Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Harry Mulisch ist besessen von Hitler, behauptet Norbert Wehr und erklärt sich diese Obsession durch die Biografie des Autors. Wehr schildert die lange Vorgeschichte, die zu diesem Roman geführt hat: Mulisch, Kind einer jüdischen Mutter und eines österreichischen Offiziers, Mulisch als Beobachter beim Eichmann-Prozess, Mulisch zu Besuch bei Albert Speer. Der Autor kam zu ungewöhnlichen Erkenntnissen, frei von moralischen Tabus, schreibt der Rezensent; allerdings gelang es Mulisch damals nicht, aus dem Stoff einen Roman zu machen. Weshalb sich im nun vorliegenden Buch viele Anspielungen auf diesen ungeschriebenen Roman finden. Auch in "Siegfried" geht es um eine Hitler-Obsession, erklärt Wehr. Der Protagonist geht der Frage nach, was passiert wäre, wenn Eva Braun und Adolf Hitler einen Sohn gehabt hätten. Für Wehr entpuppt sich der Roman auf raffinierte Weise als "schwarzes Loch", das alle Fragen aufsaugt, auch die, wer denn nun Hitler eigentlich gewesen ist. Darauf gebe Mulisch höchst kunstvoll keine Antwort, meint der Rezensent. Ein Kompliment.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Der Sohn und das Nichts
Harry Mulisch findet Hitler unerklärlich / Von Kurt Flasch
Leise plätschernd, fast schon gefällig fängt es an. Ein weltberühmter niederländischer Schriftsteller, Rudolf Herter, Jahrgang 1927, zufällig so alt wie Harry Mulisch, fliegt zusammen mit seiner dreißig Jahre jüngeren Freundin nach Wien zu einer Lesereise. Er hat ein tausendseitiges Buch geschrieben, einen Bildungsschmöker, um den das Publikum sich reißt. Es geht darin um Liebe, frei nach Tristan und Isolde. Journalistenschwärme fordern Interview auf Interview: fünf Minuten für die tausend Seiten. Nein, das geht nicht. Aber so wird es gemacht. Und es geht dann auch, irgendwie. Dann: Empfang beim niederländischen Botschafter, festlicher Leseabend im barocken Prunksaal der Nationalbibliothek, direkt neben der Hofburg.
Das Buch beginnt als zartbittere Parodie auf den Kulturbetrieb; höchstens erwartet der Leser noch das Wiedersehen des inzwischen verwöhnten Erfolgsschriftstellers mit der alten Stadt Wien, die er vor mehr als fünfzig Jahren verlassen hat. Dort schrieb er mit siebzehn seine ersten literarischen Versuche, in einer ungeheizten Mansarde mit Eisblumen an den Fenstern. Jetzt residiert der Herr im Hotel Sacher, dessen Direktor ihn im Rolls-Royce zur Dichterlesung in Wiens repräsentativsten Saal chauffiert. So weit, so österreichisch. Man mag das die Schokoladenseite der schönen Literatur nennen, aber auch an diesem späten Rudolf Herter gleitet sie vorbei. Ihn interessiert auch sein Riesenroman über die Liebe nicht mehr, aus dem er doch vorlesen soll. An Wien denken heißt an Hitler denken.
Nicht weit vom Hotel Sacher liegt der Heldenplatz. Die Farbe der Sachertorte weckt Assoziationen: Braun, Brauner, Braun, Braunau, Braunes Haus . . . Eva Braun. Das paßt zusammen, als sei es von einem Romancier erfunden. Aber das Selbsterfundene kommt erst später. Noch sitzt Herr Herter im Hotel bei einem Fernsehinterview über seinen Liebesroman. Von der Aufgabe des Dichters ist die Rede, dabei fällt das Stichwort "Phantasie", und das gibt Herter-Mulisch den Anlaß zu sinnieren: Nennt es Traum oder Mythos, Phantasie oder Roman, all dies Gedichtete ist Erkenntnis. Wieso? Die Fiktion gibt die Möglichkeit, eine unbegriffene Person mit etwas zu konfrontieren, was in ihrem Alltag nicht vorkam, aber was sie begreiflicher macht. Ob ihm ein Beispiel für eine Person einfalle, die er gar nicht begreifen könne? Ja, seine Exfrau Olga . . . und Hitler. Aber nicht wie bei einem historischen Roman wäre dabei vorzugehen, nicht in der Manier von Stefan Zweig, der historische Fakten hernehme, um sie poetisch mit Fleisch und Blut zu versehen, nicht moralistisch wie Rolf Hochhuth, der eine gesellschaftliche Tatsache - das Schweigen des Papstes - aufnehme, um dann seine Phantasie auf sie loszulassen, sondern poetisch-phantastisch. Nicht von unten nach oben, sondern umgekehrt, von oben nach unten, von der poetischen Fiktion zur Realität, von der Idee zur Welt der sozialen Fakten.
Während der Leser darauf wartet, wie das funktioniert, verfällt Mulisch für eine Weile in kulturkritischen Small talk: Herter besichtigt Wien, erinnert sich an früher, stellt sein Buch vor, erträgt die Zeremonien der Berühmtheit und läßt sich bewundern. Dieser Teil des Buches zieht sich - dramatisch geschickt gemacht - etwas in die Länge, und der Leser, der Mulischs "Attentat" und "Die Entdeckung des Himmels" mit ihrer reißenden Spannung und intelligenten Reflexion nicht vergessen hat, öffnet gerade den Mund, um Mulisch zuzurufen: "Jetzt schreibst ja auch du schon wie Martin Walser!", da schlägt der Blitz der Idee ein und zerreißt das Gewebe des Literatenalltags. Nach seiner Buchvorstellung spricht ein Ehepaar den vom Signieren ermüdeten Großschriftsteller an, einfache, uralte Leutchen, die sein Fernsehinterview gesehen und seine Bemerkung gehört hatten, dem unbegreiflichen Hitler könne man nur mit Phantasie näherkommen. Sie hätten ihm etwas über Hitler zu erzählen, was außer ihnen niemand wisse.
So besucht Herter die beiden, Julia und Ulrich Falk, am nächsten Morgen im Altersheim. Sie erzählen ihre Geschichte: Ulrich Falk war Oberkellner und ein Wiener Nazi der ersten Stunde. Er war an der Ermordung von Dollfuß beteiligt und mußte nach München fliehen, wo er bei alten Parteigenossen Unterstützung fand. Als Hitler 1936 ein Dienerehepaar für den Obersalzberg suchte, wurden ihm die beiden empfohlen; er stellte sie ein. Im Jahr 1938 habe Hitler von Eva Braun einen Sohn bekommen, Siegfried. Der Führer durfte weder verheiratet sein noch ein Kind bekommen, schon gar kein uneheliches, also mußte das Ehepaar Falk Siegfried als ihr eigenes Kind ausgeben und erziehen. 1944 - Eva Braun war in Berlin - erhielt Falk ohne weitere Begründung den Befehl, das Kind zu erschießen. Er befolgte den Befehl. Und in einer aufregenden Erzählung erfahren wir am Ende des Buches den Grund für den Befehl: Nazibonzen hatten Hitler die Information zugespielt, Eva Braun habe Juden unter ihren Vorfahren. Daher mußte Siegfried sterben. Hitler konnte nicht mit einem jüdisch-versippten Sohn eine neue Dynastie aufbauen. Zwar gelang es Evas Vater noch in den letzten Monaten des Dritten Reichs, die Verleumdung seiner Tochter zu widerlegen. Aber das letzte, das einzige Band, das Hitler mit dem Leben verknüpfte, war durchschnitten.
Durch die poetisch-fiktive Konfrontation Hitlers mit einem lebendigen Kind wird die Unbegreiflichkeit Hitlers zwar nicht beseitigt, aber erklärt. Er stand auf der Seite des Todes. Er verkörperte das Nichts. Das Nichts ist unbegreiflich. Daher kann es keine Psychologie des Führers geben. Romanhafte Ausschmückungen führen zu - nichts. Poesie wird Erkenntnis, indem sie eben dies einsichtig macht. Herter begreift dies. Und er reagiert auf seine Erkenntnis auf zweifache Weise: Zuerst ordnet er sie ein in die europäische Ideengeschichte. Und dann stirbt er: Herzinfarkt im Hotel Sacher. Zu seinem Tod ist weiter nichts zu sagen. Höchstens, daß er zuletzt noch ins Diktaphon gesprochen hat, was allein "er" hat sagen können. Liebesromane kann jeder Schafskopf schreiben, aber wie das Nichts in die europäische Geschichte eingebrochen ist, das kann sich nur Harry Mulisch ausdenken und spannend erzählen.
"Siegfried" ist ein kurzer Roman. Nach dem kunstvoll stilisierten retardierenden Anfang rast er ohne weitere kriminalistische Verwicklungen auf sein und Hitlers Ende zu. "Siegfried" ist ein philosophisches Buch, wie wir seit dem "Mann ohne Eigenschaften" keines mehr hatten. Nicht nur, daß beide in Wien spielen. Musils Ulrich und Mulischs Herter zehren beide ausdrücklich von Ideen Meister Eckharts, der gelehrt hatte: Als Intellekt haben wir keine Eigenschaften.
Herter erklärt sich die Unerklärlichkeit Hitlers. Er versteht am Ende seines Lebens die deutsche Tragödie aus dem Geist der negativen Theologie. Dieser Geist hat in Nietzsche und Heidegger seinen nihilistischen Charakter ausgesprochen. Als Nietzsche zusammenbrach, stand der unheimlichste aller Gäste vor Europas Tür: der Nihilismus. Genau in diesen Monaten wurde Adolf Hitler in Braunau gezeugt. Wir brauchen uns nicht zu wundern, daß wir ihn nicht begreifen. Wir mögen das Nichts als Abgrund der Gottheit oder als schwarzes Loch umschreiben, an ihm ist nichts zu begreifen. Vielleicht kann man ihn ein Vakuum nennen, das sich mit anderen Menschen vollsog und sie damit vernichtete. Das ist Herters letzte Erkenntnis: Hitler war keine "Persönlichkeit", sondern eine Reihe von Prädikaten ohne ein Subjekt. Die negative Theologie sprach von einem Subjekt ohne Prädikate, von einem Gott, über den man nichts sagen konnte. Das war schon paradox genug. Aber erst recht unbegreiflich ist die genaue Umkehrung dieses Gottes. Hitler war ein nichtendes Nichts, wie Heidegger uns zu sagen gelehrt hat. Deswegen ist Hitler nicht zu begreifen.
Mulischs "Siegfried" ist trotz seines geringen Umfangs ein großes Buch, so gescheit wie anschaulich, so phantastisch wie auf höhere, auf poetische Weise "realistisch". Erich Auerbach beschrieb Dante als den Dichter der irdischen Welt. Damit hatte Auerbach recht. In seinem Sinne ist Mulisch der Dichter des zurückliegenden, des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Dämmerung dieses Jahrhunderts geht zu Ende. Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug.
Zum Beruf des Rezensenten gehört der Gestus wirklicher oder gespielter Gelangweiltheit. Dieses Buch treibt sie jedem aus, jedenfalls für die Dauer der Lektüre. Dieses Buch ist von ungeheurer Neuheit. Es ist so spannend, nicht nur weil hier ein alter Profi die Regie führt, sondern weil es radikal durchdacht ist. Andere mögen Einwände erheben; ich nicht. Schon gar nicht darf man kritisieren, "Siegfried" trage zur Erklärung Hitlers nichts bei. Mulischs Quintessenz ist gerade, daß es bei Hitler nichts zu erklären gibt. Daher war es auch sehr konsequent, im ganzen Roman den Titelhelden, nämlich Hitlers Sohn Siegfried, nicht sprechen zu lassen. Wir erfahren fast nichts von ihm, nur, daß er gern Krieg spielte. Die Figur Siegfried bleibt leer, und so erkennen wir durch den Sohn den Vater. Vielleicht stört es manche, daß viele Details so unangenehm genau zusammenpassen: von der Sachertorte über Braunau zu Eva B. Aber das kann man nicht Mulisch vorwerfen; das hat "er" nicht erfunden. Vielleicht wendet ein anderer ein, Mulisch übertreibe mit solchen Entsprechungen. So läßt er Siegfried genau am 9. November 1938 zur Welt kommen. Ist das nicht ein bißchen zu viel an "Symbolik"? Aber war nicht auch Dantes Inferno ein bißchen zu symbolisch? War es deswegen weniger poetisch? "Realistisch" war es ohnehin, denn er hat die Höllenränge mit den richtigen Personen besetzt, die sich aufs prägnanteste kundtun.
Übrigens hat Mulisch selbst bemerkt, daß an seinem Hitler alles ein wenig zu sehr zusammenstimmt: "Auf unheimliche Weise stimmte bei Hitler immer alles." Mancher Kritiker wird das umdrehen und schreiben: "Bei Harry M. stimmt immer alles." Aber auch gegen diesen Einwand hat Mulisch vorgesorgt. Er nennt sein Dichtwerk "Eine schwarze Idylle". In einer Idylle muß immer alles zusammenstimmen. Diesmal, für das zwanzigste Jahrhundert, stimmt Schwarz zu Schwarz.
Bleibt noch ein letzter Einwand: Mulisch erklärt Hitlers Unbegreiflichkeit metaphysisch oder vielmehr als die radikale Negation der alteuropäischen Metaphysik. Liegt darin nicht erneut eine Mythisierung Hitlers, eine entlastende Übertragung aller Verantwortlichkeit auf ein nichtendes Nichts? Wenn er nichts war als ein Abgrund der Negation - wie das poetische Experiment der Ermordung seines Sohns belegt -, dann ist von ihm auch nichts zu sagen. Dann muß man von ihm schweigen. Mulisch schweigt nicht. Gott sei Dank. Schließlich haben auch Eckhart und Dante nicht von dem geschwiegen, worüber man nichts sagen kann. Was allein zählt, ist ihr gestaltetes Wort. Und das ist Mulischs neuer Roman, von Gregor Seferens hervorragend übersetzt, im eminenten Sinne.
Harry Mulisch: "Siegfried". Eine schwarze Idylle. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2001. 191 S., geb., 35,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Harry Mulisch findet Hitler unerklärlich / Von Kurt Flasch
Leise plätschernd, fast schon gefällig fängt es an. Ein weltberühmter niederländischer Schriftsteller, Rudolf Herter, Jahrgang 1927, zufällig so alt wie Harry Mulisch, fliegt zusammen mit seiner dreißig Jahre jüngeren Freundin nach Wien zu einer Lesereise. Er hat ein tausendseitiges Buch geschrieben, einen Bildungsschmöker, um den das Publikum sich reißt. Es geht darin um Liebe, frei nach Tristan und Isolde. Journalistenschwärme fordern Interview auf Interview: fünf Minuten für die tausend Seiten. Nein, das geht nicht. Aber so wird es gemacht. Und es geht dann auch, irgendwie. Dann: Empfang beim niederländischen Botschafter, festlicher Leseabend im barocken Prunksaal der Nationalbibliothek, direkt neben der Hofburg.
Das Buch beginnt als zartbittere Parodie auf den Kulturbetrieb; höchstens erwartet der Leser noch das Wiedersehen des inzwischen verwöhnten Erfolgsschriftstellers mit der alten Stadt Wien, die er vor mehr als fünfzig Jahren verlassen hat. Dort schrieb er mit siebzehn seine ersten literarischen Versuche, in einer ungeheizten Mansarde mit Eisblumen an den Fenstern. Jetzt residiert der Herr im Hotel Sacher, dessen Direktor ihn im Rolls-Royce zur Dichterlesung in Wiens repräsentativsten Saal chauffiert. So weit, so österreichisch. Man mag das die Schokoladenseite der schönen Literatur nennen, aber auch an diesem späten Rudolf Herter gleitet sie vorbei. Ihn interessiert auch sein Riesenroman über die Liebe nicht mehr, aus dem er doch vorlesen soll. An Wien denken heißt an Hitler denken.
Nicht weit vom Hotel Sacher liegt der Heldenplatz. Die Farbe der Sachertorte weckt Assoziationen: Braun, Brauner, Braun, Braunau, Braunes Haus . . . Eva Braun. Das paßt zusammen, als sei es von einem Romancier erfunden. Aber das Selbsterfundene kommt erst später. Noch sitzt Herr Herter im Hotel bei einem Fernsehinterview über seinen Liebesroman. Von der Aufgabe des Dichters ist die Rede, dabei fällt das Stichwort "Phantasie", und das gibt Herter-Mulisch den Anlaß zu sinnieren: Nennt es Traum oder Mythos, Phantasie oder Roman, all dies Gedichtete ist Erkenntnis. Wieso? Die Fiktion gibt die Möglichkeit, eine unbegriffene Person mit etwas zu konfrontieren, was in ihrem Alltag nicht vorkam, aber was sie begreiflicher macht. Ob ihm ein Beispiel für eine Person einfalle, die er gar nicht begreifen könne? Ja, seine Exfrau Olga . . . und Hitler. Aber nicht wie bei einem historischen Roman wäre dabei vorzugehen, nicht in der Manier von Stefan Zweig, der historische Fakten hernehme, um sie poetisch mit Fleisch und Blut zu versehen, nicht moralistisch wie Rolf Hochhuth, der eine gesellschaftliche Tatsache - das Schweigen des Papstes - aufnehme, um dann seine Phantasie auf sie loszulassen, sondern poetisch-phantastisch. Nicht von unten nach oben, sondern umgekehrt, von oben nach unten, von der poetischen Fiktion zur Realität, von der Idee zur Welt der sozialen Fakten.
Während der Leser darauf wartet, wie das funktioniert, verfällt Mulisch für eine Weile in kulturkritischen Small talk: Herter besichtigt Wien, erinnert sich an früher, stellt sein Buch vor, erträgt die Zeremonien der Berühmtheit und läßt sich bewundern. Dieser Teil des Buches zieht sich - dramatisch geschickt gemacht - etwas in die Länge, und der Leser, der Mulischs "Attentat" und "Die Entdeckung des Himmels" mit ihrer reißenden Spannung und intelligenten Reflexion nicht vergessen hat, öffnet gerade den Mund, um Mulisch zuzurufen: "Jetzt schreibst ja auch du schon wie Martin Walser!", da schlägt der Blitz der Idee ein und zerreißt das Gewebe des Literatenalltags. Nach seiner Buchvorstellung spricht ein Ehepaar den vom Signieren ermüdeten Großschriftsteller an, einfache, uralte Leutchen, die sein Fernsehinterview gesehen und seine Bemerkung gehört hatten, dem unbegreiflichen Hitler könne man nur mit Phantasie näherkommen. Sie hätten ihm etwas über Hitler zu erzählen, was außer ihnen niemand wisse.
So besucht Herter die beiden, Julia und Ulrich Falk, am nächsten Morgen im Altersheim. Sie erzählen ihre Geschichte: Ulrich Falk war Oberkellner und ein Wiener Nazi der ersten Stunde. Er war an der Ermordung von Dollfuß beteiligt und mußte nach München fliehen, wo er bei alten Parteigenossen Unterstützung fand. Als Hitler 1936 ein Dienerehepaar für den Obersalzberg suchte, wurden ihm die beiden empfohlen; er stellte sie ein. Im Jahr 1938 habe Hitler von Eva Braun einen Sohn bekommen, Siegfried. Der Führer durfte weder verheiratet sein noch ein Kind bekommen, schon gar kein uneheliches, also mußte das Ehepaar Falk Siegfried als ihr eigenes Kind ausgeben und erziehen. 1944 - Eva Braun war in Berlin - erhielt Falk ohne weitere Begründung den Befehl, das Kind zu erschießen. Er befolgte den Befehl. Und in einer aufregenden Erzählung erfahren wir am Ende des Buches den Grund für den Befehl: Nazibonzen hatten Hitler die Information zugespielt, Eva Braun habe Juden unter ihren Vorfahren. Daher mußte Siegfried sterben. Hitler konnte nicht mit einem jüdisch-versippten Sohn eine neue Dynastie aufbauen. Zwar gelang es Evas Vater noch in den letzten Monaten des Dritten Reichs, die Verleumdung seiner Tochter zu widerlegen. Aber das letzte, das einzige Band, das Hitler mit dem Leben verknüpfte, war durchschnitten.
Durch die poetisch-fiktive Konfrontation Hitlers mit einem lebendigen Kind wird die Unbegreiflichkeit Hitlers zwar nicht beseitigt, aber erklärt. Er stand auf der Seite des Todes. Er verkörperte das Nichts. Das Nichts ist unbegreiflich. Daher kann es keine Psychologie des Führers geben. Romanhafte Ausschmückungen führen zu - nichts. Poesie wird Erkenntnis, indem sie eben dies einsichtig macht. Herter begreift dies. Und er reagiert auf seine Erkenntnis auf zweifache Weise: Zuerst ordnet er sie ein in die europäische Ideengeschichte. Und dann stirbt er: Herzinfarkt im Hotel Sacher. Zu seinem Tod ist weiter nichts zu sagen. Höchstens, daß er zuletzt noch ins Diktaphon gesprochen hat, was allein "er" hat sagen können. Liebesromane kann jeder Schafskopf schreiben, aber wie das Nichts in die europäische Geschichte eingebrochen ist, das kann sich nur Harry Mulisch ausdenken und spannend erzählen.
"Siegfried" ist ein kurzer Roman. Nach dem kunstvoll stilisierten retardierenden Anfang rast er ohne weitere kriminalistische Verwicklungen auf sein und Hitlers Ende zu. "Siegfried" ist ein philosophisches Buch, wie wir seit dem "Mann ohne Eigenschaften" keines mehr hatten. Nicht nur, daß beide in Wien spielen. Musils Ulrich und Mulischs Herter zehren beide ausdrücklich von Ideen Meister Eckharts, der gelehrt hatte: Als Intellekt haben wir keine Eigenschaften.
Herter erklärt sich die Unerklärlichkeit Hitlers. Er versteht am Ende seines Lebens die deutsche Tragödie aus dem Geist der negativen Theologie. Dieser Geist hat in Nietzsche und Heidegger seinen nihilistischen Charakter ausgesprochen. Als Nietzsche zusammenbrach, stand der unheimlichste aller Gäste vor Europas Tür: der Nihilismus. Genau in diesen Monaten wurde Adolf Hitler in Braunau gezeugt. Wir brauchen uns nicht zu wundern, daß wir ihn nicht begreifen. Wir mögen das Nichts als Abgrund der Gottheit oder als schwarzes Loch umschreiben, an ihm ist nichts zu begreifen. Vielleicht kann man ihn ein Vakuum nennen, das sich mit anderen Menschen vollsog und sie damit vernichtete. Das ist Herters letzte Erkenntnis: Hitler war keine "Persönlichkeit", sondern eine Reihe von Prädikaten ohne ein Subjekt. Die negative Theologie sprach von einem Subjekt ohne Prädikate, von einem Gott, über den man nichts sagen konnte. Das war schon paradox genug. Aber erst recht unbegreiflich ist die genaue Umkehrung dieses Gottes. Hitler war ein nichtendes Nichts, wie Heidegger uns zu sagen gelehrt hat. Deswegen ist Hitler nicht zu begreifen.
Mulischs "Siegfried" ist trotz seines geringen Umfangs ein großes Buch, so gescheit wie anschaulich, so phantastisch wie auf höhere, auf poetische Weise "realistisch". Erich Auerbach beschrieb Dante als den Dichter der irdischen Welt. Damit hatte Auerbach recht. In seinem Sinne ist Mulisch der Dichter des zurückliegenden, des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Dämmerung dieses Jahrhunderts geht zu Ende. Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug.
Zum Beruf des Rezensenten gehört der Gestus wirklicher oder gespielter Gelangweiltheit. Dieses Buch treibt sie jedem aus, jedenfalls für die Dauer der Lektüre. Dieses Buch ist von ungeheurer Neuheit. Es ist so spannend, nicht nur weil hier ein alter Profi die Regie führt, sondern weil es radikal durchdacht ist. Andere mögen Einwände erheben; ich nicht. Schon gar nicht darf man kritisieren, "Siegfried" trage zur Erklärung Hitlers nichts bei. Mulischs Quintessenz ist gerade, daß es bei Hitler nichts zu erklären gibt. Daher war es auch sehr konsequent, im ganzen Roman den Titelhelden, nämlich Hitlers Sohn Siegfried, nicht sprechen zu lassen. Wir erfahren fast nichts von ihm, nur, daß er gern Krieg spielte. Die Figur Siegfried bleibt leer, und so erkennen wir durch den Sohn den Vater. Vielleicht stört es manche, daß viele Details so unangenehm genau zusammenpassen: von der Sachertorte über Braunau zu Eva B. Aber das kann man nicht Mulisch vorwerfen; das hat "er" nicht erfunden. Vielleicht wendet ein anderer ein, Mulisch übertreibe mit solchen Entsprechungen. So läßt er Siegfried genau am 9. November 1938 zur Welt kommen. Ist das nicht ein bißchen zu viel an "Symbolik"? Aber war nicht auch Dantes Inferno ein bißchen zu symbolisch? War es deswegen weniger poetisch? "Realistisch" war es ohnehin, denn er hat die Höllenränge mit den richtigen Personen besetzt, die sich aufs prägnanteste kundtun.
Übrigens hat Mulisch selbst bemerkt, daß an seinem Hitler alles ein wenig zu sehr zusammenstimmt: "Auf unheimliche Weise stimmte bei Hitler immer alles." Mancher Kritiker wird das umdrehen und schreiben: "Bei Harry M. stimmt immer alles." Aber auch gegen diesen Einwand hat Mulisch vorgesorgt. Er nennt sein Dichtwerk "Eine schwarze Idylle". In einer Idylle muß immer alles zusammenstimmen. Diesmal, für das zwanzigste Jahrhundert, stimmt Schwarz zu Schwarz.
Bleibt noch ein letzter Einwand: Mulisch erklärt Hitlers Unbegreiflichkeit metaphysisch oder vielmehr als die radikale Negation der alteuropäischen Metaphysik. Liegt darin nicht erneut eine Mythisierung Hitlers, eine entlastende Übertragung aller Verantwortlichkeit auf ein nichtendes Nichts? Wenn er nichts war als ein Abgrund der Negation - wie das poetische Experiment der Ermordung seines Sohns belegt -, dann ist von ihm auch nichts zu sagen. Dann muß man von ihm schweigen. Mulisch schweigt nicht. Gott sei Dank. Schließlich haben auch Eckhart und Dante nicht von dem geschwiegen, worüber man nichts sagen kann. Was allein zählt, ist ihr gestaltetes Wort. Und das ist Mulischs neuer Roman, von Gregor Seferens hervorragend übersetzt, im eminenten Sinne.
Harry Mulisch: "Siegfried". Eine schwarze Idylle. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2001. 191 S., geb., 35,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2001 Siggi Weidemann
Sein letztes Wort zum Thema Hitler
Harry Mulischs neuer
Roman „Siegfried”
Bei allen Spürversuchen nach außerirdischem Leben ist bisher eine Frage noch nicht gestellt worden: Gibt es auf anderen Sternen auch Bücher, und wenn ja, auch Kritiker, und wenn ja, wie würden sie auf die auf Erden lebenden Schriftsteller reagieren? Zum Beispiel auf Harry Mulisch? Der glaubt, „jeder Autor ist Gott”. Nur dass Mulisch, Hollands fantasievollster Essayist, in der „Entdeckung des Himmels” den Beweis dafür gleich mitgeliefert hat und in dem wuchtigen Werk (in Deutschland bisher 350 000-mal verkauft) die Schöpfungsgeschichte noch einmal erzählt.
Wie aber kann man ein derartiges Meisterwerk noch überbieten? Ganz einfach: indem man „Siegfried” schreibt und darin erstmals eine Menge Autobiografisches dem Leser mitteilt. „Wenn ich zu graben beginne, darf ich keine Angst haben, dass ich mich dabei selber nackt darstelle”, sagt der 73-Jährige.
Harry Mulisch hat noch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er von Wien, von Adolf Hitler und vom Nazismus seit jeher fasziniert ist. Er ist das Kind einer deutsch-jüdischen Mutter, die im flämischen Antwerpen als Lehrerin arbeitete. Sein Vater war ein österreichischer Offizier, der jüdisches Eigentum arisierte und in Holland verurteilt wurde. Kein Wunder, dass Mulisch wie kein anderer Autor niederländischer Sprache sein Werk dem „Dritten Reich” gewidmet hat. Bei ihm erfährt man viel über Gewöhnliches und Alltägliches aus den Zeiten des Nationalsozialismus.
Der umgekehrte Anschluss
„Hitler ist das absolute Böse und von allen Diktatoren der einzige, an dem noch etwas Geheimnisvolles klebt. Über den Mann sind Tausende von Büchern geschrieben worden. Mich interessiert jedoch vor allem die Frage: Wie hat es der Österreicher Hitler geschafft, ein Kulturvolk wie die Deutschen, das im Gegensatz zu Österreich oder Polen keine antisemitische Tradition hatte, zu Antisemiten zu machen? Man muss von einem Anschluss Deutschlands an Österreich sprechen und nicht umgekehrt. Da ich schon immer verrückt war, habe ich mich auf dieses Thema eingelassen”, sagt Mulisch, während er sich seine Pfeife stopft.
„Ich bin der Zweite Weltkrieg, diese Zeit steckt mir im Blut”, sagt Mulisch und erzählt von seiner Jugend in Haarlem und von dem Versuch, die kaputte Ehe seiner Eltern zu kitten. Das NS- Regime hat die Bilder geschaffen, die er zum Schreiben braucht. „Ich wollte am Ende des 20. Jahrhunderts etwas Endgültiges über Hitler zum Ausdruck bringen. Ich hatte begriffen, dass man dieses Phänomen nur mit Hilfe literarischer Fantasie begreifen kann. Dieser fiktive Roman ist mein letztes Wort zum Thema Hitler. ”
Worum geht es in „Siegfried, eine schwarze Idylle”, Mulischs dreizehntem Roman? Hauptperson ist der niederländische Schriftsteller Rudolf Herter, sein leicht verfremdeter Doppelgänger, der zusammen mit seiner 30 Jahre jüngeren Frau in Wien sein Buch „Die Erfindung der Liebe” vorstellen soll. Durch Zufall trifft Herter auf Ullrich und Julia Falk, und die erzählen Herter die unglaubliche Geschichte vom Berghof. Die Falks waren Hausangestellte Adolf Hitlers und seiner Geliebten Eva Braun auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden. Eva Braun, so die Erzählung der Falks, habe von Hitler ein Kind bekommen, Siegfried. Weil aber Hitler kein Kind haben durfte, sei es den Falks untergeschoben worden. 1944 habe dann Hitler den Auftrag gegeben, seinen Sohn zu ermorden.
Boshaft und detailliert
Ohne falsche Nähe und unkritische Zuneigung, boshaft und detailliert beschreibt Mulisch dieses große Geheimnis Hitlers. Seine Souveränität zeigt sich darin – Thomas Mann ist für ihn „das ganz große Vorbild” –, wie er die verschiedenen Traditionen mischt, wie sein Alter Ego die Nibelungensage, den Tristan-und-Isolde-Mythos, die Philosophien von Nietzsche, Schopenhauer und Heidegger mengt und stets die Balance wahrt.
Auf wunderliche Weise ist das Mulisch-Werk eine bemerkenswerte Arbeit – und spannend ist es außerdem. Ian Kershaw muss seine Hitler-Biografie nicht umschreiben, auch wenn „Siegfried” als die literarische Sensation des Jahres in den Niederlanden gilt. Die Erstauflage von 70 000 Exemplaren war innerhalb einer Woche verkauft. Inzwischen wird die dritte Auflage vorbereitet. Neugierig ist Mulisch darauf – im Gegensatz zu seinem Freund Cees Nooteboom wird er im eigenen Land gelesen –, wie das deutsch-österreichische Publikum auf seinen „Siegfried” reagieren wird und darauf, wie sich die deutsche Übersetzung (im Spätsommer erscheint sie im Hanser Verlag) lesen wird. Harry Mulisch, in 31 Sprachen übersetzt und in rund 3,5 Millionen Exemplaren verbreitet, sagt: „Hitler spricht ja bei mir Niederländisch, im Deutschen wird sich mein Buch ganz anders lesen. ”
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Sein letztes Wort zum Thema Hitler
Harry Mulischs neuer
Roman „Siegfried”
Bei allen Spürversuchen nach außerirdischem Leben ist bisher eine Frage noch nicht gestellt worden: Gibt es auf anderen Sternen auch Bücher, und wenn ja, auch Kritiker, und wenn ja, wie würden sie auf die auf Erden lebenden Schriftsteller reagieren? Zum Beispiel auf Harry Mulisch? Der glaubt, „jeder Autor ist Gott”. Nur dass Mulisch, Hollands fantasievollster Essayist, in der „Entdeckung des Himmels” den Beweis dafür gleich mitgeliefert hat und in dem wuchtigen Werk (in Deutschland bisher 350 000-mal verkauft) die Schöpfungsgeschichte noch einmal erzählt.
Wie aber kann man ein derartiges Meisterwerk noch überbieten? Ganz einfach: indem man „Siegfried” schreibt und darin erstmals eine Menge Autobiografisches dem Leser mitteilt. „Wenn ich zu graben beginne, darf ich keine Angst haben, dass ich mich dabei selber nackt darstelle”, sagt der 73-Jährige.
Harry Mulisch hat noch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er von Wien, von Adolf Hitler und vom Nazismus seit jeher fasziniert ist. Er ist das Kind einer deutsch-jüdischen Mutter, die im flämischen Antwerpen als Lehrerin arbeitete. Sein Vater war ein österreichischer Offizier, der jüdisches Eigentum arisierte und in Holland verurteilt wurde. Kein Wunder, dass Mulisch wie kein anderer Autor niederländischer Sprache sein Werk dem „Dritten Reich” gewidmet hat. Bei ihm erfährt man viel über Gewöhnliches und Alltägliches aus den Zeiten des Nationalsozialismus.
Der umgekehrte Anschluss
„Hitler ist das absolute Böse und von allen Diktatoren der einzige, an dem noch etwas Geheimnisvolles klebt. Über den Mann sind Tausende von Büchern geschrieben worden. Mich interessiert jedoch vor allem die Frage: Wie hat es der Österreicher Hitler geschafft, ein Kulturvolk wie die Deutschen, das im Gegensatz zu Österreich oder Polen keine antisemitische Tradition hatte, zu Antisemiten zu machen? Man muss von einem Anschluss Deutschlands an Österreich sprechen und nicht umgekehrt. Da ich schon immer verrückt war, habe ich mich auf dieses Thema eingelassen”, sagt Mulisch, während er sich seine Pfeife stopft.
„Ich bin der Zweite Weltkrieg, diese Zeit steckt mir im Blut”, sagt Mulisch und erzählt von seiner Jugend in Haarlem und von dem Versuch, die kaputte Ehe seiner Eltern zu kitten. Das NS- Regime hat die Bilder geschaffen, die er zum Schreiben braucht. „Ich wollte am Ende des 20. Jahrhunderts etwas Endgültiges über Hitler zum Ausdruck bringen. Ich hatte begriffen, dass man dieses Phänomen nur mit Hilfe literarischer Fantasie begreifen kann. Dieser fiktive Roman ist mein letztes Wort zum Thema Hitler. ”
Worum geht es in „Siegfried, eine schwarze Idylle”, Mulischs dreizehntem Roman? Hauptperson ist der niederländische Schriftsteller Rudolf Herter, sein leicht verfremdeter Doppelgänger, der zusammen mit seiner 30 Jahre jüngeren Frau in Wien sein Buch „Die Erfindung der Liebe” vorstellen soll. Durch Zufall trifft Herter auf Ullrich und Julia Falk, und die erzählen Herter die unglaubliche Geschichte vom Berghof. Die Falks waren Hausangestellte Adolf Hitlers und seiner Geliebten Eva Braun auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden. Eva Braun, so die Erzählung der Falks, habe von Hitler ein Kind bekommen, Siegfried. Weil aber Hitler kein Kind haben durfte, sei es den Falks untergeschoben worden. 1944 habe dann Hitler den Auftrag gegeben, seinen Sohn zu ermorden.
Boshaft und detailliert
Ohne falsche Nähe und unkritische Zuneigung, boshaft und detailliert beschreibt Mulisch dieses große Geheimnis Hitlers. Seine Souveränität zeigt sich darin – Thomas Mann ist für ihn „das ganz große Vorbild” –, wie er die verschiedenen Traditionen mischt, wie sein Alter Ego die Nibelungensage, den Tristan-und-Isolde-Mythos, die Philosophien von Nietzsche, Schopenhauer und Heidegger mengt und stets die Balance wahrt.
Auf wunderliche Weise ist das Mulisch-Werk eine bemerkenswerte Arbeit – und spannend ist es außerdem. Ian Kershaw muss seine Hitler-Biografie nicht umschreiben, auch wenn „Siegfried” als die literarische Sensation des Jahres in den Niederlanden gilt. Die Erstauflage von 70 000 Exemplaren war innerhalb einer Woche verkauft. Inzwischen wird die dritte Auflage vorbereitet. Neugierig ist Mulisch darauf – im Gegensatz zu seinem Freund Cees Nooteboom wird er im eigenen Land gelesen –, wie das deutsch-österreichische Publikum auf seinen „Siegfried” reagieren wird und darauf, wie sich die deutsche Übersetzung (im Spätsommer erscheint sie im Hanser Verlag) lesen wird. Harry Mulisch, in 31 Sprachen übersetzt und in rund 3,5 Millionen Exemplaren verbreitet, sagt: „Hitler spricht ja bei mir Niederländisch, im Deutschen wird sich mein Buch ganz anders lesen. ”
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"Mulischs neues Buch verknüpft meisterhaft einen geschichtsphilosophischen Diskurs mit einer Art Homestory aus des Führers Wochenend-Quartier in Bayern." (Financial Times)