seinen Porträts, daß jene, denen wir Verse und Prosa von höchster Qualität verdanken, allesamt auch schwache Menschen waren, leidend und einsam, gequält von Ehrgeiz und Eitelkeit. Er zeigt ihre Lächerlichkeit, ihre Originalität, doch vor allem zeigt er ihre Größe und Erhabenheit.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.08.2002Ich bin der Doktor Eisenbart, kuriere Euch auf meine Art
Wie man die Kritik der Werke durch die Pathologisierung der Autoren ersetzt: Marcel Reich-Ranickis „Sieben Wegbereiter”
Neid, schlechte Laune und gewiss auch der mit dem Alter immer stärker werdende Hang, die deutsche wie die gern auch „Weltliteratur” genannte fremdsprachige Literatur nach Strich und Faden zu beschulmeistern, drängten den schon sehr alten Goethe am 2. April 1829, seinem Eckermann gegenüber die neueren Autoren einmal sauber abzukanzeln: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke.” Das war gut, das hatte was, honi soit qui mal y pense: was Klassisches, und diese aufmüpfigen Brüder Romantiker brauchten sowieso mal ordentlich stäupen. Und Goethe, im achzigsten Jahre und langsam in Fahrt kommend, schwadronierte sich schnell warm: „Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist.” Eckermann, der Arme, duckte sich übers Papier, schrieb's auf und sah dann leicht verkrampft über die linke Schulter, und richtig, da kam sie auch schon, die conclusio des großen Donnerers: „Wenn wir nach solchen Qualitäten Klassisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald im reinen sein.”
Klassisch, das wollte uns der Dichter durch den Eckermann sagen, klassisch ist gut und romantisch schlecht oder sogar böse. Eckermann brummte zwar etwas insubordinant „So, so, ‚im reinen‘ auch noch!” vor sich hin, notierte dann aber doch, was dem Gehege der großen Zähne da entronnen, tat Streusand drauf und dachte seufzend an sein noch immer nicht gefreites Hannchen. „Im reinen!”
Die Opposition krank/gesund hat sich in den 170 Jahren seither als außergewöhnlich fruchtbar erwiesen, und so findet sie sich auch als Nährboden in Marcel Reich-Ranickis Sammelband „Sieben Wegbereiter”. Hier stellt der große Kritiker Aufsätze und Reden aus 25 Jahren über Arthur Schnitzler, Thomas Mann, Alfred Döblin, Franz Kafka, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht zusammen; nur die Arbeit über Robert Musil ist neu. Neu oder nicht, es werden die bekannten Motive durchgespielt, die beliebten rhetorischen Fragen beantwortet.
Krank, krank, krank bis ins Mark
Die Zeit ist stehen geblieben in den „Wegbereitern”. Im Kapitel über Robert Musil, 2001 und 2002 entstanden, ist einmal von den „sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts” die Rede, während ansonsten das 20. Jahrhundert noch putzmuntre Gegenwart ist. Seit Tucholskys Tod, das war 1935, sei „bald ein halbes Jahrhundert” vergangen, „seit dem Tod Thomas Manns keine vierzig Jahre ” (er starb 1955). Auf solche Kleinigkeiten kommt es nicht an, sondern darauf: „Die Wegbereiter wurden meine Wegbegleiter”.
Auf so vertrautem Fuß steht der Autor mit den sieben Herrschaften, dass er wenig Neues mitzuteilen hat. „Die Erkenntnisse der Psychologie ermöglichten die Verfeinerung und Vertiefung auch und vor allem der erotischen Geschichten”, schreibt Reich-Ranicki in seiner Vorbemerkung. „Das Sexuelle, bisher verschwiegen und ausgespart oder nur knapp angedeutet, wurde nun in den Themenkreis der Literatur einbezogen.” Auch und vor allem ist das Sexuelle in den Themenkreis dieser Aufsätze einbezogen. Wer hier versagt, der versagt erst recht als Schriftsteller.
Dreiundzwanzig ist er schon, als Alfred Döblin zum ersten Mal eine nackte Frau sieht, und sie erscheint ihm sehr fremd. Reich-Ranicki weiss bestens Bescheid über diesen Wegbereiter, der ihm zum Wegbegleiter wurde: Gesund ist das nicht, sondern krank, meint der gute Onkel Doktor, „derartiges verweist doch wohl, um es vorsichtig auszudrücken, auf psychische Störungen”. „Wunderlich” war Döblin, „weltfremd”, ein „Eiferer”, und dann sucht der besorgte Doktor die Symptome für die Döblinsche Krankheit zusammen: „Selbstkontrolle und Disziplin, künstlerische Zucht und Strenge gegen sich selbst – das alles kannte er nicht.” Und seine Bücher, die sind auch so, krank, krank bis ins Mark.
Ist der Arzt einmal gerufen, bekommt er reichlich zu tun: nicht bloß Döblin, auch Franz Kafka und Robert Musil müssen dringend krank geschrieben werden, wie zuvor schon Friedrich Hölderlin. Der war zwar, wie Reich-Ranicki vor zwei Jahren bei der Entgegennahme des Friedrich-Hölderlin-Preises erklärte, „genial”, aber nicht in der Lage, „seinen poetischen Genius zu kontrollieren”, überdies, und jetzt wird’s schon sehr streng, „weltfremd und letztlich lebensunfähig”. Zu krank der Mann, und darum reicht es letztlich nicht zum Klassiker.
Bei aller Liebe entdeckt Reich-Ranicki auch bei Kafka lauter unschöne Dinge wie „Angst”, „Selbsthass”, und „masochistisch” ist er auch noch gewesen. So einer ist nicht stark, frisch, froh und gesund, sondern? Na, habt Ihr alle aufgepasst? Dass er nicht besonders lebenstüchtig war, braucht der Doktor Eisenbart gar nicht mehr hinzuzusetzen – ist Kafka früh gestorben oder nicht?
Der Psychiater hat den Kritiker ersetzt, und weh dem, der aus der Reihe tanzt. Dann setzt es was. Dann statuiert der Doktor ein Exempel. Robert Musil, so erfährt der verblüffte Leser, war „ein unglücklicher Mensch”, außerdem „schwach”, „introvertiert”, „offensichtlich manisch veranlagt”, „verwirrt” und wenn er schrieb, dann schrieb er nicht, sondern bedeckte „unzählige Seiten mit oft dunklen und wirren, wenn nicht ganz unverständlichen Aufzeichnungen aller Art”. Sein Schreiben war, so steht es wirklich da, „zuchtlos”. Musil, so muss der Seelenarzt bitter konstatieren, hatte sich so wenig in der Zucht wie der „Amokläufer” Alfred Döblin. Weitere Ausführungen zum Musilschen Werk erübrigen sich, der „Mann ohne Eigenschaften” ist von Bedeutung nur, wo Musil „traditionell erzählt”, ansonsten ist der Mann „ein ganz und gar gescheiterter Mann”, dem es, c’est la vie du bohème, schwer fiel, „seinen Lebensunterhalt zu verdienen”.
Brecht, der gewaltige Weiberer, kommt wesentlich besser weg im Urteil dieses Feldschers. Nicht schwach ist er, sondern kräftig, frisch, froh, ein, man kann es gar nicht anders sagen, ein Klassiker. Das gilt auch für Tucholsky, Schnitzler und Thomas Mann, die für die deutsche Literatur schon deshalb wichtig sind, weil sich bei ihnen im erotischen Themenkreis soviel abspielte.
Womöglich ist deren Beitrag zur Literatur dann doch nicht so originell, denn warum sonst müsste der Gesundbeter gleich dreimal die Shakespeare'schen Verse von der Liebe hersagen: „Sie sieht mit dem Gemüt, nicht mit den Augen. / Und ihr Gemüt kann nie zum Urteil taugen.” Der Herr Doktor ist der Wiederholung auch sonst nicht abgeneigt: „Thomas Manns Urbanität war ihm so fremd wie Hofmannsthals Diplomatie oder Brechts List”, heisst es auf Seite 123 über Alfred Döblin und auf Seite 128, immer noch über Döblin: „Für Thomas Manns Urbanität, Hofmannsthals Diplomatie oder Brechts List hatte er nur Spott übrig.”
Warum eine Diagnose, die sich einmal bewährt hat, nicht ein weiteres Mal liefern? „Ob Döblin es wollte oder nicht, er musste sein ganzes Leben lang an dem Ast sägen, auf dem er saß.” (123) Er wollte offenbar doch, aber Reich- Ranicki fällt es erst auf Seite 137 auf, als er Döblin so zitiert: „ich säge alle Äste unter mir ab”.
Den großen Literaturkritiker verbindet mit dem großen Arzt, dass er nicht bloß sagenhafte Banalitäten zum Besten gibt, sondern sie auch noch ständig aplompierend wiederholt. Es geht noch immer um den Patienten Döblin: „Konsequent landete er stets dort, wo es am unbequemsten war: zwischen allen Stühlen.” (123) Und weil's so schön war, gleich nochmal: „So landete er stets dort, wo es am unbequemsten war: zwischen allen Stühlen.” (128) Und als stünden inzwischen nicht schon genug Stühle herum, will die Möbel-Frage auch noch kunstrichterlich bedacht sein: „Auch im Bereich des Ästhetischen saß er stets zwischen den Stühlen” (136), wo es am unbe--, aber jetzt wissen es doch alle?
Wie man Gespenster vertreibt
Der Patient leidet vor allem an der „Flucht ins Undeutliche und Verschwommene, diesem Erzübel der deutschen Literatur”, und das ergrimmt den Doktor Eisenbart. Beim Rezepteschreiben kommt es deshalb häufiger zu Druckfehlern. Der Literaturwissenschaftler Werner Vordtriede steht im Text richtig, im Register, wo ihm die falsche Seitenzahl zugewiesen wird, ist er zum „Vortriede” geschrumpft. Für seinen Aufsatz über Franz Kafkas Briefe an Milena zitiert Reich-Ranicki jenen berühmten vom Ende März 1922, in dem der ewige Briefeschreiber Kafka das Briefeschreiben als das „Unglück meines Lebens” verdammt, und zitiert ihn falsch. „Briefe schreiben aber heisst, sich von den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten.” Das nennt man in der Fachwelt vermutlich eine Freudsche Fehlleistung. Wartete doch niemand gieriger darauf, dass sich die deutsche Literatur endlich von allem Verschwommenem, Undeutlichen, allem Schwierigen entblößte als der Gespensterjäger Marcel Reich-Ranicki. Sie tut es nur nicht.
Vielleicht hätte der Patient Franz Kafka ja bei einem natürlichem, nicht-masochistischen Ausdruck das uneingeschränkte Wohlwollen Reich-Ranickis gefunden, aber da dieser Widerborst sich nun einmal vor den Gespenstern entblößt hat, da er schwach war, kränklich, fast so krank wie Hölderlin, gruselte es auch seine Leser. Reich-Ranicki zieht wahrscheinlich die erotischen Themenkreisromane Max Brods vor.
Mit unermüdlichem Einsatz hat Reich-Ranicki durchgesetzt, was nicht durchgesetzt werden muss: die Unterhaltungsliteratur. Nur erlauchte Namen muss sie tragen, also nicht Eugenie Marlitt, sondern Theodor Fontane, nicht Harold Robbins, sondern John Updike, umgotteswillen kein Sudermann, sondern der hohe Thomas Mann. Schwierig wird es mit den schwierigeren Autoren. Das Schwierige, was den Kritiker schon überforderte, kann er schließlich auch seinen Lesern weder erklären noch zumuten. Deshalb macht er in klassischer Tradition eine Krankenstation auf: die Schlechten ins Lazarett, die Guten in den Kanon.
Für seine Verdienste um die Literatur hat man ihm deshalb zahlreiche Ehrendoktorate verliehen, und deshalb erhält er heute den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt, der benannt ist nach dem Mann, der in einer schwachen Minute so genau wusste, was krank ist und was gesund. Marcel Reich-Ranicki hat den Preis verdient. Wen aber Marcel Reich-Ranicki für gesund erklärt, der sollte sich möglichst rasch an seinen Arzt oder Apotheker wenden.
WILLI WINKLER
MARCEL REICH-RANICKI: Sieben Wegbereiter. Deutsche Verlags-Anstalt: München 2002. 304 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wie man die Kritik der Werke durch die Pathologisierung der Autoren ersetzt: Marcel Reich-Ranickis „Sieben Wegbereiter”
Neid, schlechte Laune und gewiss auch der mit dem Alter immer stärker werdende Hang, die deutsche wie die gern auch „Weltliteratur” genannte fremdsprachige Literatur nach Strich und Faden zu beschulmeistern, drängten den schon sehr alten Goethe am 2. April 1829, seinem Eckermann gegenüber die neueren Autoren einmal sauber abzukanzeln: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke.” Das war gut, das hatte was, honi soit qui mal y pense: was Klassisches, und diese aufmüpfigen Brüder Romantiker brauchten sowieso mal ordentlich stäupen. Und Goethe, im achzigsten Jahre und langsam in Fahrt kommend, schwadronierte sich schnell warm: „Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist.” Eckermann, der Arme, duckte sich übers Papier, schrieb's auf und sah dann leicht verkrampft über die linke Schulter, und richtig, da kam sie auch schon, die conclusio des großen Donnerers: „Wenn wir nach solchen Qualitäten Klassisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald im reinen sein.”
Klassisch, das wollte uns der Dichter durch den Eckermann sagen, klassisch ist gut und romantisch schlecht oder sogar böse. Eckermann brummte zwar etwas insubordinant „So, so, ‚im reinen‘ auch noch!” vor sich hin, notierte dann aber doch, was dem Gehege der großen Zähne da entronnen, tat Streusand drauf und dachte seufzend an sein noch immer nicht gefreites Hannchen. „Im reinen!”
Die Opposition krank/gesund hat sich in den 170 Jahren seither als außergewöhnlich fruchtbar erwiesen, und so findet sie sich auch als Nährboden in Marcel Reich-Ranickis Sammelband „Sieben Wegbereiter”. Hier stellt der große Kritiker Aufsätze und Reden aus 25 Jahren über Arthur Schnitzler, Thomas Mann, Alfred Döblin, Franz Kafka, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht zusammen; nur die Arbeit über Robert Musil ist neu. Neu oder nicht, es werden die bekannten Motive durchgespielt, die beliebten rhetorischen Fragen beantwortet.
Krank, krank, krank bis ins Mark
Die Zeit ist stehen geblieben in den „Wegbereitern”. Im Kapitel über Robert Musil, 2001 und 2002 entstanden, ist einmal von den „sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts” die Rede, während ansonsten das 20. Jahrhundert noch putzmuntre Gegenwart ist. Seit Tucholskys Tod, das war 1935, sei „bald ein halbes Jahrhundert” vergangen, „seit dem Tod Thomas Manns keine vierzig Jahre ” (er starb 1955). Auf solche Kleinigkeiten kommt es nicht an, sondern darauf: „Die Wegbereiter wurden meine Wegbegleiter”.
Auf so vertrautem Fuß steht der Autor mit den sieben Herrschaften, dass er wenig Neues mitzuteilen hat. „Die Erkenntnisse der Psychologie ermöglichten die Verfeinerung und Vertiefung auch und vor allem der erotischen Geschichten”, schreibt Reich-Ranicki in seiner Vorbemerkung. „Das Sexuelle, bisher verschwiegen und ausgespart oder nur knapp angedeutet, wurde nun in den Themenkreis der Literatur einbezogen.” Auch und vor allem ist das Sexuelle in den Themenkreis dieser Aufsätze einbezogen. Wer hier versagt, der versagt erst recht als Schriftsteller.
Dreiundzwanzig ist er schon, als Alfred Döblin zum ersten Mal eine nackte Frau sieht, und sie erscheint ihm sehr fremd. Reich-Ranicki weiss bestens Bescheid über diesen Wegbereiter, der ihm zum Wegbegleiter wurde: Gesund ist das nicht, sondern krank, meint der gute Onkel Doktor, „derartiges verweist doch wohl, um es vorsichtig auszudrücken, auf psychische Störungen”. „Wunderlich” war Döblin, „weltfremd”, ein „Eiferer”, und dann sucht der besorgte Doktor die Symptome für die Döblinsche Krankheit zusammen: „Selbstkontrolle und Disziplin, künstlerische Zucht und Strenge gegen sich selbst – das alles kannte er nicht.” Und seine Bücher, die sind auch so, krank, krank bis ins Mark.
Ist der Arzt einmal gerufen, bekommt er reichlich zu tun: nicht bloß Döblin, auch Franz Kafka und Robert Musil müssen dringend krank geschrieben werden, wie zuvor schon Friedrich Hölderlin. Der war zwar, wie Reich-Ranicki vor zwei Jahren bei der Entgegennahme des Friedrich-Hölderlin-Preises erklärte, „genial”, aber nicht in der Lage, „seinen poetischen Genius zu kontrollieren”, überdies, und jetzt wird’s schon sehr streng, „weltfremd und letztlich lebensunfähig”. Zu krank der Mann, und darum reicht es letztlich nicht zum Klassiker.
Bei aller Liebe entdeckt Reich-Ranicki auch bei Kafka lauter unschöne Dinge wie „Angst”, „Selbsthass”, und „masochistisch” ist er auch noch gewesen. So einer ist nicht stark, frisch, froh und gesund, sondern? Na, habt Ihr alle aufgepasst? Dass er nicht besonders lebenstüchtig war, braucht der Doktor Eisenbart gar nicht mehr hinzuzusetzen – ist Kafka früh gestorben oder nicht?
Der Psychiater hat den Kritiker ersetzt, und weh dem, der aus der Reihe tanzt. Dann setzt es was. Dann statuiert der Doktor ein Exempel. Robert Musil, so erfährt der verblüffte Leser, war „ein unglücklicher Mensch”, außerdem „schwach”, „introvertiert”, „offensichtlich manisch veranlagt”, „verwirrt” und wenn er schrieb, dann schrieb er nicht, sondern bedeckte „unzählige Seiten mit oft dunklen und wirren, wenn nicht ganz unverständlichen Aufzeichnungen aller Art”. Sein Schreiben war, so steht es wirklich da, „zuchtlos”. Musil, so muss der Seelenarzt bitter konstatieren, hatte sich so wenig in der Zucht wie der „Amokläufer” Alfred Döblin. Weitere Ausführungen zum Musilschen Werk erübrigen sich, der „Mann ohne Eigenschaften” ist von Bedeutung nur, wo Musil „traditionell erzählt”, ansonsten ist der Mann „ein ganz und gar gescheiterter Mann”, dem es, c’est la vie du bohème, schwer fiel, „seinen Lebensunterhalt zu verdienen”.
Brecht, der gewaltige Weiberer, kommt wesentlich besser weg im Urteil dieses Feldschers. Nicht schwach ist er, sondern kräftig, frisch, froh, ein, man kann es gar nicht anders sagen, ein Klassiker. Das gilt auch für Tucholsky, Schnitzler und Thomas Mann, die für die deutsche Literatur schon deshalb wichtig sind, weil sich bei ihnen im erotischen Themenkreis soviel abspielte.
Womöglich ist deren Beitrag zur Literatur dann doch nicht so originell, denn warum sonst müsste der Gesundbeter gleich dreimal die Shakespeare'schen Verse von der Liebe hersagen: „Sie sieht mit dem Gemüt, nicht mit den Augen. / Und ihr Gemüt kann nie zum Urteil taugen.” Der Herr Doktor ist der Wiederholung auch sonst nicht abgeneigt: „Thomas Manns Urbanität war ihm so fremd wie Hofmannsthals Diplomatie oder Brechts List”, heisst es auf Seite 123 über Alfred Döblin und auf Seite 128, immer noch über Döblin: „Für Thomas Manns Urbanität, Hofmannsthals Diplomatie oder Brechts List hatte er nur Spott übrig.”
Warum eine Diagnose, die sich einmal bewährt hat, nicht ein weiteres Mal liefern? „Ob Döblin es wollte oder nicht, er musste sein ganzes Leben lang an dem Ast sägen, auf dem er saß.” (123) Er wollte offenbar doch, aber Reich- Ranicki fällt es erst auf Seite 137 auf, als er Döblin so zitiert: „ich säge alle Äste unter mir ab”.
Den großen Literaturkritiker verbindet mit dem großen Arzt, dass er nicht bloß sagenhafte Banalitäten zum Besten gibt, sondern sie auch noch ständig aplompierend wiederholt. Es geht noch immer um den Patienten Döblin: „Konsequent landete er stets dort, wo es am unbequemsten war: zwischen allen Stühlen.” (123) Und weil's so schön war, gleich nochmal: „So landete er stets dort, wo es am unbequemsten war: zwischen allen Stühlen.” (128) Und als stünden inzwischen nicht schon genug Stühle herum, will die Möbel-Frage auch noch kunstrichterlich bedacht sein: „Auch im Bereich des Ästhetischen saß er stets zwischen den Stühlen” (136), wo es am unbe--, aber jetzt wissen es doch alle?
Wie man Gespenster vertreibt
Der Patient leidet vor allem an der „Flucht ins Undeutliche und Verschwommene, diesem Erzübel der deutschen Literatur”, und das ergrimmt den Doktor Eisenbart. Beim Rezepteschreiben kommt es deshalb häufiger zu Druckfehlern. Der Literaturwissenschaftler Werner Vordtriede steht im Text richtig, im Register, wo ihm die falsche Seitenzahl zugewiesen wird, ist er zum „Vortriede” geschrumpft. Für seinen Aufsatz über Franz Kafkas Briefe an Milena zitiert Reich-Ranicki jenen berühmten vom Ende März 1922, in dem der ewige Briefeschreiber Kafka das Briefeschreiben als das „Unglück meines Lebens” verdammt, und zitiert ihn falsch. „Briefe schreiben aber heisst, sich von den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten.” Das nennt man in der Fachwelt vermutlich eine Freudsche Fehlleistung. Wartete doch niemand gieriger darauf, dass sich die deutsche Literatur endlich von allem Verschwommenem, Undeutlichen, allem Schwierigen entblößte als der Gespensterjäger Marcel Reich-Ranicki. Sie tut es nur nicht.
Vielleicht hätte der Patient Franz Kafka ja bei einem natürlichem, nicht-masochistischen Ausdruck das uneingeschränkte Wohlwollen Reich-Ranickis gefunden, aber da dieser Widerborst sich nun einmal vor den Gespenstern entblößt hat, da er schwach war, kränklich, fast so krank wie Hölderlin, gruselte es auch seine Leser. Reich-Ranicki zieht wahrscheinlich die erotischen Themenkreisromane Max Brods vor.
Mit unermüdlichem Einsatz hat Reich-Ranicki durchgesetzt, was nicht durchgesetzt werden muss: die Unterhaltungsliteratur. Nur erlauchte Namen muss sie tragen, also nicht Eugenie Marlitt, sondern Theodor Fontane, nicht Harold Robbins, sondern John Updike, umgotteswillen kein Sudermann, sondern der hohe Thomas Mann. Schwierig wird es mit den schwierigeren Autoren. Das Schwierige, was den Kritiker schon überforderte, kann er schließlich auch seinen Lesern weder erklären noch zumuten. Deshalb macht er in klassischer Tradition eine Krankenstation auf: die Schlechten ins Lazarett, die Guten in den Kanon.
Für seine Verdienste um die Literatur hat man ihm deshalb zahlreiche Ehrendoktorate verliehen, und deshalb erhält er heute den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt, der benannt ist nach dem Mann, der in einer schwachen Minute so genau wusste, was krank ist und was gesund. Marcel Reich-Ranicki hat den Preis verdient. Wen aber Marcel Reich-Ranicki für gesund erklärt, der sollte sich möglichst rasch an seinen Arzt oder Apotheker wenden.
WILLI WINKLER
MARCEL REICH-RANICKI: Sieben Wegbereiter. Deutsche Verlags-Anstalt: München 2002. 304 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2002MARCEL REICH-RANICKI hat unter dem Stichwort "Wegbereiter" Essays über sieben deutsche Schriftsteller zusammengefaßt. Es sind Autoren, die ihn schon in seiner Jugend fasziniert haben: Arthur Schnitzler, Thomas Mann und Alfred Döblin, Robert Musil, Franz Kafka, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht. Immer wieder ist Reich-Ranicki zu ihnen zurückgekehrt: staunend und bewundernd, bisweilen auch enttäuscht. Die Arbeiten zeugen von einer Passion, aus der eine Profession wurde, und lassen uns erkennen, daß jene, denen wir Verse und Prosa von höchster Qualität verdanken, allesamt schwache Menschen waren, leidend und einsam. Gezeigt wird ihre Schwäche und Lächerlichkeit, doch auch und vor allem ihre Größe. Das Buch ist ein polemisches Plädoyer für die deutsche Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und zugleich eine Liebeserklärung: "Die Wegbereiter wurden meine Wegbegleiter." Einige Aufsätze werden hier erstmalig gedruckt, andere erstmals in vollständiger Fassung geboten. (Marcel Reich-Ranicki: "Sieben Wegbereiter". Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002. 300 S., geb., 19,90 [Euro].)
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"Ein polemisches Plädoyer für die deutsche Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und zugleich eine Liebeserklärung." Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Indem Reich-Ranicki die Autoren in sein Spiel mit den Romanen mischt, macht er sie für die Leser lebendig." Gert Ueding in der 'Welt'
"Eine kurzweilige Lektüre, weil der Autor keineswegs in distanzloser Verehrung erstarrt." Heilbronner Stimme
"Indem Reich-Ranicki die Autoren in sein Spiel mit den Romanen mischt, macht er sie für die Leser lebendig." Gert Ueding in der 'Welt'
"Eine kurzweilige Lektüre, weil der Autor keineswegs in distanzloser Verehrung erstarrt." Heilbronner Stimme