Wenige Autoren haben das 20. Jahrhundert so sehr geprägt wie Sigmund Freud, der mit der Psychoanalyse nicht nur ein neues theoretisches Denkgebäude und psychotherapeutisches Verfahren, sondern auch eine weltweite Organisation begründet hat. Freuds Schriften haben eine kaum überschaubare Fülle an Sekundärliteratur hervorgebracht und waren Gegenstand zahlreicher, bis heute andauernder Kontroversen. Diese Einführung des Wissenschaftshistorikers Andreas Mayer sucht einen Neuzugang, indem sie deren Genese in ihren wissenschafts- und kulturhistorischen Kontexten erhellt und ihren kollektiven Charakter aufzeigt. Im Gegensatz zu einer Auffassung, die die zentralen Begriffe Freuds als stabile begriffliche Einheiten begreift, wird eine dynamische Perspektive entfaltet, die die Spuren des historischen Prozesses an den Texten selbst aufzeigt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2017Wenn Freud recht behält
Gelegentlich, schreibt Andreas Mayer in seinem Vorwort, "wird der populärkulturellen Dauerpräsenz psychoanalytischer Wissensbestände selbst eine reflexiv-kritische Funktion zugebilligt". Damit verweist der an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris unterrichtende österreichische Wissenschaftshistoriker auf jene Aneignung der Psychoanalyse Sigmund Freuds, wie sie, seit Alfred Hitchcock bis heute, nicht zuletzt in Filmen und Fernsehserien publikumswirksam stattfindet. Im selben Zug distanziert er sich nicht nur davon, sondern auch von einer Auseinandersetzung mit dem Freudschen Werk, die dessen Urheber in einer Art splendid isolation feiert - oder verwirft. Dass zudem eine längst nicht mehr überschaubare Menge von Sekundärliteratur die Zugänge zu Freuds Denken, das ja keinesfalls als konsistentes Theoriegebäude fassbar ist, mehr verstopft als erhellt, steht außer Frage. Für seine Einführung wählt Mayer den Weg, Freuds Forschungen und Denkbewegungen im Zusammenhang mit Vorgängern, Weggefährten und Widersachern zu erörtern. Er geht dabei in sieben Kapiteln vor, die in etwa einer Chronologie folgen: von den Anfängen des jungen Wiener Mediziners auf dem Gebiet der Neurologie über die "Traumdeutung" und die Libido-Theorie, die Massenpsychologie und den kühnen Entwurf einer Metapsychologie um "Eros und Thanatos" (den Todestrieb also) bis hin zum schwierigen "Dark Continent" der weiblichen Sexualität und endlich zum Konstrukt einer "Historischen Wahrheit", in dessen Kern die monotheistische Religion steht. Dabei wird evident, dass Freud, darin durchaus seiner Zeit verpflichtet, für sich nie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften unterschieden hat, so wenig wie zwischen Wissenschaft und Literatur. Andreas Mayer deckt immer wieder Brüche in Freuds Werk auf und zeigt Freuds Bestreben, seine Lehre im Brennpunkt einer prekären Moderne zu verteidigen. Denn nicht nur das einzelne Subjekt war mit Freuds epochaler Wende um seine Selbstgewissheit gebracht, alle tradierten kulturellen Werte standen am Abgrund der Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit höchster Sorgfalt und Achtung, wie sie einzig aus profunder Kenntnis erwachsen, geht Andreas Mayer mit dem Gegenstand seines Interesses um. So gibt er am Ende - vorausschickend "Wenn Freud recht behält" - zu bedenken, dass die Psychoanalyse "einem immer wieder von Neuem zu beginnenden Eroberungsfeldzug" gleiche, "in einem Gebiet, das von zahlreichen Unbekannten beherrscht wird". Wer ernsthaftes Interesse an Freud mitbringt, wird großen Erkenntnisgewinn aus diesem schmalen Buch ziehen.
rmg.
Andreas Mayer: "Sigmund Freud". Zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2017. 224 S., br., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gelegentlich, schreibt Andreas Mayer in seinem Vorwort, "wird der populärkulturellen Dauerpräsenz psychoanalytischer Wissensbestände selbst eine reflexiv-kritische Funktion zugebilligt". Damit verweist der an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris unterrichtende österreichische Wissenschaftshistoriker auf jene Aneignung der Psychoanalyse Sigmund Freuds, wie sie, seit Alfred Hitchcock bis heute, nicht zuletzt in Filmen und Fernsehserien publikumswirksam stattfindet. Im selben Zug distanziert er sich nicht nur davon, sondern auch von einer Auseinandersetzung mit dem Freudschen Werk, die dessen Urheber in einer Art splendid isolation feiert - oder verwirft. Dass zudem eine längst nicht mehr überschaubare Menge von Sekundärliteratur die Zugänge zu Freuds Denken, das ja keinesfalls als konsistentes Theoriegebäude fassbar ist, mehr verstopft als erhellt, steht außer Frage. Für seine Einführung wählt Mayer den Weg, Freuds Forschungen und Denkbewegungen im Zusammenhang mit Vorgängern, Weggefährten und Widersachern zu erörtern. Er geht dabei in sieben Kapiteln vor, die in etwa einer Chronologie folgen: von den Anfängen des jungen Wiener Mediziners auf dem Gebiet der Neurologie über die "Traumdeutung" und die Libido-Theorie, die Massenpsychologie und den kühnen Entwurf einer Metapsychologie um "Eros und Thanatos" (den Todestrieb also) bis hin zum schwierigen "Dark Continent" der weiblichen Sexualität und endlich zum Konstrukt einer "Historischen Wahrheit", in dessen Kern die monotheistische Religion steht. Dabei wird evident, dass Freud, darin durchaus seiner Zeit verpflichtet, für sich nie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften unterschieden hat, so wenig wie zwischen Wissenschaft und Literatur. Andreas Mayer deckt immer wieder Brüche in Freuds Werk auf und zeigt Freuds Bestreben, seine Lehre im Brennpunkt einer prekären Moderne zu verteidigen. Denn nicht nur das einzelne Subjekt war mit Freuds epochaler Wende um seine Selbstgewissheit gebracht, alle tradierten kulturellen Werte standen am Abgrund der Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit höchster Sorgfalt und Achtung, wie sie einzig aus profunder Kenntnis erwachsen, geht Andreas Mayer mit dem Gegenstand seines Interesses um. So gibt er am Ende - vorausschickend "Wenn Freud recht behält" - zu bedenken, dass die Psychoanalyse "einem immer wieder von Neuem zu beginnenden Eroberungsfeldzug" gleiche, "in einem Gebiet, das von zahlreichen Unbekannten beherrscht wird". Wer ernsthaftes Interesse an Freud mitbringt, wird großen Erkenntnisgewinn aus diesem schmalen Buch ziehen.
rmg.
Andreas Mayer: "Sigmund Freud". Zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2017. 224 S., br., 14,90 [Euro].
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