Eine Frau zwischen alten Rollenverhältnissen und neuen Rollenansprüchen
Eine Frau - Mutter, Partnerin, Versorgerin - fährt eines Morgens nicht zur Arbeit, sondern in die Psychiatrie. Am Abend hat sie sich mit ihrem Partner gestritten, vielleicht ist etwas zerbrochen, jetzt muss sie den Tag beginnen, sie muss die Tochter anziehen, an alles denken, in der Wohnung und ihrem Leben aufräumen. Doch sie hat Angst: das Geld, die Deadline, die Beziehung, nichts ist unter Kontrolle, und vor allem ist da die Angst um ihren Stiefvater, der früher die Welt für sie geordnet und ihr einen Platz darin zugewiesen hat. In der Psychiatrie, denkt sie, wird jemand sein, der ihr sagt, wie ihr Problem heißt. Dort darf sie sich ausruhen.
Siegfried ist ein Roman über alte Ordnungen und neue Ansprüche, über Gewalt und das Schweigen darüber, über eine Generation, deren Eltern nach dem Krieg geboren wurden und deshalb glaubten, er sei vorbei.
Eine Frau - Mutter, Partnerin, Versorgerin - fährt eines Morgens nicht zur Arbeit, sondern in die Psychiatrie. Am Abend hat sie sich mit ihrem Partner gestritten, vielleicht ist etwas zerbrochen, jetzt muss sie den Tag beginnen, sie muss die Tochter anziehen, an alles denken, in der Wohnung und ihrem Leben aufräumen. Doch sie hat Angst: das Geld, die Deadline, die Beziehung, nichts ist unter Kontrolle, und vor allem ist da die Angst um ihren Stiefvater, der früher die Welt für sie geordnet und ihr einen Platz darin zugewiesen hat. In der Psychiatrie, denkt sie, wird jemand sein, der ihr sagt, wie ihr Problem heißt. Dort darf sie sich ausruhen.
Siegfried ist ein Roman über alte Ordnungen und neue Ansprüche, über Gewalt und das Schweigen darüber, über eine Generation, deren Eltern nach dem Krieg geboren wurden und deshalb glaubten, er sei vorbei.
«So unausgesprochen wie exemplarisch porträtiert Antonia Baum drei deutsche Nachkriegsgenerationen, bis hin zu den Enkeln, die doch plötzlich von Ängsten und Wünschen heimgesucht werden, denen sie schon entkommen zu sein glaubten.» Eva Behrendt taz 20230501
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Der vierte Roman von Antonia Baum ist der Selbsterfahrungstrip einer Frau, deren biografische Daten denen der Autorin erstaunlich ähneln, schreibt Rezensentin Eva Behrendt. Die Erzählerin ist Schriftstellerin, lebt mit Kind in Berlin, hat einen Liebhaber und sich nach einem Alptraum selbst in die Psychiatrie eingewiesen. Dort sinniert sie über ihre Mutter, die Macht von Stiefvater Siegfried und die der nazistischen Großmutter. Der Ton dieser Geschichte sei wieder "eindringlich und intim", schreibt Behrendt und bewundert die Offenheit des erzählenden Ichs, das für die Rezensentin als Zeichen der Redlichkeit von der Autorin allerdings etwas überstrapaziert wird. Trotzdem beeindruckt Behrendt der Versuch der Protagonistin, in den Spiegel von drei deutschen Nachkriegsgenerationen zu schauen, um feststellen, dass man den in der Familiengeschichte angelegten Ängsten nicht entkommen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.04.2023Flucht in die Anstalt
In ihrem Roman „Siegfried“ erforscht Antonia Baum altes BRD-Personal
Was als Erstes auffällt, wenn man diesen Roman zu lesen beginnt: wie sehr sich das Image der psychiatrischen Klinik gewandelt hat. Die Protagonistin von „Siegfried“, Mitte oder Ende dreißig, Schriftstellerin, merkt eines Morgens, dass sie nicht mehr kann. Sie hat ein Kind zu versorgen, Geld zu verdienen, einen Roman zu schreiben und nun hat sie sich auch noch mit ihrem Lebenspartner gestritten – keine Lappalie, sie ist fremdgegangen. Und was tut sie? Sie fährt zur psychiatrischen Abteilung eines Berliner Krankenhauses. Dort soll es einen guten Arzt geben, einen mit Hornbrille, der Fälle wie ihren versteht. Da ist kein Gedanke mehr an das Foltergefängnis Psychiatrie vergangener Zeiten, in denen „Insassen“ mit Eisbädern und Elektroschocks „therapiert“ wurden. Nicht mehr die Sorge, dass man, einmal eingewiesen, sein restliches Leben in einer Zwangsjacke wird fristen müssen. Nein, die Psychiatrie ist zur Zuflucht geworden, wenn die Versprechen der Wellnesshotels an ihr Ende gekommen sind oder man kein Geld für so was hat. Wenn nichts mehr geht, geht man in die Klinik.
So ist es jedenfalls für die Protagonistin, eine namenlose junge Frau, die da nun im Wartebereich auf einem Plastikschalensitz Platz genommen hat, im Vorzimmer einer Ergründungsanstalt für die Psyche. Sie weiß, was hier von ihr erwartet wird: Die Vergangenheit muss durchschürft werden nach den Wurzeln ihres gegenwärtigen Elends. Während sie auf ihre Analyse wartet, auf die gezielten und deshalb wohltuenden Fragen eines Experten, ergründet sie schon mal selbst, damit die Erzählung später sitzt. Damit sie niemanden enttäuscht. Das ist der Kern dieser Überlastungserzählung: Hier spricht eine Frau, die nicht nur alles haben (Mann, Kind, Selbstverwirklichung), sondern alles sein will. Schön wie ihre Mutter, aber auch souverän wie ihr Stiefvater Siegfried, dieses Bild eines bürgerlichen BRD-Versorger-Mannes mit Haus, teurem Auto, einer Firma: „Saß Siegfried mir irgendwo gegenüber (es waren meist Restaurants und Hotels), dann lagen sein Telefon (erst Blackberry, später das neuste iPhone), der Wirtschaftsteil (auf Buchformat zusammengefaltet) und manchmal ein oder mehrere Schlüssel (Hotelzimmer, Mietwagen, sein Wagen) vor ihm.“
Zwischen diesem Siegfried und der Mutter der Erzählerin gibt es eine Gewaltgeschichte, die erst spät im Roman explizit gemacht wird. Es scheint, als sei sie für die Erzählerin noch nicht ganz aus der Verdrängung aufgetaucht, weil Siegfried (der mythisch beinahe Unverwundbare) ihr Halt im Leben ist. In ihrer Beziehung zu einem schluffigen Barkeeper ist die Erzählerin die Starke, die Versorgerin. Alex kommt aus dem Osten, sie aus dem Westen. Den immer noch gültigen Habitus westdeutscher bürgerlicher Souveränität hat Alex nie vorgelebt bekommen. In einer schmerzhaften Szene besuchen sie seine Eltern in einem Berliner Plattenbau. „Er sagte, sie kämen ihm vor wie Kinder, die sich erschreckt hätten, als die Mauer fiel, und sich von dem Schreck nicht mehr erholten.“ Die Erzählerin schätzt Alex’ Weichheit, seine Andersartigkeit, ist aber auch immer wieder von ihr irritiert. Sie fühlt sich in der Pflicht, beides zu sein: Nicht nur Frau, sondern auch jemand, der die Dinge im Griff hat – wie ein Mann. Die Rollenbilder von Männern und Frauen aus den vergangenen Generationen verschmelzen. Man kann das Emanzipation nennen, aber auch: doppelte Last.
Antonia Baum hat für ihr Memoir „Stillleben“ (2018) in der eigenen psychischen Verfasstheit nach der Geburt ihres ersten Kindes gewühlt. Auch „Siegfried“ liest sich ein bisschen wie eine Autobiografie, wäre da nur nicht diese hyperluzide Detailliertheit jeder einzelnen Kindheitsszene, die das Erzählte schon wieder beinahe unglaubwürdig macht. So scharf, denkt man, kann keine echte Erinnerung sein. Dass „Siegfried“ wesentlich mehr ist als eine etwas wehleidige tiefenpsychologische Selbstanalyse, liegt vor allem an den Figuren, die die Erzählerin heraufbeschwört und die von großer Vitalität sind, plastisch, genau. Die interessant genug sind, um für sich selbst zu stehen, aber auch allgemein genug, um deutsche Geschichte zu verkörpern: die stählerne, in psychische Gewalt kippende Verrücktheit der Stiefoma Hilde. Die unterdrückte Wut von Siegfried, die Liebessehnsucht der Mutter. Antonia Baum ist mit „Siegfried“ eine Tiefenbohrung geglückt in das Gepäck von Gewalt, Krieg und Aufstiegsdruck, das über die Eltern- und Großelterngenerationen bis auf die weiche, woke alternde Jugend von heute drückt.
KATHLEEN HILDEBRAND
Sie kommt aus dem Westen,
ihr Freund aus dem Osten –
auf beiden lastet die Geschichte
Antonia Baum erschafft Figuren, die interessant genug sind, um für sich selbst zu stehen, und allgemein genug, um deutsche Geschichte zu verkörpern.
Foto: U. Zintel
Antonia Baum: Siegfried. Roman. Claassen Verlag, Berlin 2023.
256 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem Roman „Siegfried“ erforscht Antonia Baum altes BRD-Personal
Was als Erstes auffällt, wenn man diesen Roman zu lesen beginnt: wie sehr sich das Image der psychiatrischen Klinik gewandelt hat. Die Protagonistin von „Siegfried“, Mitte oder Ende dreißig, Schriftstellerin, merkt eines Morgens, dass sie nicht mehr kann. Sie hat ein Kind zu versorgen, Geld zu verdienen, einen Roman zu schreiben und nun hat sie sich auch noch mit ihrem Lebenspartner gestritten – keine Lappalie, sie ist fremdgegangen. Und was tut sie? Sie fährt zur psychiatrischen Abteilung eines Berliner Krankenhauses. Dort soll es einen guten Arzt geben, einen mit Hornbrille, der Fälle wie ihren versteht. Da ist kein Gedanke mehr an das Foltergefängnis Psychiatrie vergangener Zeiten, in denen „Insassen“ mit Eisbädern und Elektroschocks „therapiert“ wurden. Nicht mehr die Sorge, dass man, einmal eingewiesen, sein restliches Leben in einer Zwangsjacke wird fristen müssen. Nein, die Psychiatrie ist zur Zuflucht geworden, wenn die Versprechen der Wellnesshotels an ihr Ende gekommen sind oder man kein Geld für so was hat. Wenn nichts mehr geht, geht man in die Klinik.
So ist es jedenfalls für die Protagonistin, eine namenlose junge Frau, die da nun im Wartebereich auf einem Plastikschalensitz Platz genommen hat, im Vorzimmer einer Ergründungsanstalt für die Psyche. Sie weiß, was hier von ihr erwartet wird: Die Vergangenheit muss durchschürft werden nach den Wurzeln ihres gegenwärtigen Elends. Während sie auf ihre Analyse wartet, auf die gezielten und deshalb wohltuenden Fragen eines Experten, ergründet sie schon mal selbst, damit die Erzählung später sitzt. Damit sie niemanden enttäuscht. Das ist der Kern dieser Überlastungserzählung: Hier spricht eine Frau, die nicht nur alles haben (Mann, Kind, Selbstverwirklichung), sondern alles sein will. Schön wie ihre Mutter, aber auch souverän wie ihr Stiefvater Siegfried, dieses Bild eines bürgerlichen BRD-Versorger-Mannes mit Haus, teurem Auto, einer Firma: „Saß Siegfried mir irgendwo gegenüber (es waren meist Restaurants und Hotels), dann lagen sein Telefon (erst Blackberry, später das neuste iPhone), der Wirtschaftsteil (auf Buchformat zusammengefaltet) und manchmal ein oder mehrere Schlüssel (Hotelzimmer, Mietwagen, sein Wagen) vor ihm.“
Zwischen diesem Siegfried und der Mutter der Erzählerin gibt es eine Gewaltgeschichte, die erst spät im Roman explizit gemacht wird. Es scheint, als sei sie für die Erzählerin noch nicht ganz aus der Verdrängung aufgetaucht, weil Siegfried (der mythisch beinahe Unverwundbare) ihr Halt im Leben ist. In ihrer Beziehung zu einem schluffigen Barkeeper ist die Erzählerin die Starke, die Versorgerin. Alex kommt aus dem Osten, sie aus dem Westen. Den immer noch gültigen Habitus westdeutscher bürgerlicher Souveränität hat Alex nie vorgelebt bekommen. In einer schmerzhaften Szene besuchen sie seine Eltern in einem Berliner Plattenbau. „Er sagte, sie kämen ihm vor wie Kinder, die sich erschreckt hätten, als die Mauer fiel, und sich von dem Schreck nicht mehr erholten.“ Die Erzählerin schätzt Alex’ Weichheit, seine Andersartigkeit, ist aber auch immer wieder von ihr irritiert. Sie fühlt sich in der Pflicht, beides zu sein: Nicht nur Frau, sondern auch jemand, der die Dinge im Griff hat – wie ein Mann. Die Rollenbilder von Männern und Frauen aus den vergangenen Generationen verschmelzen. Man kann das Emanzipation nennen, aber auch: doppelte Last.
Antonia Baum hat für ihr Memoir „Stillleben“ (2018) in der eigenen psychischen Verfasstheit nach der Geburt ihres ersten Kindes gewühlt. Auch „Siegfried“ liest sich ein bisschen wie eine Autobiografie, wäre da nur nicht diese hyperluzide Detailliertheit jeder einzelnen Kindheitsszene, die das Erzählte schon wieder beinahe unglaubwürdig macht. So scharf, denkt man, kann keine echte Erinnerung sein. Dass „Siegfried“ wesentlich mehr ist als eine etwas wehleidige tiefenpsychologische Selbstanalyse, liegt vor allem an den Figuren, die die Erzählerin heraufbeschwört und die von großer Vitalität sind, plastisch, genau. Die interessant genug sind, um für sich selbst zu stehen, aber auch allgemein genug, um deutsche Geschichte zu verkörpern: die stählerne, in psychische Gewalt kippende Verrücktheit der Stiefoma Hilde. Die unterdrückte Wut von Siegfried, die Liebessehnsucht der Mutter. Antonia Baum ist mit „Siegfried“ eine Tiefenbohrung geglückt in das Gepäck von Gewalt, Krieg und Aufstiegsdruck, das über die Eltern- und Großelterngenerationen bis auf die weiche, woke alternde Jugend von heute drückt.
KATHLEEN HILDEBRAND
Sie kommt aus dem Westen,
ihr Freund aus dem Osten –
auf beiden lastet die Geschichte
Antonia Baum erschafft Figuren, die interessant genug sind, um für sich selbst zu stehen, und allgemein genug, um deutsche Geschichte zu verkörpern.
Foto: U. Zintel
Antonia Baum: Siegfried. Roman. Claassen Verlag, Berlin 2023.
256 Seiten, 24 Euro.
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