Nach den ersten Seiten meint der Leser einen Künstlerroman vor sich zu haben, einen Roman über den alternden und erfolgsverwöhnten Schriftsteller Rudolf Herter. Der Autor aus Amsterdam befindet sich auf einer Lesereise in Wien mit seinem neuen Roman, dem Opus magnum „Die Erfindung der Liebe“. Für
Herter, der als kultureller Botschafter aus den Niederlanden gepriesen wird, sind die Interviews…mehrNach den ersten Seiten meint der Leser einen Künstlerroman vor sich zu haben, einen Roman über den alternden und erfolgsverwöhnten Schriftsteller Rudolf Herter. Der Autor aus Amsterdam befindet sich auf einer Lesereise in Wien mit seinem neuen Roman, dem Opus magnum „Die Erfindung der Liebe“. Für Herter, der als kultureller Botschafter aus den Niederlanden gepriesen wird, sind die Interviews längst reine Routine.
Nach seiner Lesung in der Nationalbibliothek spricht ihn ein altes, unsicheres Ehepaar an. Sie stellen sich als Ullrich und Julia Falk vor und würden ihm gern etwas Ungewöhnliches erzählen. Herters Neugierde ist geweckt und er besucht die beiden am nächsten Tag in einem heruntergekommenen Altersheim. Was er hier hört, ist eine erstaunliche Geschichte. Die Falks waren Hausangestellte auf Hitlers Obersalzberg in Berchtesgaden. In dieser Festung in den Bergen lebte Adolf Hitler mit seiner Geliebten Eva Braun, die von ihm ein Kind erwartet. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wird Siegfried geboren. Welchen Namen und welches Geburtsdatum könnte der Sohn des Führers sonst haben? Götterdämmerung und Staatsgeheimnis zugleich. Die Falks werden offiziell die Eltern des Neugeborenen, denn ein Kind des Führers, den alle deutschen Frauen lieben, wäre für die Öffentlichkeit undenkbar. Siegfried wächst bei den Falks im Berghof zu einem lebhaften Jungen heran, doch in den letzten Kriegstagen gibt Hitler den Befehl, Siegfried zu töten. Ullrich Falk hat ihn selbst erschossen.
Herter ist nach dieser Beichte wie gelähmt. Noch am Abend zuvor hatte er in einem Fern-sehinterview von einem literarischen Vorhaben gesprochen, das wahre Gesicht des Führers zu entlarven. Und nun diese unglaubliche und geheimnisvolle Geschichte. Er kennt die hunderttausend Bücher, die politischen, historischen, psychologischen, soziologischen, theologischen und sonst was für Studien über den Massenmörder. Schon immer wollte er von einer fiktiven, ja phantastischen Wirklichkeit zur sozialen Wirklichkeit des Phänomens Hitler vordringen. Sein Versuch, sich diesem Schreckgespenst anzunähern, endet in der Aussage, dass man Hitler nicht als das personifizierte Böse, sondern als das Nichts betrachten müsse. Der Diktator kann kein Mensch gewesen sein. Seine Phantasie treibt ihn sogar dahin, Friedrich Nietzsche als Hitlers erstes Opfer anzusehen, denn genau am Tag von dessen Geburt begann der geistige Verfall des Philosophen.
„Wer, wenn nicht ich?“, maßt sich Rudolf Herter an. Ein bedrohlicher Wahn, in den er sich steigert. Oder ist es Harry Mulisch, Sohn eines österreichischen Nazikollaborateurs und einer Jüdin? Die Verschmelzung zwischen dem Autor und der Romanfigur ist mitunter verwirrend. Ein Unbehagen beschleicht den Leser auch, wenn am Ende Eva Brauns Tagebuch auftaucht. Trotzdem ein bizarrer, aberwitziger Roman und ein literarisches Meisterstück.
Manfred Orlick