Siegfried Kracauer, geboren 1889 in Frankfurt am Main, gestorben 1966 in New York, war in seinem Leben vieles: Architekt und Schriftsteller, Redakteur der Frankfurter Zeitung und gefragte Person des Weimarer Kulturbetriebes, Teil des philosophischen Quartetts mit Adorno, Benjamin und Bloch, Jude und politischer Linker. Von 1933 bis 1941 war er auf der Flucht, zuerst nach Paris, um dann über Marseille und Lissabon nach New York zu gelangen. Dort mischte er in der psychologischen Kriegsführung mit, betätigte sich aber auch als Filmschriftsteller, als Sozialwissenschaftler und zuletzt als das, was er immer war: ein philosophischer Autor.
Jörg Später hat sich auf die Spuren dieses facettenreichen Lebens begeben und die erste große Biographie über diesen außergewöhnlichen Mann geschrieben. Er beleuchtet die Orte und Milieus, lässt uns an den Freundschaften teilhaben und bringt die Werke zum Sprechen. Nicht im Stile einer der Objektivität verpflichteten Chronik zeichnet er das Leben Siegfried Kracauers nach, sondern als große Erzählung einer Existenzbewältigung, die Licht auf ein Jahrhundert der transzendentalen wie profanen Obdachlosigkeit wirft.
Jörg Später hat sich auf die Spuren dieses facettenreichen Lebens begeben und die erste große Biographie über diesen außergewöhnlichen Mann geschrieben. Er beleuchtet die Orte und Milieus, lässt uns an den Freundschaften teilhaben und bringt die Werke zum Sprechen. Nicht im Stile einer der Objektivität verpflichteten Chronik zeichnet er das Leben Siegfried Kracauers nach, sondern als große Erzählung einer Existenzbewältigung, die Licht auf ein Jahrhundert der transzendentalen wie profanen Obdachlosigkeit wirft.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Thomas Meyer weiß, wie wenig Substanzielles es bisher zu Siegfried Krakaucer zu lesen gab und wie schwer dieser alle Schablonen sprengende Intellektuelle zu fassen ist, der in Architektur promovierte, als Schüler Georg Simmels in Soziologie brillierte und doch vor allem für seine Filmschriften bekannt ist, wenn auch nicht unbedingt gelesen. Allein deshalb erscheint dem Rezensenten die Biografie Jörg Späters als "Glücksfall", aber nicht nur: Der Freiburger Historiker kann schreiben, bemerkt Meyer, verbindet eloquent Familiengeschichte und Zeitgeschehen. Die Werkdeutungen, denen Später folgt, leuchten dem Rezensent ebenso ein wie seine Entscheidung, all die Kontroversen, in die Kracauer verstrickt war, aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Einen sachten Einwand erhebt der Rezensent allenfalls gegen Späters geradezu "übermenschlichen" Willen, allen Beteiligten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.10.2016Die Ornamente des Ich
Siegfried Kracauer war Architekt, Philosoph, Soziologe, Kritiker. Der Historiker Jörg Später hat die erste umfassende
Biografie des außergewöhnlichen Intellektuellen geschrieben – sie ist ein Glücksfall
VON THOMAS MEYER
Siegfried Kracauer ist schwer zu fassen. Das ist keine neue Feststellung, vielmehr trieb sie bereits den berühmten Renaissanceforscher Paul Oskar Kristeller um, als er 1969 im Vorwort zu Kracauers letztem, unvollendet gebliebenen Buch, das in der deutschen Übersetzung den Titel „Geschichte – Vor den letzten Dingen“ trägt, den Freund als „Philosophen, Soziologen, Historiker und vor allem Kritiker und Schriftsteller“ vorstellte. Damit war immerhin angedeutet, wie weit die Interessen und Kompetenzen des 1889 in Frankfurt am Main geborenen und 1966 in New York gestorbenen Kracauers gespannt waren. Doch nicht nur das. Kristellers kurzer, ungemein dichter Text kontrastiert auf kluge Weise akademische Berufsbezeichnungen mit typischen Beschäftigungen freischwebender Intellektueller.
Damit war auf einen Umstand verwiesen, der Kracauers Biografie, also auch seine Selbstanalysen und sein umfangreiches Werk zunächst einmal aufschließt: Kracauer saß lebenslang zwischen vielen Stühlen. Dabei hatte für den promovierten Architekten alles gut begonnen. Als Redakteur bei der Frankfurter Zeitung war er ein etablierter Außenseiter; als Schüler Georg Simmels formulierte er über Jahre eine komplexe Phänomenologie des Alltags, seiner Durchdringung mit Ideologemen und versteckten Freiheiten und wurde so eine wichtige Stimme in der Weimarer Republik.
Dann der Bruch. Seit 1933 im französischen Exil, fühlt er mittels einer Analyse Jacques Offenbachs nicht etwa dem 19. Jahrhundert, sondern der Gegenwart den Puls – ganz zum Entsetzen seiner Freunde, von denen er finanziell weitgehend abhängig ist. Sie können und wollen nicht begreifen, dass Kracauer sein im Roman „Ginster“ begonnenes Vorhaben, ein Panorama der Gegenwart mittels Biografien zu entwerfen, fortschreibt.
Kracauer schafft es mit seiner Frau Lili 1941 von Lissabon aus gerade noch rechtzeitig in die USA, und wird auch dort, nunmehr als auf Englisch Schreibender, keinen festen Platz mehr finden. Aber Kracauer kann erneut Unterstützer gewinnen und darüber gelingt ihm nach und nach eine Rückkehr in intellektuelle und finanzkräftige Milieus. Dank dieser Entwicklung kann er die Geschichte des expressionistischen Kinos durchforsten, um, mit einem schönen Wort von Gilles Deleuze gesagt, „den Aufstieg des hitlerschen Automaten in der deutschen Seele“ zu reflektieren. Mehr zitiert als gelesen, ist die Studie „Von Caligari zu Hitler“ ein Klassiker geworden. Kracauers zweites Kino-Buch versteifte sich jedoch zu einem weit hinter den eigenen Stand zurückfallendes Handbuch, wie Heidi Pataki schon vor vielen Jahren anmerkte. Man beginnt dann, dank des Suhrkamp-Verlages und des wunderlichen und nur selten realistischen Freundes Theodor W. Adorno, auch in Deutschland seine Texte zu lesen. Kracauer findet kurzzeitig den Weg in die Gruppe „Poetik und Hermeneutik“, ohne dort wirklich anzukommen.
Trotz des gestiegenen Interesses an seinem Werk und seiner Person konnte man lange Zeit außer Paul Oskar Kristellers feiner Skizze nur wenig Substanzielles über Siegfried Kracauer lesen. Dann kam eine erste Werkausgabe schleppend auf den Markt, bis 1988 ein ihm gewidmetes Marbacher Magazin von Ingrid Belke und Irina Renz das Tor aufstieß, durch das die Forschung treten konnte. Hier seien nur Inka Mülder-Bach, die mit Belke auch die maßgebliche Edition verantwortete, und die früh verstorbene Miriam Hansen genannt. Kracauer wurde wohl als vorerst Letzter in die Suhrkamp-Kultur aufgenommen. Doch zu einer umfassenden Biografie konnte sich trotz dieser guten Voraussetzungen niemand aufraffen, was auch angesichts der Quellenlage verwundert. In Marbach ist ein umfangreicher Nachlass der Forschung zugänglich.
Das hat sich geändert. Der Freiburger Historiker Jörg Später legt mit 741 Seiten nicht nur eine umfassende, sondern auch inhaltlich schwergewichtige Biografie vor. Einige gute Nachrichten vorneweg: Jörg Später kann schreiben – kein Jargon, kein technisches Distanzvokabular, stattdessen aktive Teilnahme am Lebens- und Denkprozess des Helden. Zudem überrascht der Biograf mit gegen Klischees gebürsteten Urteilen, die von guten Gründen ausgehen. Gelegentlich riskiert Später sogar, „ich“ zu sagen, unterläuft so die bloße Registrierung von Fakten und Deutungsangeboten und zeigt somit sich als das, was ein Biograf grundsätzlich sein sollte: ein mutiger Historist. Jörg Später kann aber auch darstellen, verweigert sich naheliegenden Gewichtungen, verliert sich auch mal in Details, ohne die großen Linien aus den Augen zu verlieren.
Was also bekommen wir geboten? Die komplizierte Familiengeschichte wird ebenso eloquent nachgezeichnet wie die jüdischen Identitätsdebatten der frühen Zwanzigerjahre im Kreis um den Frankfurter Rabbiner Nehemia A. Nobel. Der Aufstieg Kracauers in der Frankfurter Zeitung wird geschickt in die Zeitläufte eingebunden, nicht minder der Absturz des jüdischen Intellektuellen, die Überlebensbemühungen innerhalb und außerhalb der Emigrantenszene in Frankreich, schließlich Kracauers Etablierungsversuche in den USA.
Die Werkdeutungen geben dezent zu verstehen, wer die Spuren gelegt hat, denen Später häufig souverän, aber ohne jede „Ich-habe-alles-verstanden“-Attitüde folgt. Spezialisten werden Haare in der Suppe finden, das lässt sich im Falle Siegfried Kracauers auch gar nicht vermeiden.
Der äußerst produktive Feuilletonist hat sich lebenslang an vielerlei entzündet, erstaunlich vieles von dem, was seinerzeit en vogue war, ist auch heute dank Kracauer unbedingt erinnernswert. Natürlich nicht nur die Texte zu den Angestellten, die Impressionen des Flaneurs und die großen Analysen der antidemokratischen Kräfte Anfang der Dreißigerjahre.
Kracauer brachte brillant Gegenstände wie Henkel und Krug mit Schmutz und Dreck zusammen, war sich nicht für das Kleine des Alltags zu schade, dem er Geheimnisse andichtete, doch nur um sie dann zu lüften. Und man lernt erneut: nicht nur Walter Benjamin schaute genau hin, im Gegenteil: Kracauer ist immer da einfach besser, wenn er näher bei den Sachen steht.
Bei all dem ist die Chronologie für Später nur ein Rahmen, aber keine Vorgabe, sodass man verschiedene Ansichten auf Kracauers Entwicklungen bekommt, die Kontroversen und Verstrickungen aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Das ist umso wichtiger, da wir es mit einem Helden zu tun haben, der seit der Zeit als Redakteur der Frankfurter Zeitung einen Einspruchs- und Widerspruchsgeist verkörperte, der kaum irgendeiner der vielen Linien gehorchte, die im Gedankenlaboratorium Weimar oder später in Paris und New York ausgeheckt wurden.
Solch mühsam erworbene und lebenslang verteidigte Unabhängigkeit hat die stets um sich und ihre intellektuellen Positionen besorgten Freunde Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Ernst Bloch und – als besonnener Pol dazwischen ruhend – Leo Löwenthal immer mal wieder an Kracauer verzweifeln lassen. Und umgekehrt verstand Letzterer häufig die Friktionen nicht, die sich um ihn herum bildeten. Man muss Später in den einzelnen Wertungen dieser Meinungsgemeinschaften gewiss nicht zustimmen, aber die gebotenen Lesarten verweisen immer wieder auf das immense Potenzial von Kracauers Werk selbst zurück. Wenn das Wort überhaupt im Zusammenhang mit der Bewertung einer Biografie sinnvoll ist, so kann in diesem Fall von einer fast übermenschlichen Gerechtigkeitssehnsucht des Autors gesprochen werden. Später findet häufig jene wertende Balance, die die Protagonisten angesichts ihrer Lage naturgemäß kaum finden konnten.
All das erreicht er ohne das obligatorisch gewordene Theoriegemetzel, denn er hat sich auch hierin von Kracauer von all den leeren Formeln freisprechen lassen, die Biografien zunehmend um den Hals gehängt werden. Das einmalige, gelebte Leben hat seine Systematik durch die Eigenlogik von Geburt und Tod schon mitbekommen, die Zeitläufte sorgen dafür, dass ihr Einfluss jeden Geruch von Ewigkeit ebenso durchbricht wie das Pathos des reinen Denkens. Biografien sollten insofern, da hatte schon Kracauer recht, antibürgerlich sein. Der Historiker trägt dafür Sorge, dass diese Einsicht in Erinnerung bleibt. Jörg Späters „soziale Biographie“ von Siegfried Kracauer ist alles in allem ein Glücksfall.
Jörg Später: Siegfried Kracauer. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 741 Seiten, 39,95 Euro. E-Book: 34,99 Euro.
Zum Schreck der Freunde wollte
er ein Panorama der Gegenwart
in Biografien entwerfen
Dieser Autor zeigt eine
beinahe übermenschliche
Gerechtigkeitssehnsucht
Im Pariser Exil wohnte Siegfried Kracauer mit seiner Frau Lili 1938 in einem möblierten Zimmer in der Avenue Mac-Mahon 3. Den Blick von dort auf das neu eröffnete Kino gegenüber zeigt diese Aufnahme von Lili Kracauer.
Foto: DLA Marbach
Siegfried Kracauer.
Foto: DLA Marbach
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Siegfried Kracauer war Architekt, Philosoph, Soziologe, Kritiker. Der Historiker Jörg Später hat die erste umfassende
Biografie des außergewöhnlichen Intellektuellen geschrieben – sie ist ein Glücksfall
VON THOMAS MEYER
Siegfried Kracauer ist schwer zu fassen. Das ist keine neue Feststellung, vielmehr trieb sie bereits den berühmten Renaissanceforscher Paul Oskar Kristeller um, als er 1969 im Vorwort zu Kracauers letztem, unvollendet gebliebenen Buch, das in der deutschen Übersetzung den Titel „Geschichte – Vor den letzten Dingen“ trägt, den Freund als „Philosophen, Soziologen, Historiker und vor allem Kritiker und Schriftsteller“ vorstellte. Damit war immerhin angedeutet, wie weit die Interessen und Kompetenzen des 1889 in Frankfurt am Main geborenen und 1966 in New York gestorbenen Kracauers gespannt waren. Doch nicht nur das. Kristellers kurzer, ungemein dichter Text kontrastiert auf kluge Weise akademische Berufsbezeichnungen mit typischen Beschäftigungen freischwebender Intellektueller.
Damit war auf einen Umstand verwiesen, der Kracauers Biografie, also auch seine Selbstanalysen und sein umfangreiches Werk zunächst einmal aufschließt: Kracauer saß lebenslang zwischen vielen Stühlen. Dabei hatte für den promovierten Architekten alles gut begonnen. Als Redakteur bei der Frankfurter Zeitung war er ein etablierter Außenseiter; als Schüler Georg Simmels formulierte er über Jahre eine komplexe Phänomenologie des Alltags, seiner Durchdringung mit Ideologemen und versteckten Freiheiten und wurde so eine wichtige Stimme in der Weimarer Republik.
Dann der Bruch. Seit 1933 im französischen Exil, fühlt er mittels einer Analyse Jacques Offenbachs nicht etwa dem 19. Jahrhundert, sondern der Gegenwart den Puls – ganz zum Entsetzen seiner Freunde, von denen er finanziell weitgehend abhängig ist. Sie können und wollen nicht begreifen, dass Kracauer sein im Roman „Ginster“ begonnenes Vorhaben, ein Panorama der Gegenwart mittels Biografien zu entwerfen, fortschreibt.
Kracauer schafft es mit seiner Frau Lili 1941 von Lissabon aus gerade noch rechtzeitig in die USA, und wird auch dort, nunmehr als auf Englisch Schreibender, keinen festen Platz mehr finden. Aber Kracauer kann erneut Unterstützer gewinnen und darüber gelingt ihm nach und nach eine Rückkehr in intellektuelle und finanzkräftige Milieus. Dank dieser Entwicklung kann er die Geschichte des expressionistischen Kinos durchforsten, um, mit einem schönen Wort von Gilles Deleuze gesagt, „den Aufstieg des hitlerschen Automaten in der deutschen Seele“ zu reflektieren. Mehr zitiert als gelesen, ist die Studie „Von Caligari zu Hitler“ ein Klassiker geworden. Kracauers zweites Kino-Buch versteifte sich jedoch zu einem weit hinter den eigenen Stand zurückfallendes Handbuch, wie Heidi Pataki schon vor vielen Jahren anmerkte. Man beginnt dann, dank des Suhrkamp-Verlages und des wunderlichen und nur selten realistischen Freundes Theodor W. Adorno, auch in Deutschland seine Texte zu lesen. Kracauer findet kurzzeitig den Weg in die Gruppe „Poetik und Hermeneutik“, ohne dort wirklich anzukommen.
Trotz des gestiegenen Interesses an seinem Werk und seiner Person konnte man lange Zeit außer Paul Oskar Kristellers feiner Skizze nur wenig Substanzielles über Siegfried Kracauer lesen. Dann kam eine erste Werkausgabe schleppend auf den Markt, bis 1988 ein ihm gewidmetes Marbacher Magazin von Ingrid Belke und Irina Renz das Tor aufstieß, durch das die Forschung treten konnte. Hier seien nur Inka Mülder-Bach, die mit Belke auch die maßgebliche Edition verantwortete, und die früh verstorbene Miriam Hansen genannt. Kracauer wurde wohl als vorerst Letzter in die Suhrkamp-Kultur aufgenommen. Doch zu einer umfassenden Biografie konnte sich trotz dieser guten Voraussetzungen niemand aufraffen, was auch angesichts der Quellenlage verwundert. In Marbach ist ein umfangreicher Nachlass der Forschung zugänglich.
Das hat sich geändert. Der Freiburger Historiker Jörg Später legt mit 741 Seiten nicht nur eine umfassende, sondern auch inhaltlich schwergewichtige Biografie vor. Einige gute Nachrichten vorneweg: Jörg Später kann schreiben – kein Jargon, kein technisches Distanzvokabular, stattdessen aktive Teilnahme am Lebens- und Denkprozess des Helden. Zudem überrascht der Biograf mit gegen Klischees gebürsteten Urteilen, die von guten Gründen ausgehen. Gelegentlich riskiert Später sogar, „ich“ zu sagen, unterläuft so die bloße Registrierung von Fakten und Deutungsangeboten und zeigt somit sich als das, was ein Biograf grundsätzlich sein sollte: ein mutiger Historist. Jörg Später kann aber auch darstellen, verweigert sich naheliegenden Gewichtungen, verliert sich auch mal in Details, ohne die großen Linien aus den Augen zu verlieren.
Was also bekommen wir geboten? Die komplizierte Familiengeschichte wird ebenso eloquent nachgezeichnet wie die jüdischen Identitätsdebatten der frühen Zwanzigerjahre im Kreis um den Frankfurter Rabbiner Nehemia A. Nobel. Der Aufstieg Kracauers in der Frankfurter Zeitung wird geschickt in die Zeitläufte eingebunden, nicht minder der Absturz des jüdischen Intellektuellen, die Überlebensbemühungen innerhalb und außerhalb der Emigrantenszene in Frankreich, schließlich Kracauers Etablierungsversuche in den USA.
Die Werkdeutungen geben dezent zu verstehen, wer die Spuren gelegt hat, denen Später häufig souverän, aber ohne jede „Ich-habe-alles-verstanden“-Attitüde folgt. Spezialisten werden Haare in der Suppe finden, das lässt sich im Falle Siegfried Kracauers auch gar nicht vermeiden.
Der äußerst produktive Feuilletonist hat sich lebenslang an vielerlei entzündet, erstaunlich vieles von dem, was seinerzeit en vogue war, ist auch heute dank Kracauer unbedingt erinnernswert. Natürlich nicht nur die Texte zu den Angestellten, die Impressionen des Flaneurs und die großen Analysen der antidemokratischen Kräfte Anfang der Dreißigerjahre.
Kracauer brachte brillant Gegenstände wie Henkel und Krug mit Schmutz und Dreck zusammen, war sich nicht für das Kleine des Alltags zu schade, dem er Geheimnisse andichtete, doch nur um sie dann zu lüften. Und man lernt erneut: nicht nur Walter Benjamin schaute genau hin, im Gegenteil: Kracauer ist immer da einfach besser, wenn er näher bei den Sachen steht.
Bei all dem ist die Chronologie für Später nur ein Rahmen, aber keine Vorgabe, sodass man verschiedene Ansichten auf Kracauers Entwicklungen bekommt, die Kontroversen und Verstrickungen aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Das ist umso wichtiger, da wir es mit einem Helden zu tun haben, der seit der Zeit als Redakteur der Frankfurter Zeitung einen Einspruchs- und Widerspruchsgeist verkörperte, der kaum irgendeiner der vielen Linien gehorchte, die im Gedankenlaboratorium Weimar oder später in Paris und New York ausgeheckt wurden.
Solch mühsam erworbene und lebenslang verteidigte Unabhängigkeit hat die stets um sich und ihre intellektuellen Positionen besorgten Freunde Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Ernst Bloch und – als besonnener Pol dazwischen ruhend – Leo Löwenthal immer mal wieder an Kracauer verzweifeln lassen. Und umgekehrt verstand Letzterer häufig die Friktionen nicht, die sich um ihn herum bildeten. Man muss Später in den einzelnen Wertungen dieser Meinungsgemeinschaften gewiss nicht zustimmen, aber die gebotenen Lesarten verweisen immer wieder auf das immense Potenzial von Kracauers Werk selbst zurück. Wenn das Wort überhaupt im Zusammenhang mit der Bewertung einer Biografie sinnvoll ist, so kann in diesem Fall von einer fast übermenschlichen Gerechtigkeitssehnsucht des Autors gesprochen werden. Später findet häufig jene wertende Balance, die die Protagonisten angesichts ihrer Lage naturgemäß kaum finden konnten.
All das erreicht er ohne das obligatorisch gewordene Theoriegemetzel, denn er hat sich auch hierin von Kracauer von all den leeren Formeln freisprechen lassen, die Biografien zunehmend um den Hals gehängt werden. Das einmalige, gelebte Leben hat seine Systematik durch die Eigenlogik von Geburt und Tod schon mitbekommen, die Zeitläufte sorgen dafür, dass ihr Einfluss jeden Geruch von Ewigkeit ebenso durchbricht wie das Pathos des reinen Denkens. Biografien sollten insofern, da hatte schon Kracauer recht, antibürgerlich sein. Der Historiker trägt dafür Sorge, dass diese Einsicht in Erinnerung bleibt. Jörg Späters „soziale Biographie“ von Siegfried Kracauer ist alles in allem ein Glücksfall.
Jörg Später: Siegfried Kracauer. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 741 Seiten, 39,95 Euro. E-Book: 34,99 Euro.
Zum Schreck der Freunde wollte
er ein Panorama der Gegenwart
in Biografien entwerfen
Dieser Autor zeigt eine
beinahe übermenschliche
Gerechtigkeitssehnsucht
Im Pariser Exil wohnte Siegfried Kracauer mit seiner Frau Lili 1938 in einem möblierten Zimmer in der Avenue Mac-Mahon 3. Den Blick von dort auf das neu eröffnete Kino gegenüber zeigt diese Aufnahme von Lili Kracauer.
Foto: DLA Marbach
Siegfried Kracauer.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2016Bitte, nennen Sie mich Krac!
Das Unscheinbare war ganz sein Fall: Jörg Später legt rechtzeitig zum morgigen fünfzigsten Todestag eine Biographie Siegfried Kracauers vor, die diesem großen Außenseiter rundum gerecht wird.
Allein schon der Name! "Der offizielle ,Siegfried' scheidet von vornherein aus", und so firmiert der Autor lange Zeit schlicht als S. Kracauer. Seinen ersten autobiographischen Roman "Ginster" veröffentlicht er gleich ganz anonym mit der Angabe "von ihm selbst geschrieben". Von seinem Geburtsdatum will er nichts wissen, und noch 1963 bittet er den Freund Theodor W. Adorno "inständig", es ja keinem zu verraten. Das kanonische Porträtfoto, das jetzt auch der Biographie von Jörg Später voransteht, ist der Abzug einer zersprungenen Glasplatte. Der Mann, den es zeigt, erscheint als ein einziges Scherbenmosaik.
Einverstanden mit der Welt war Kracauer aus guten Gründen nie, mit sich selbst aber auch nur selten. Er, der bei Gelegenheit von sich sagte, er gleiche "weniger einem Steuermann als einem blinden Passagier", geistert als alles Mögliche durch die intellektuelle Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: als Literatur- und Filmkritiker, als Soziologe und fast verhinderter Romancier, als Freund und Gesprächspartner der ungleich berühmteren Adorno, Benjamin und Bloch, kurz gesagt, als Randfigur der Kritischen Theorie und anderer Spielarten des unorthodoxen Marxismus. Nebenrollen hat Kracauer geschätzt, die seine empfand er irgendwann dann doch als die Verweigerung jener Beachtung, die ihm eigentlich zustand.
Sehr lange hat niemand sich an eine Gesamtdarstellung dieser Figur gewagt. Wie sehr sie gefehlt hat, das beweist jetzt Jörg Später mit seiner beeindruckenden Biographie: Frei erzählend und detailgenau, mit unabhängigem Urteil und umfassender Kenntnis des historischen Hintergrunds, mit der notwendigen Sympathie und der ebenso notwendigen Unabhängigkeit gegenüber dem Hauptdarsteller gelingt es Später wohl als Erstem, Kracauer gerecht zu werden. Später schreibt ohne theoretisches Stützkorsett, aber ganz und gar nicht naiv, gelehrt, aber erfreulich fern der akademisch kanonisierten Formen. Seinen biographischen Zugang kann man auch einfach historisch nennen: Er entwickelt die Entstehung eines bedeutenden, aber schwer zu übersehenden schriftstellerischen Werks aus der Geschichte seiner äußeren und inneren Bedingungen.
Die kritischen Freunde Adorno, Benjamin und Bloch
Kracauer wird am 8. Februar 1889 in Frankfurt geboren. Das Kind empfindet sich als einsam und hässlich, es stottert, wird früh zum Außenseiter. Das Studium von Architektur, Soziologie und Philosophie führt für kurze Zeit zum Brotberuf des Architekten, dann in den Journalismus. Die "transzendentale Obdachlosigkeit" steht gerade hoch im Kurs, und seine vage lebensphilosophisch angehauchte Empfindung eines epochalen geistigen, religiösen, ethischen Mangels bringt Kracauer zunächst in den Kreis der jüdischen Renaissance in Frankfurt, zu Franz Rosenzweig und Martin Buber, wo er auch seinen lebenslangen Freund Leo Löwenthal kennenlernt, dann, nach krassem Bruch, in die Laboratorien marxistischer Gesellschaftstheorie und Soziologie. Hier, im Umkreis des berühmten Instituts für Sozialforschung, beginnt die so spannungs- wie liebevolle Freundschaft mit Adorno. Kracauer wird Feuilletonredakteur der "Frankfurter Zeitung", ab 1930 im Hauptstadtbüro Berlin, stürzt sich mitten ins Getümmel der politischen, philosophischen und literarischen Debatten, wird zu einem der ersten seriösen Kritiker der neuen Kunst des Films. Doch der noch neuere Staat wirft Kracauer 1933 vor die Tür. Mit seiner Frau Elisabeth, die er 1925 kennengelernt hatte, flüchtet er nach dem Reichstagsbrand nach Paris. Aber seine Lieblingsstadt bietet ihm keine Existenzgrundlage.
Die acht Jahre in Paris und die anschließende Zeit in New York sind die bedrängteste Epoche in Kracauers Leben. Nicht berühmt genug für eine neue Karriere als Schriftsteller, zu weit entfernt von den wissenschaftlichen Interessen des emigrierten Instituts, sich immer stärker isolierend, gerät er auch unter den Freunden ins Abseits. Anders als Adorno will er nach Kriegsende nicht zurückkehren, auch nicht zur "Frankfurter Zeitung", "nicht in einer Atmosphäre atmen (und moralisch zugrunde gehen), in der das Ehrenwort Sieburgs etwas gilt".
Ein Neuanfang mit den belasteten Kollegen von einst ist ihm unmöglich, und im Rückblick war diese riskante Entscheidung die einzig richtige. Denn nun geschieht das Unerwartete: Für Kracauer, der zu Adornos Verdruss konsequent auf Englisch schrieb, beginnt in New York ein "dritter Frühling". Er schreibt seine Filmgeschichte "Von Caligari zu Hitler", dann die "Theorie des Films", wird immer häufiger eingeladen, knüpft neue Kontakte zu Kunst- und Bildtheoretikern wie Rudolf Arnheim und Meyer Schapiro. Und in den Sechzigern dann, immer gefördert von Freund Teddie in Frankfurt, beginnen auch die deutschen Studenten sich für ihn zu interessieren. Die Kracauers reisen wieder nach Europa, zu neuen und alten Freunden, und als Kracauer am 26. November 1966 in New York plötzlich an einer Lungenentzündung stirbt, da reißt ihn der Tod aus der wohl glücklichsten und erfolgreichsten Periode seines Lebens.
Zum Genre der Biographie pflegte Kracauer ein so ambivalentes Verhältnis wie zu den meisten Dingen. Er, der 1930 kräftig gegen "Die Biographie als neubürgerliche Kunstform" polemisiert, veröffentlicht 1937 selber eine: "Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit" wird zwar ausdrücklich als "Gesellschaftsbiographie" bezeichnet, wirklich plausibel ist diese Unterscheidung jedoch kaum: Was hätte ernsthaft eine Biographie sein sollen, die von den Außenbedingungen einer Gesellschaft absieht, erst recht beim emblematischen Operettenkomponisten jenes Second Empire, das Benjamin gleich nebenan in seinem unendlichen Passagenwerk erforschte?
Jörg Später geht Kracauer auch hier nicht auf den Leim: Dessen Idiosynkrasien können nicht die des Biographen sein. In der Darstellung der Lebensstationen und Denkbewegungen ist auch sein Buch eine historische Gesellschaftsbiographie. Wie könnte sie auch anderes sein für eine Zeit, da Leben und Schreiben bestimmt wurden von zwei Weltkriegen, brutalen Weltwirtschaftskrisen, vom Zusammenbruch der Demokratie und Exil in einer anderen Sprache, von scharfen Konflikten zwischen Ideologien, die sich zu aggressiven Weltmächten hochgerüstet hatten. Dem Historiker Später gelingt dabei eine überzeugende Verknüpfung von Lebens-, Ideen- und politischer Geschichte.
In den späteren amerikanischen Jahren, nachdem der härteste Existenzdruck von ihm abgefallen war, da staunte Kracauer zuweilen über diesen holperigen, aber nun offenbar doch auf ein gutes Ende zusteuernden Lebensweg. Eines Tages machte er die glückliche Entdeckung, dass jeder Umweg seinen verborgenen Sinn gehabt hatte. "Alles", resümiert Später, "wurde durch eine innere Notwendigkeit organisiert: der Suche nach Bereichen, die übersehen, falsch beurteilt, wissenschaftlich nicht ernst genommen wurden. Das war seine eigentliche Mission, der er bislang implizit gefolgt war und die er nun explizit machen musste."
Der skeptische Biograph aber kommt gegenüber der frohen Botschaft zu dem ironischen Schluss: "Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion - auch und vor allem in autobiographischer Hinsicht." Natürlich war Kracauer schon früh der "Philosoph des Provisorischen" gewesen, doch jetzt, "berauscht von so viel sinnhafter Kontinuität in der eigenen Biographie", wie Später es liebevoll nennt, neigte Kracauer dazu, die Brüche zu übersehen, die den Feuilletonisten der Weimarer Republik, den scharfen Beobachter der bürgerlichen Welt und ihrer Bewohner, trennten von dem Altgewordenen, der langsam an seinem letzten Buch über die vorletzten Dinge arbeitete: "History - the last things before the last".
Eines der Glanzstücke des Buches ist die so lebendige wie genaue Darstellung jenes "philosophischen Quartetts", das Adorno, Benjamin, Bloch und Kracauer persönlich wie sachlich über Jahrzehnte bildeten. Hier findet auch der letzte Zweifler die schlagende Begründung für Späters biographischen Ansatz. Kennengelernt hatten sich die vier in den zwanziger Jahren, verbunden blieben sie sich, in Bewunderung, Kritik, Streit, Befruchtung, Eifersucht und Konkurrenz, bis zum Tod. Was Später erzählt, ist eine ménage à quatre mit allem Drum und Dran der schönsten Beziehungstragödien: "Bloch war hypervital und konnte mit seinem ,militanten Optimismus' nerven; Benjamin war grundständig melancholisch, wenn nicht sogar depressiv, phasenweise von Selbstmordgedanken gequält; Wiesengrunds frühreife Genialität folgte in manchem dem Drama des begabten Kindes; und nicht zuletzt der kauzige Kracauer, der seinen hypochondrischen Leidenskomplex mit seinem Stottern wie ein Kainsmal mit sich trug."
Die immerwährende Schlacht um Utopie, Dialektik und Ideologie
Was hier als witzige Charakterisierung von Charakterköpfen erscheint, zeichnet sich zugleich in theoretischen und politischen Differenzen ab. Die Kritik an Bloch richtet sich ganz besonders gegen seine Mesalliance mit dem Parteikommunismus, die den großen Pathetiker einer messianischen Utopie sogar die Moskauer Prozesse rechtfertigen lässt. Die neue Freundschaft des "alexandrinischen" Benjamin ("Macht aus Mücken Elefanten", befindet Bloch, "die er dann durch ein Nadelöhr seiht") mit dem krachledernen Bayern Bertolt Brecht verfolgen Adorno und Kracauer mit von Eifersucht geschärfter Bösartigkeit. Doch an dieser Stelle, ein kleiner Einwand, hätte Später auch den Namen Stalin nennen sollen, denn die beiden konzessionslosen Antistalinisten betrachten nicht nur Bloch extrem kritisch, sie fürchten zeitweise zu Recht, dass auch Benjamin unter dem Einfluss des "Vulgärmarxisten" Brecht den Versuchungen des Stalinismus erliegen könnte.
All die Gespräche und Briefe, mit- und auch gern übereinander, der Spott, die Komplimente und Vorwürfe, Zerwürfnisse und Versöhnungen zeichnen ein hinreißendes Bild von den Golden Twenties intellektueller Auseinandersetzung. Man man muss sich da manchmal bewusst vor Augen halten, dass man es, was diese Epoche betrifft, letztlich mit einer gescheiterten Generation zu tun hat. Aber noch stecken sie mittendrin: in Kracauers Kritik an Blochs "Amoklauf zu Gott" wie an Rosenzweigs und Bubers "wagnerisierender" Bibelübersetzung, in Blochs Polemik gegen Kracauers Konformismus und Adornos Oberlehrerattitüde, in Marxismus, Geschichtsphilosophie, Literatur. Alle lesen und besprechen die gleichen Bücher, von Georg Lukács bis Julien Green, sitzen in den gleichen Cafés, beäugen kritisch die neuen Freundinnen, reisen an die gleichen Küsten - wo sie sofort von neuem tobt, die "philosophische Schlacht".
Adorno, Bloch und Benjamin wurden als Grundpfeiler der "Suhrkamp-Kultur" sicher die bedeutendsten Anreger der Nachkriegskultur. Die persönliche Diskussion aber dauert am längsten zwischen den ältesten Freunden, zwischen Adorno und Kracauer. Benjamin hatte sich 1940 das Leben genommen, Bloch war als DDR-Ordinarius Persona non grata. Kracauer und Adorno setzen ihren Dialog fort, mit größten Differenzen, auch persönlichen Verletzungen. Im Sommer 1960 treffen sie sich in Graubünden, und die Schlacht um Utopie, Dialektik und Ideologie beginnt wie eh und je; Kracauer, den Adorno inzwischen auch an Suhrkamp vermittelt hat, resümiert sie in einer Aufzeichnung, und Adorno nimmt seine Argumente hinein in die entstehende "Negative Dialektik".
Kracauer fühlte sich dem Jugendfreund gegenüber zeitlebens unterlegen, und er wollte sich behaupten. Auf seine Weise gelang ihm das auch. Seinen berühmten Essay "Das Ornament der Masse" eröffnete er 1927 mit dem programmatischen Satz: "Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst." Dieses Programm haben alle Mitglieder des Quartetts unterschrieben; Kracauer aber hat es am konsequentesten verfolgt, detailbesessen, neugierig, vom Abseitigen fasziniert.
Der Mann, der keinesfalls Siegfried heißen will, bietet 1928, nach heftigem Streit und ebenso heftiger Versöhnung, Bloch die Abschaffung des "Herrn Kracauer" an: "Bitte, sagen Sie Krac zu mir." Und Adorno schreibt in seinem Beileidsbrief an Lili Kracauer: "Das Wort ,Krac' selber ist schon onomatopoetisch für Knackendes-Knurriges gut, und so wollte er auch verstanden werden." Die umfassende Werkausgabe von Siegfried Kracauer liegt seit Jahren vor; mit Jörg Späters großer Biographie ist nun endlich auch der ganze Kracauer zu seinem Recht gekommen.
WOLFGANG MATZ
Jörg Später: "Siegfried Kracauer".
Eine Biographie.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2016. 743 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Unscheinbare war ganz sein Fall: Jörg Später legt rechtzeitig zum morgigen fünfzigsten Todestag eine Biographie Siegfried Kracauers vor, die diesem großen Außenseiter rundum gerecht wird.
Allein schon der Name! "Der offizielle ,Siegfried' scheidet von vornherein aus", und so firmiert der Autor lange Zeit schlicht als S. Kracauer. Seinen ersten autobiographischen Roman "Ginster" veröffentlicht er gleich ganz anonym mit der Angabe "von ihm selbst geschrieben". Von seinem Geburtsdatum will er nichts wissen, und noch 1963 bittet er den Freund Theodor W. Adorno "inständig", es ja keinem zu verraten. Das kanonische Porträtfoto, das jetzt auch der Biographie von Jörg Später voransteht, ist der Abzug einer zersprungenen Glasplatte. Der Mann, den es zeigt, erscheint als ein einziges Scherbenmosaik.
Einverstanden mit der Welt war Kracauer aus guten Gründen nie, mit sich selbst aber auch nur selten. Er, der bei Gelegenheit von sich sagte, er gleiche "weniger einem Steuermann als einem blinden Passagier", geistert als alles Mögliche durch die intellektuelle Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: als Literatur- und Filmkritiker, als Soziologe und fast verhinderter Romancier, als Freund und Gesprächspartner der ungleich berühmteren Adorno, Benjamin und Bloch, kurz gesagt, als Randfigur der Kritischen Theorie und anderer Spielarten des unorthodoxen Marxismus. Nebenrollen hat Kracauer geschätzt, die seine empfand er irgendwann dann doch als die Verweigerung jener Beachtung, die ihm eigentlich zustand.
Sehr lange hat niemand sich an eine Gesamtdarstellung dieser Figur gewagt. Wie sehr sie gefehlt hat, das beweist jetzt Jörg Später mit seiner beeindruckenden Biographie: Frei erzählend und detailgenau, mit unabhängigem Urteil und umfassender Kenntnis des historischen Hintergrunds, mit der notwendigen Sympathie und der ebenso notwendigen Unabhängigkeit gegenüber dem Hauptdarsteller gelingt es Später wohl als Erstem, Kracauer gerecht zu werden. Später schreibt ohne theoretisches Stützkorsett, aber ganz und gar nicht naiv, gelehrt, aber erfreulich fern der akademisch kanonisierten Formen. Seinen biographischen Zugang kann man auch einfach historisch nennen: Er entwickelt die Entstehung eines bedeutenden, aber schwer zu übersehenden schriftstellerischen Werks aus der Geschichte seiner äußeren und inneren Bedingungen.
Die kritischen Freunde Adorno, Benjamin und Bloch
Kracauer wird am 8. Februar 1889 in Frankfurt geboren. Das Kind empfindet sich als einsam und hässlich, es stottert, wird früh zum Außenseiter. Das Studium von Architektur, Soziologie und Philosophie führt für kurze Zeit zum Brotberuf des Architekten, dann in den Journalismus. Die "transzendentale Obdachlosigkeit" steht gerade hoch im Kurs, und seine vage lebensphilosophisch angehauchte Empfindung eines epochalen geistigen, religiösen, ethischen Mangels bringt Kracauer zunächst in den Kreis der jüdischen Renaissance in Frankfurt, zu Franz Rosenzweig und Martin Buber, wo er auch seinen lebenslangen Freund Leo Löwenthal kennenlernt, dann, nach krassem Bruch, in die Laboratorien marxistischer Gesellschaftstheorie und Soziologie. Hier, im Umkreis des berühmten Instituts für Sozialforschung, beginnt die so spannungs- wie liebevolle Freundschaft mit Adorno. Kracauer wird Feuilletonredakteur der "Frankfurter Zeitung", ab 1930 im Hauptstadtbüro Berlin, stürzt sich mitten ins Getümmel der politischen, philosophischen und literarischen Debatten, wird zu einem der ersten seriösen Kritiker der neuen Kunst des Films. Doch der noch neuere Staat wirft Kracauer 1933 vor die Tür. Mit seiner Frau Elisabeth, die er 1925 kennengelernt hatte, flüchtet er nach dem Reichstagsbrand nach Paris. Aber seine Lieblingsstadt bietet ihm keine Existenzgrundlage.
Die acht Jahre in Paris und die anschließende Zeit in New York sind die bedrängteste Epoche in Kracauers Leben. Nicht berühmt genug für eine neue Karriere als Schriftsteller, zu weit entfernt von den wissenschaftlichen Interessen des emigrierten Instituts, sich immer stärker isolierend, gerät er auch unter den Freunden ins Abseits. Anders als Adorno will er nach Kriegsende nicht zurückkehren, auch nicht zur "Frankfurter Zeitung", "nicht in einer Atmosphäre atmen (und moralisch zugrunde gehen), in der das Ehrenwort Sieburgs etwas gilt".
Ein Neuanfang mit den belasteten Kollegen von einst ist ihm unmöglich, und im Rückblick war diese riskante Entscheidung die einzig richtige. Denn nun geschieht das Unerwartete: Für Kracauer, der zu Adornos Verdruss konsequent auf Englisch schrieb, beginnt in New York ein "dritter Frühling". Er schreibt seine Filmgeschichte "Von Caligari zu Hitler", dann die "Theorie des Films", wird immer häufiger eingeladen, knüpft neue Kontakte zu Kunst- und Bildtheoretikern wie Rudolf Arnheim und Meyer Schapiro. Und in den Sechzigern dann, immer gefördert von Freund Teddie in Frankfurt, beginnen auch die deutschen Studenten sich für ihn zu interessieren. Die Kracauers reisen wieder nach Europa, zu neuen und alten Freunden, und als Kracauer am 26. November 1966 in New York plötzlich an einer Lungenentzündung stirbt, da reißt ihn der Tod aus der wohl glücklichsten und erfolgreichsten Periode seines Lebens.
Zum Genre der Biographie pflegte Kracauer ein so ambivalentes Verhältnis wie zu den meisten Dingen. Er, der 1930 kräftig gegen "Die Biographie als neubürgerliche Kunstform" polemisiert, veröffentlicht 1937 selber eine: "Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit" wird zwar ausdrücklich als "Gesellschaftsbiographie" bezeichnet, wirklich plausibel ist diese Unterscheidung jedoch kaum: Was hätte ernsthaft eine Biographie sein sollen, die von den Außenbedingungen einer Gesellschaft absieht, erst recht beim emblematischen Operettenkomponisten jenes Second Empire, das Benjamin gleich nebenan in seinem unendlichen Passagenwerk erforschte?
Jörg Später geht Kracauer auch hier nicht auf den Leim: Dessen Idiosynkrasien können nicht die des Biographen sein. In der Darstellung der Lebensstationen und Denkbewegungen ist auch sein Buch eine historische Gesellschaftsbiographie. Wie könnte sie auch anderes sein für eine Zeit, da Leben und Schreiben bestimmt wurden von zwei Weltkriegen, brutalen Weltwirtschaftskrisen, vom Zusammenbruch der Demokratie und Exil in einer anderen Sprache, von scharfen Konflikten zwischen Ideologien, die sich zu aggressiven Weltmächten hochgerüstet hatten. Dem Historiker Später gelingt dabei eine überzeugende Verknüpfung von Lebens-, Ideen- und politischer Geschichte.
In den späteren amerikanischen Jahren, nachdem der härteste Existenzdruck von ihm abgefallen war, da staunte Kracauer zuweilen über diesen holperigen, aber nun offenbar doch auf ein gutes Ende zusteuernden Lebensweg. Eines Tages machte er die glückliche Entdeckung, dass jeder Umweg seinen verborgenen Sinn gehabt hatte. "Alles", resümiert Später, "wurde durch eine innere Notwendigkeit organisiert: der Suche nach Bereichen, die übersehen, falsch beurteilt, wissenschaftlich nicht ernst genommen wurden. Das war seine eigentliche Mission, der er bislang implizit gefolgt war und die er nun explizit machen musste."
Der skeptische Biograph aber kommt gegenüber der frohen Botschaft zu dem ironischen Schluss: "Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion - auch und vor allem in autobiographischer Hinsicht." Natürlich war Kracauer schon früh der "Philosoph des Provisorischen" gewesen, doch jetzt, "berauscht von so viel sinnhafter Kontinuität in der eigenen Biographie", wie Später es liebevoll nennt, neigte Kracauer dazu, die Brüche zu übersehen, die den Feuilletonisten der Weimarer Republik, den scharfen Beobachter der bürgerlichen Welt und ihrer Bewohner, trennten von dem Altgewordenen, der langsam an seinem letzten Buch über die vorletzten Dinge arbeitete: "History - the last things before the last".
Eines der Glanzstücke des Buches ist die so lebendige wie genaue Darstellung jenes "philosophischen Quartetts", das Adorno, Benjamin, Bloch und Kracauer persönlich wie sachlich über Jahrzehnte bildeten. Hier findet auch der letzte Zweifler die schlagende Begründung für Späters biographischen Ansatz. Kennengelernt hatten sich die vier in den zwanziger Jahren, verbunden blieben sie sich, in Bewunderung, Kritik, Streit, Befruchtung, Eifersucht und Konkurrenz, bis zum Tod. Was Später erzählt, ist eine ménage à quatre mit allem Drum und Dran der schönsten Beziehungstragödien: "Bloch war hypervital und konnte mit seinem ,militanten Optimismus' nerven; Benjamin war grundständig melancholisch, wenn nicht sogar depressiv, phasenweise von Selbstmordgedanken gequält; Wiesengrunds frühreife Genialität folgte in manchem dem Drama des begabten Kindes; und nicht zuletzt der kauzige Kracauer, der seinen hypochondrischen Leidenskomplex mit seinem Stottern wie ein Kainsmal mit sich trug."
Die immerwährende Schlacht um Utopie, Dialektik und Ideologie
Was hier als witzige Charakterisierung von Charakterköpfen erscheint, zeichnet sich zugleich in theoretischen und politischen Differenzen ab. Die Kritik an Bloch richtet sich ganz besonders gegen seine Mesalliance mit dem Parteikommunismus, die den großen Pathetiker einer messianischen Utopie sogar die Moskauer Prozesse rechtfertigen lässt. Die neue Freundschaft des "alexandrinischen" Benjamin ("Macht aus Mücken Elefanten", befindet Bloch, "die er dann durch ein Nadelöhr seiht") mit dem krachledernen Bayern Bertolt Brecht verfolgen Adorno und Kracauer mit von Eifersucht geschärfter Bösartigkeit. Doch an dieser Stelle, ein kleiner Einwand, hätte Später auch den Namen Stalin nennen sollen, denn die beiden konzessionslosen Antistalinisten betrachten nicht nur Bloch extrem kritisch, sie fürchten zeitweise zu Recht, dass auch Benjamin unter dem Einfluss des "Vulgärmarxisten" Brecht den Versuchungen des Stalinismus erliegen könnte.
All die Gespräche und Briefe, mit- und auch gern übereinander, der Spott, die Komplimente und Vorwürfe, Zerwürfnisse und Versöhnungen zeichnen ein hinreißendes Bild von den Golden Twenties intellektueller Auseinandersetzung. Man man muss sich da manchmal bewusst vor Augen halten, dass man es, was diese Epoche betrifft, letztlich mit einer gescheiterten Generation zu tun hat. Aber noch stecken sie mittendrin: in Kracauers Kritik an Blochs "Amoklauf zu Gott" wie an Rosenzweigs und Bubers "wagnerisierender" Bibelübersetzung, in Blochs Polemik gegen Kracauers Konformismus und Adornos Oberlehrerattitüde, in Marxismus, Geschichtsphilosophie, Literatur. Alle lesen und besprechen die gleichen Bücher, von Georg Lukács bis Julien Green, sitzen in den gleichen Cafés, beäugen kritisch die neuen Freundinnen, reisen an die gleichen Küsten - wo sie sofort von neuem tobt, die "philosophische Schlacht".
Adorno, Bloch und Benjamin wurden als Grundpfeiler der "Suhrkamp-Kultur" sicher die bedeutendsten Anreger der Nachkriegskultur. Die persönliche Diskussion aber dauert am längsten zwischen den ältesten Freunden, zwischen Adorno und Kracauer. Benjamin hatte sich 1940 das Leben genommen, Bloch war als DDR-Ordinarius Persona non grata. Kracauer und Adorno setzen ihren Dialog fort, mit größten Differenzen, auch persönlichen Verletzungen. Im Sommer 1960 treffen sie sich in Graubünden, und die Schlacht um Utopie, Dialektik und Ideologie beginnt wie eh und je; Kracauer, den Adorno inzwischen auch an Suhrkamp vermittelt hat, resümiert sie in einer Aufzeichnung, und Adorno nimmt seine Argumente hinein in die entstehende "Negative Dialektik".
Kracauer fühlte sich dem Jugendfreund gegenüber zeitlebens unterlegen, und er wollte sich behaupten. Auf seine Weise gelang ihm das auch. Seinen berühmten Essay "Das Ornament der Masse" eröffnete er 1927 mit dem programmatischen Satz: "Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst." Dieses Programm haben alle Mitglieder des Quartetts unterschrieben; Kracauer aber hat es am konsequentesten verfolgt, detailbesessen, neugierig, vom Abseitigen fasziniert.
Der Mann, der keinesfalls Siegfried heißen will, bietet 1928, nach heftigem Streit und ebenso heftiger Versöhnung, Bloch die Abschaffung des "Herrn Kracauer" an: "Bitte, sagen Sie Krac zu mir." Und Adorno schreibt in seinem Beileidsbrief an Lili Kracauer: "Das Wort ,Krac' selber ist schon onomatopoetisch für Knackendes-Knurriges gut, und so wollte er auch verstanden werden." Die umfassende Werkausgabe von Siegfried Kracauer liegt seit Jahren vor; mit Jörg Späters großer Biographie ist nun endlich auch der ganze Kracauer zu seinem Recht gekommen.
WOLFGANG MATZ
Jörg Später: "Siegfried Kracauer".
Eine Biographie.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2016. 743 S., geb., 39,95 [Euro].
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»Es ist eine sorfältig recherchierte, fein geschriebene Lebensgeschichte, aus der man viel über die jüdische Kultur der Weimarer Zeit und deren Nachspiel in der amerikanischen Emigration lernt.« Willibald Sauerländer Süddeutsche Zeitung 20161227