Kaum jemand hat ein ganzes Zeitalter durch sein Denken so tiefgreifend verändert wie Sigmund Freud. Nach Freud träumen und lieben, denken und phantasieren wir anders. Diese grandiose Biographie schildert Freuds Leben und die Entwicklung der Psychoanalyse als großen Roman des Geistes.
Wien im sinkenden 19. Jahrhundert: Eine bessere Kulisse für die Seelenleiden des modernen Menschen, für seine Existenzlügen und zerbrechenden Selbstbilder, als die prachtvoll morbide Hauptstadt des k.u.k.-Reiches ist kaum vorstellbar. Hier arbeitet der Nervenarzt Sigmund Freud an seinen bahnbrechenden Theorien zu Sexualität und Neurose, Traum und Unbewusstem, Familie und Gesellschaft, Märchen und Mythos. Peter-André Alt erzählt, gestützt auf unveröffentlichtes Material, von der Bewegung der Psychoanalyse, ihrem Siegeszug und ihren Niederlagen, und er portraitiert Freud als selbstkritischen Dogmatiker und wissenschaftlichen Eroberer, als jüdischen Atheisten und leidenschaftlichen Familienvater,als eminent gebildeten Leser und großen Schriftsteller, nicht zuletzt als einen Zerrissenen, der die Nöte der Seele, von denen die Psychoanalyse befreien sollte, selbst aus dunkler Erfahrung kannte.
Wien im sinkenden 19. Jahrhundert: Eine bessere Kulisse für die Seelenleiden des modernen Menschen, für seine Existenzlügen und zerbrechenden Selbstbilder, als die prachtvoll morbide Hauptstadt des k.u.k.-Reiches ist kaum vorstellbar. Hier arbeitet der Nervenarzt Sigmund Freud an seinen bahnbrechenden Theorien zu Sexualität und Neurose, Traum und Unbewusstem, Familie und Gesellschaft, Märchen und Mythos. Peter-André Alt erzählt, gestützt auf unveröffentlichtes Material, von der Bewegung der Psychoanalyse, ihrem Siegeszug und ihren Niederlagen, und er portraitiert Freud als selbstkritischen Dogmatiker und wissenschaftlichen Eroberer, als jüdischen Atheisten und leidenschaftlichen Familienvater,als eminent gebildeten Leser und großen Schriftsteller, nicht zuletzt als einen Zerrissenen, der die Nöte der Seele, von denen die Psychoanalyse befreien sollte, selbst aus dunkler Erfahrung kannte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016Nur kein Sex, wenn's um den Sexus geht
Und jetzt wird so richtig sublimiert: Peter-André Alt legt eine neue Biographie Sigmund Freuds mit einer steilen These vor
Nach den großen Freud-Biographien von Ernest Jones, Ronald W. Clark und Peter Gay sind keine Quellen mehr zum Vorschein gekommen, die unser Bild von Freud wesentlich verändert hätten. Es sind aber doch eine Fülle von neuen Details bekanntgeworden, kleinere Briefwechsel, Biographien und Autobiographien von Personen des Umkreises, Dokumente wie Freuds Patientenkalender oder Daten zur Institutionalisierung und Rezeption der Psychoanalyse. Allein auf der Ebene des Faktischen ließe sich also manches Neue sagen, manches präzisieren und korrigieren.
Die Biographie des Berliner Literaturwissenschaftlers Peter-André Alt möchte etwas in dieser Richtung leisten und hat es sich ferner zur Aufgabe gemacht, Verbindungen zwischen der Person Freuds, seiner Theorie, der psychoanalytischen Bewegung und der Kultur der Moderne herzustellen. Das voluminöse Werk widmet sich im ersten Fünftel der Zeit von der Kindheit bis zu den ersten Praxisjahren (1856 bis etwa 1890) und im letzten Fünftel dem späten Freud (1920 bis 1939). Den meisten Raum nimmt die Zeit ein, in der Freud die Psychoanalyse im engeren Sinn geschaffen hat.
Das Buch ist klug komponiert, die Streifzüge ins biographische, theorie- und bewegungsgeschichtliche Umfeld sind geschickt untergebracht. Der Text liest sich gut, abgesehen von gelegentlichen terminologischen Fehlgriffen ("Demenz" statt "Dementia praecox", "Gesprächstherapie" statt "Analyse") oder immanenten Widersprüchen in der Darstellung. Als Extra bietet Alt Einschübe über die Beziehungen Freuds zu Schriftstellern und über Verbindungen, die Freuds Texte zur schönen Literatur unterhalten.
Aber vor allem hat Alt eine originelle und kaum haltbare Hauptthese: Freud habe seine Sexualtheorie nur entwickeln können, weil er sexuell enthaltsam gelebt und mit seiner Frau Martha "nur zum Zweck des Zeugungsvorgangs" verkehrt habe. Verkehr allein zur Befriedigung habe er für "unnatürlich" gehalten, während der Verlobung abstinent gelebt, zeitlebens keine außereheliche sexuelle Beziehung unterhalten, keine "ungewöhnlichen Sexualpraktiken" ausgeübt, sich die Masturbation verboten und auch nach Marthas Menopause auf Geschlechtsverkehr verzichtet. Nur weil er seine Libido sublimiert habe, gelang ihm eine "geistige Erkenntnis des Sexus".
Grund der Enthaltsamkeit sei eine "panische Angst vor Empfängnisverhütung und dem Coitus interruptus" gewesen. Diese Angst habe ihn von der Schwägerin Minna Bernays, die mit im Haushalt lebte, ferngehalten: "die einzige Geliebte, mit der er sich abgab, blieb seine Arbeit". So schützte er sich vor Verführungen, auch vor Patientinnen, die ihn "schwer parfümiert" und mit "üppigem Schmuck" behangen zu "umgarnen suchten". Schließlich: Freud sei wegen seiner sexuellen Enthaltsamkeit oft krank gewesen, habe die Ursache jedoch ignoriert.
Freuds großes Werk beruhe, mit einem Wort, auf einer großen Sublimierung. Was ist das? Eine späte Reaktion auf das Achtundsechziger-Programm der sexuellen Befreiung? Eine neue Frömmigkeit, eine Art veganer Psychoanalyse? Und woher weiß Alt das alles? Er belegt seine These nicht, und sie lässt sich auch nicht belegen, weil wir kaum etwas über Freuds Sexualverhalten wissen. Von einer "panischen Angst" vor dem Coitus interruptus ist jedenfalls nichts bekannt. Hingegen wissen wir, dass Freud Sexualität ohne Zeugungsabsicht durchaus begrüßte, auch wenn er die damaligen Verhütungsmethoden als störend empfand.
Seiner Tochter Sophie, die keine Kinder mehr wollte, empfahl er die Einsetzung eines Pessars. Er sprach sich öffentlich für die Legalisierung von Mitteln zur Empfängnisverhütung aus und war begeistert, als sein Freund Wilhelm Fließ eine neue Verhütungsmethode gefunden zu haben glaubte: "Wenn es Dir gelänge, den vom Herrgott eingesetzten Koitus zu verbessern, so wäre alles andere ein Schmarren dagegen, und ich würde gerne nach Berlin kommen, mit Dir den Platz im Tiergarten auszusuchen, auf dem Du ,stehen' willst."
Alts besonderes Interesse gilt dem Privatleben, dem Alltag und der Person Freuds, weniger seinem Umfeld, seiner Theorie und Praxis und am wenigsten der psychoanalytischen Bewegung. Trotz des umfangreichen Apparats muss man sagen, dass seine Kenntnis der Forschungsliteratur begrenzt und seine Abhängigkeit von anderen Autoren größer ist, als es die Literaturhinweise erkennen lassen. Für viele faktische Aussagen fehlt jede Quellenangabe. Die Darlegungen zur Theorie sind zum Teil entstellend, und dass rezente Forschungsergebnisse über Freuds Praxis vernachlässigt werden, ist ein empfindliches Manko. Umgekehrt ist die Ankündigung des Verlags, die Biographie stütze sich auf unveröffentlichtes Material, um das Mindeste zu sagen, stark übertrieben: Fast alle Briefe, die Alt als "unpubliziert" anführt, sind in der gängigen Freud-Bibliographie als veröffentlicht verzeichnet; der Rest ist im Internet zugänglich. Die wenigen Dokumente, die man nicht kannte, lohnen kaum der Erwähnung.
Zuletzt noch eine kleine Auswahl aus der Vielzahl sachlicher Fehler: Den Begriff der "polymorph-perversen Sexualität" hat Freud nicht 1916/17 geprägt, sondern 1905; die Schrift "Zur Einführung des Narzissmus" wurde nicht während des Ersten Weltkriegs geschrieben, sondern davor; Ernest Jones, Felix Deutsch und Hermine Hug-Hellmuth waren nie bei Freud in Analyse; mit seinem als "Rattenmann" bekannt gewordenen Patienten hat sich Freud nicht "zuweilen" zu "gemeinsamen Abendessen" verabredet, sondern nie; Freud hat nicht "viele" Kriegsneurotiker gesehen, sondern keinen (der Fall, den Alt nennt, ist von Ferenczi); die Patientin, die er zu Hippolyte Bernheim nach Nancy mitnahm, war nicht Fanny von Sulzer-Wart, sondern Anna von Lieben; Karl Abraham versammelte seine Berliner Freud-Gruppe nicht im Oktober 1907 zum ersten Mal, sondern im August 1908; in der Aufzählung der an der Berliner Psychoanalytischen Poliklinik angestellten Ärzte sind von sieben Namen nur zwei korrekt.
Einem breiten Publikum mag dergleichen nicht wichtig erscheinen. Leser, die sich eine erste Vorstellung von Freud und der Psychoanalyse machen wollen, sollten sich aber bewusst bleiben, dass man dem Autor dieser Biographie nicht trauen kann. Nicht einmal die Aussage, dass sich Freud an Festtagen gern ein Stück Torte gönnte, ist wirklich gesichert.
ULRIKE MAY
Peter-André Alt: "Sigmund Freud". Der Arzt der Moderne. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 1036 S., Abb., geb., 34,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und jetzt wird so richtig sublimiert: Peter-André Alt legt eine neue Biographie Sigmund Freuds mit einer steilen These vor
Nach den großen Freud-Biographien von Ernest Jones, Ronald W. Clark und Peter Gay sind keine Quellen mehr zum Vorschein gekommen, die unser Bild von Freud wesentlich verändert hätten. Es sind aber doch eine Fülle von neuen Details bekanntgeworden, kleinere Briefwechsel, Biographien und Autobiographien von Personen des Umkreises, Dokumente wie Freuds Patientenkalender oder Daten zur Institutionalisierung und Rezeption der Psychoanalyse. Allein auf der Ebene des Faktischen ließe sich also manches Neue sagen, manches präzisieren und korrigieren.
Die Biographie des Berliner Literaturwissenschaftlers Peter-André Alt möchte etwas in dieser Richtung leisten und hat es sich ferner zur Aufgabe gemacht, Verbindungen zwischen der Person Freuds, seiner Theorie, der psychoanalytischen Bewegung und der Kultur der Moderne herzustellen. Das voluminöse Werk widmet sich im ersten Fünftel der Zeit von der Kindheit bis zu den ersten Praxisjahren (1856 bis etwa 1890) und im letzten Fünftel dem späten Freud (1920 bis 1939). Den meisten Raum nimmt die Zeit ein, in der Freud die Psychoanalyse im engeren Sinn geschaffen hat.
Das Buch ist klug komponiert, die Streifzüge ins biographische, theorie- und bewegungsgeschichtliche Umfeld sind geschickt untergebracht. Der Text liest sich gut, abgesehen von gelegentlichen terminologischen Fehlgriffen ("Demenz" statt "Dementia praecox", "Gesprächstherapie" statt "Analyse") oder immanenten Widersprüchen in der Darstellung. Als Extra bietet Alt Einschübe über die Beziehungen Freuds zu Schriftstellern und über Verbindungen, die Freuds Texte zur schönen Literatur unterhalten.
Aber vor allem hat Alt eine originelle und kaum haltbare Hauptthese: Freud habe seine Sexualtheorie nur entwickeln können, weil er sexuell enthaltsam gelebt und mit seiner Frau Martha "nur zum Zweck des Zeugungsvorgangs" verkehrt habe. Verkehr allein zur Befriedigung habe er für "unnatürlich" gehalten, während der Verlobung abstinent gelebt, zeitlebens keine außereheliche sexuelle Beziehung unterhalten, keine "ungewöhnlichen Sexualpraktiken" ausgeübt, sich die Masturbation verboten und auch nach Marthas Menopause auf Geschlechtsverkehr verzichtet. Nur weil er seine Libido sublimiert habe, gelang ihm eine "geistige Erkenntnis des Sexus".
Grund der Enthaltsamkeit sei eine "panische Angst vor Empfängnisverhütung und dem Coitus interruptus" gewesen. Diese Angst habe ihn von der Schwägerin Minna Bernays, die mit im Haushalt lebte, ferngehalten: "die einzige Geliebte, mit der er sich abgab, blieb seine Arbeit". So schützte er sich vor Verführungen, auch vor Patientinnen, die ihn "schwer parfümiert" und mit "üppigem Schmuck" behangen zu "umgarnen suchten". Schließlich: Freud sei wegen seiner sexuellen Enthaltsamkeit oft krank gewesen, habe die Ursache jedoch ignoriert.
Freuds großes Werk beruhe, mit einem Wort, auf einer großen Sublimierung. Was ist das? Eine späte Reaktion auf das Achtundsechziger-Programm der sexuellen Befreiung? Eine neue Frömmigkeit, eine Art veganer Psychoanalyse? Und woher weiß Alt das alles? Er belegt seine These nicht, und sie lässt sich auch nicht belegen, weil wir kaum etwas über Freuds Sexualverhalten wissen. Von einer "panischen Angst" vor dem Coitus interruptus ist jedenfalls nichts bekannt. Hingegen wissen wir, dass Freud Sexualität ohne Zeugungsabsicht durchaus begrüßte, auch wenn er die damaligen Verhütungsmethoden als störend empfand.
Seiner Tochter Sophie, die keine Kinder mehr wollte, empfahl er die Einsetzung eines Pessars. Er sprach sich öffentlich für die Legalisierung von Mitteln zur Empfängnisverhütung aus und war begeistert, als sein Freund Wilhelm Fließ eine neue Verhütungsmethode gefunden zu haben glaubte: "Wenn es Dir gelänge, den vom Herrgott eingesetzten Koitus zu verbessern, so wäre alles andere ein Schmarren dagegen, und ich würde gerne nach Berlin kommen, mit Dir den Platz im Tiergarten auszusuchen, auf dem Du ,stehen' willst."
Alts besonderes Interesse gilt dem Privatleben, dem Alltag und der Person Freuds, weniger seinem Umfeld, seiner Theorie und Praxis und am wenigsten der psychoanalytischen Bewegung. Trotz des umfangreichen Apparats muss man sagen, dass seine Kenntnis der Forschungsliteratur begrenzt und seine Abhängigkeit von anderen Autoren größer ist, als es die Literaturhinweise erkennen lassen. Für viele faktische Aussagen fehlt jede Quellenangabe. Die Darlegungen zur Theorie sind zum Teil entstellend, und dass rezente Forschungsergebnisse über Freuds Praxis vernachlässigt werden, ist ein empfindliches Manko. Umgekehrt ist die Ankündigung des Verlags, die Biographie stütze sich auf unveröffentlichtes Material, um das Mindeste zu sagen, stark übertrieben: Fast alle Briefe, die Alt als "unpubliziert" anführt, sind in der gängigen Freud-Bibliographie als veröffentlicht verzeichnet; der Rest ist im Internet zugänglich. Die wenigen Dokumente, die man nicht kannte, lohnen kaum der Erwähnung.
Zuletzt noch eine kleine Auswahl aus der Vielzahl sachlicher Fehler: Den Begriff der "polymorph-perversen Sexualität" hat Freud nicht 1916/17 geprägt, sondern 1905; die Schrift "Zur Einführung des Narzissmus" wurde nicht während des Ersten Weltkriegs geschrieben, sondern davor; Ernest Jones, Felix Deutsch und Hermine Hug-Hellmuth waren nie bei Freud in Analyse; mit seinem als "Rattenmann" bekannt gewordenen Patienten hat sich Freud nicht "zuweilen" zu "gemeinsamen Abendessen" verabredet, sondern nie; Freud hat nicht "viele" Kriegsneurotiker gesehen, sondern keinen (der Fall, den Alt nennt, ist von Ferenczi); die Patientin, die er zu Hippolyte Bernheim nach Nancy mitnahm, war nicht Fanny von Sulzer-Wart, sondern Anna von Lieben; Karl Abraham versammelte seine Berliner Freud-Gruppe nicht im Oktober 1907 zum ersten Mal, sondern im August 1908; in der Aufzählung der an der Berliner Psychoanalytischen Poliklinik angestellten Ärzte sind von sieben Namen nur zwei korrekt.
Einem breiten Publikum mag dergleichen nicht wichtig erscheinen. Leser, die sich eine erste Vorstellung von Freud und der Psychoanalyse machen wollen, sollten sich aber bewusst bleiben, dass man dem Autor dieser Biographie nicht trauen kann. Nicht einmal die Aussage, dass sich Freud an Festtagen gern ein Stück Torte gönnte, ist wirklich gesichert.
ULRIKE MAY
Peter-André Alt: "Sigmund Freud". Der Arzt der Moderne. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 1036 S., Abb., geb., 34,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Unterhaltsame Details, viel Klatsch und Tratsch und einige schwächelnde Deutungen - mehr neues kann Rezensentin Andrea Rödig der Freud-Biografie von Peter-André Alt nicht entnehmen. Warum er sich nach seinen zahlreichen Vorgängern all die Mühe gemacht hat, sein durchaus beeindruckend umfangreiches Material zusammenzutragen und auszuwerten, bleibt ihr nach der Lektüre schleierhaft. "Küchenpsychologie" nennt sie Alts Kernthese, laut der Freud seine Trieblehre nur deshalb entwickeln konnte, weil er sich selbst die Erfüllung aller sexuellen Triebe untersagte. Genau wie seine Thesen sei auch Alts "süffiger Stil" nicht wirklich präzise, vieles bleibe im Unklaren, in verschwommene Phrasen gehüllt. Loben muss sie bei aller Kritik allerdings den Unterhaltungsfaktor des 1,3 kg schweren Wälzers, der sich fast wie ein Roman lese.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.12.2016Auf den Spuren eines Geistesverreisten
„Ich freue mich schon, wie die sich irren werden“, schrieb Sigmund Freud boshaft über seine künftigen Biografen. Zu denen gehört jetzt auch der Germanist Peter-André Alt
Immer musste er dorthin zurück, in die „Frühzeit“, die „Vorgeschichte“, die „Prähistorie“, in die Kindheit der Kultur, die Kindheit des Menschen – und an den Ort seiner eigenen Kindheit, deren vorzeitiger Abbruch ihm als „Katastrophe“ in Erinnerung blieb. „Trost“ suchte und fand der Begründer der Psychoanalyse in der Beschäftigung mit Archäologie: als Spurenleser, als Sammler und auf Reisen nach dem Süden, wohin „unser Herz zeigt“: Nach Rom, Athen und „Montelibre“, wie Sigmund Freuds Jugendbriefe den mährischen Geburtsort Freiberg in das Idiom einer Privatmythologie übersetzten. Zeitlebens habe er „eigentlich mehr Archäologie als Psychologie gelesen“, bekannte noch der 75-Jährige gegenüber Stefan Zweig
Freiberg liegt zwischen sanften Hügeln und grünen Wiesen bei dem Flüsschen Lubina, nahe dem Quell der Oder, und heißt auf Tschechisch Příbor, was etymologisch „bei den Ruinen“ bedeutet. Unterhalb der Burgruine des Nachbarorts Hukvaldy (Hochwald) pflegte der junge Freud sich bei Anflügen von Liebeskummer und Melancholie zu ergehen. Seine Sommerfrischen verbrachte er wiederholt in der alten Heimat unter dem Dach der befreundeten Familie Fluss – nomen est fluvium! –, in deren Tochter Gisela sich der 16-Jährige verliebte. Nachzulesen ist das alles in bezaubernden Jugendbriefen an den Freund Eduard Silberstein (vor Jahren ediert von Walter Boehlich): Sie sind voller Poesie und zeigen uns Freud als frühen Meister der sprachlichen Maskierung – bis die verzückte Feder des abiturreifen Jünglings unter dem Eindruck von Liebesnöten dramatischen Abschied vom Zauberblock seines mährischen Paradieses nimmt: „Hiermit endet diese Formation, hier versenke ich den Zauberstab“, schreibt er an Silberstein, „eine neue Zeit breche herein, die keiner Poesie und Phantasie bedarf.“
Von wegen! Vom Zauberstab der Poesie und Phantasie kam der künftige Seelenarzt und begnadete Prosaautor ebenso wenig los wie von den Spuren seiner Kindheit. Sie wurden zum Objekt fortdauernder Selbstanalyse, die mit der Begründung einer neuen Wissenschaft einhergeht: der Psychoanalyse. Gespickt mit archäologischen Metaphern sind noch die Worte, die der schwerkranke Jubilar durch seine Tochter Anna vor Ort verlauten ließ, als die Gemeinde von Příbor im Jahr 1931 zur Feier von Freuds 75. Geburtstag am einstigen Elternhaus eine Gedenktafel anbringen ließ. „Es wird dem nun Fünfundsiebzigjährigen nicht leicht, sich in jene Frühzeit zu versetzen, aus deren reichem Inhalt nur wenige Reste in seine Erinnerung hineinragen, aber des einen darf ich sicher sein: tief in mir, überlagert, lebt noch immer fort das glückliche Freiberger Kind, der erstgeborene Sohn einer jugendlichen Mutter.“
So weit ist auszuholen, um zu ermessen, woran die neue Freud-Biografie des Berliner Germanisten Peter-André Alt in ihrer Gesamtanlage krankt. Wenn es nach hundert Jahren Freud-Biografik und nach den kanonischen Werken von Ernest Jones, Ronald Clark und Peter Gay überhaupt noch Neuland zu gewinnen gäbe, dann in Anbetracht von Freuds Kinderjahren. Hier noch mal anzusetzen und an Freuds Selbstaussagen das Rüstzeug des Philologen anzulegen, bliebe ein Desiderat.
Doch nur magere elf von rund tausend Seiten widmet Alt den Kindes- und Jugendjahren jenes Forschers, der mit der Entdeckung der infantilen Sexualität das Bild der Kindheit revolutioniert hatte, indem er den Eindrücken, Erfahrungen und auch Wunden der ersten vier oder fünf Lebensjahre die Prägung tiefer Spuren im Seelenleben noch des Erwachsenen beimaß. Indem Alt die Bedeutung von Freuds Kindheit und Jugend marginalisiert, tritt er in sämtliche Fallen, die sein Held schon in jungen Jahren ausgelegt hatte, als er seiner Verlobten, Martha Bernays, mit vorauseilender Schadenfreude schrieb: „Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ‚Entwicklung des Helden‘ recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden.“
Dies war Freuds Kommentar zu einem ersten mehrerer Autodafés, die er jenem Teil seiner Schriften, Notate und Briefe bereitete, die er neugierigen Augen für immer entzogen wissen wollte.
Als Schicksal so vieler Gelehrtenbiografien betritt mit dem Freud, wie Alt ihn sieht, ein beinahe Fertiger und vorzeitig Gereifter die Bühne, ein Büchermensch, der niemals jung und leichtsinnig, sondern schon immer altklug war: Wie die vergilbte Ikone eines Patriarchen mit grauem Vollbart und phallokratisch gespreizter Zigarre ziert er den Einband. Als wollten Autor und Verlag ein Hausbuch in der Nachfolge von Axel Munthes „Der Arzt von San Michele“ stiften, trägt das Buch den privatpatiententauglichen Untertitel „Der Arzt der Moderne“. Genitivus obiectivus oder subiectivus? Freud, ein Mann des 19. Jahrhunderts, taugt weder zum Sanitäter von Modernitätsschäden noch zum Notarzt einer entgleisten Moderne.
Dabei kommt die heute gut erforschte Praxis des Seelenarztes in Alts Darstellung viel zu kurz. Für die Wiener Ringstraßenbaronesse Anna von Lieben, alias „Cäcilie M.“, die Freud seine „Lehrmeisterin“ nannte und mit der er die klassische „Liegekur“ erprobte, hat Alt beispielsweise acht dürftige Zeilen übrig. Und fatalerweise hat er sich in Freuds Selbstzeugnissen verfangen: Mit der Fülle von Selbstäußerungen in Briefen, autobiografischen Schriften und über die achtzehn Bände seiner Gesammelten Werke verstreuten Reminiszenzen, deren er sich gerne als Fallbeispiele bedient, kontrastiert Freuds ebenfalls überlieferte Verschwiegenheit, seine gerade im kollegialen Umgang geübte Verweigerung von Auskünften aus dem Intimleben, dessen Preisgabe der Meister von seinen Schülern hingegen verlangte.
Den Zwischenraum der widerstrebenden Pole wusste Freud mit dem hochgradig kontrollierten Selbstbild eines Gelehrten zu füllen, der sein Leben ausschließlich der Wissenschaft verschrieben und dafür jede Entbehrung auf sich genommen hat. Dieses Selbstbild, entworfen von einem Meister der Enträtselung – folglich auch Verrätselung – und Experten für die „sekundäre Bearbeitung“ psychischen Materials, scheint nahtlos – und schon deshalb allzu plakativ – zu Freuds Kulturtheorie der Triebsublimierung zu passen; nur lässt es alle zugehörigen Dramen und Konflikte außen vor, weil diese weder die Mit- noch die Nachwelt etwas angehen sollen.
Dieses Freud’sche Selbstbild geht frühzeitig – schon aus Gründen der nackten Existenzsicherung – an die Adresse der akademischen Welt, die dem Neuerer und Juden gegenüber nie sonderlich zugeneigt war. Freud war dies zeitlebens eine Kränkung, gegen die er vergeblich ankämpfte.
Wenn Alt seinen Freud nunmehr posthum akademisch eingemeindet, als wolle er ihn habilitieren, so geht er jenem Bild eines allzeit Entsagenden auf den Leim. Unter Verzicht auf jede Quellenkritik, die dem Philologen anstünde, nimmt er Freuds Selbstaussagen für bare Münze und minimiert von vornherein die Bedeutung jenes anderen Freud, der sich in seiner Jugend einer „Fülle von Erregungen“ ausgesetzt sah. Seiner Schülerin Lou Andreas-Salomé schreibt Freud in einem Brief, dass alles, „was allgemein erregt, auch Sexualerregung“ hervorbringe. Alt verkennt, dass Freud hier einen weit umfassenderen Begriff von „Psycho-Sexualität“ im Sinn hat.
Für Freud, der sich auch zu Hause in Wien gerne für „geistesverreist“ erklärte, blieb es auch nicht bei bloß „gelegentlich(en)“ Ausflügen aus der Sesshaftigkeit; noch weniger betrachtet er seine Italienreisen wie ein geplagter deutscher Ordinarius als „Urlaub“: Es waren Ferien im altlateinischen Sinn, weswegen das Reisen an Freuds Seite – den Stiefel der Apenninenhalbinsel hinab und wieder hinauf – für seine Begleiter ein eher strapaziöses Geschäft gewesen sein muss.
Schwerer noch fällt ins Gewicht, dass Alt seinen Freud einer vermeintlich selbstgewählten „Diktatur der Enthaltsamkeit“ unterwirft. Was Freud an einem Punkt seines Lebens eine womöglich persönliche Option war – wir wissen es nicht und wollen es so genau auch nicht wissen –, dehnt Alt zur Direktive an die übrige Menschheit aus: Von der Freud unterstellten Verabscheuung der Masturbation und jedweder Empfängnisverhütung bis hin zur angeblich vollständigen Ablehnung allen Sexualverhaltens, welches nicht der Fortpflanzung diene, entwirft Alt das freudlose Bild eines Mannes, päpstlicher, strenger, lustfeindlicher noch als weiland Papst Paul VI., der immerhin „natürliche“ Methoden der Empfängnisverhütung guthieß. Ganz peinlich wird es, wenn Alt, über die unphilosophische Hintertreppe der Berggasse 19, in Freuds Privatgemächer steigt, um dort die Schubladen, Kleiderschränke und sogar die Betten zu durchstöbern – wie der allwissende Erzähler eines Familienromans.
Da, wo im Lichte gesteigerter Aufmerksamkeit für sexuelle Gewalt gegenüber Kindern eine nähere Betrachtung gefragt gewesen wäre, stiehlt Alt sich im Blick auf Freuds umstrittene „Verführungstheorie“ verlegen aus der Affäre: Der Legende, Freud habe aus nacktem Opportunismus die Entdeckung zurückgenommen, wonach Kindeserfahrungen von Verführung und Missbrauch als traumatische Quellen späterer psychischer Leiden anzusehen seien, setzt Alt eine neue Dogmatik entgegen. Dabei hatte Freud lediglich die apodiktische Behauptung zurückgenommen, Kindesmissbrauch ginge einem jeden Fall – nach damaligem Sprachgebrauch – „hysterischer“ Symptombildung voraus.
Verdienstvoll ist die stupende Belesenheit des Biografen, auch kommen Alt manch kluge Gedanken, die zu geschliffenen Formulierungen führen, so am Eingang gleich diese, wonach „die Netze der neuen Theorie aus dem intimsten persönlichen Erfahrungsmaterial ihres Begründers gewebt“ wurden, was sie „in die Nähe der Kunst“ rücke. Hätte Alt dies doch ernst genommen, statt dem Leser einen altbackenen Doktor Freud aufzutischen, der sich unter Ausschluss von Literatur und Kunst, von Poesie und Sinnlichkeit zur trockenen Wissenschaft als der – wie er tatsächlich einmal schrieb – „vollkommenste(n) Lossagung vom Lustprinzip“ bekannt habe. Kein Wunder, dass der andere, der abenteuerlustige Freud so oft auf Reisen ging oder einfach „geistesverreist“ war, weshalb wir ihm ein Werk verdanken, das zur besten und schönsten deutschsprachigen Prosa gehört, die im vergangenen Jahrhundert geschrieben worden ist.
VOLKER BREIDECKER
Als Meister der Enträtselung war
Sigmund Freud natürlich auch
ein Meister der Verrätselung
Alt unterwirft seinen Freud einer
vermeintlich selbstgewählten
„Diktatur der Enthaltsamkeit“
Peter-André Alt: Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne. Eine Biographie. C. H. Beck Verlag, München 2016. 1036 Seiten, 34,95 Euro. E-Book 29,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Ich freue mich schon, wie die sich irren werden“, schrieb Sigmund Freud boshaft über seine künftigen Biografen. Zu denen gehört jetzt auch der Germanist Peter-André Alt
Immer musste er dorthin zurück, in die „Frühzeit“, die „Vorgeschichte“, die „Prähistorie“, in die Kindheit der Kultur, die Kindheit des Menschen – und an den Ort seiner eigenen Kindheit, deren vorzeitiger Abbruch ihm als „Katastrophe“ in Erinnerung blieb. „Trost“ suchte und fand der Begründer der Psychoanalyse in der Beschäftigung mit Archäologie: als Spurenleser, als Sammler und auf Reisen nach dem Süden, wohin „unser Herz zeigt“: Nach Rom, Athen und „Montelibre“, wie Sigmund Freuds Jugendbriefe den mährischen Geburtsort Freiberg in das Idiom einer Privatmythologie übersetzten. Zeitlebens habe er „eigentlich mehr Archäologie als Psychologie gelesen“, bekannte noch der 75-Jährige gegenüber Stefan Zweig
Freiberg liegt zwischen sanften Hügeln und grünen Wiesen bei dem Flüsschen Lubina, nahe dem Quell der Oder, und heißt auf Tschechisch Příbor, was etymologisch „bei den Ruinen“ bedeutet. Unterhalb der Burgruine des Nachbarorts Hukvaldy (Hochwald) pflegte der junge Freud sich bei Anflügen von Liebeskummer und Melancholie zu ergehen. Seine Sommerfrischen verbrachte er wiederholt in der alten Heimat unter dem Dach der befreundeten Familie Fluss – nomen est fluvium! –, in deren Tochter Gisela sich der 16-Jährige verliebte. Nachzulesen ist das alles in bezaubernden Jugendbriefen an den Freund Eduard Silberstein (vor Jahren ediert von Walter Boehlich): Sie sind voller Poesie und zeigen uns Freud als frühen Meister der sprachlichen Maskierung – bis die verzückte Feder des abiturreifen Jünglings unter dem Eindruck von Liebesnöten dramatischen Abschied vom Zauberblock seines mährischen Paradieses nimmt: „Hiermit endet diese Formation, hier versenke ich den Zauberstab“, schreibt er an Silberstein, „eine neue Zeit breche herein, die keiner Poesie und Phantasie bedarf.“
Von wegen! Vom Zauberstab der Poesie und Phantasie kam der künftige Seelenarzt und begnadete Prosaautor ebenso wenig los wie von den Spuren seiner Kindheit. Sie wurden zum Objekt fortdauernder Selbstanalyse, die mit der Begründung einer neuen Wissenschaft einhergeht: der Psychoanalyse. Gespickt mit archäologischen Metaphern sind noch die Worte, die der schwerkranke Jubilar durch seine Tochter Anna vor Ort verlauten ließ, als die Gemeinde von Příbor im Jahr 1931 zur Feier von Freuds 75. Geburtstag am einstigen Elternhaus eine Gedenktafel anbringen ließ. „Es wird dem nun Fünfundsiebzigjährigen nicht leicht, sich in jene Frühzeit zu versetzen, aus deren reichem Inhalt nur wenige Reste in seine Erinnerung hineinragen, aber des einen darf ich sicher sein: tief in mir, überlagert, lebt noch immer fort das glückliche Freiberger Kind, der erstgeborene Sohn einer jugendlichen Mutter.“
So weit ist auszuholen, um zu ermessen, woran die neue Freud-Biografie des Berliner Germanisten Peter-André Alt in ihrer Gesamtanlage krankt. Wenn es nach hundert Jahren Freud-Biografik und nach den kanonischen Werken von Ernest Jones, Ronald Clark und Peter Gay überhaupt noch Neuland zu gewinnen gäbe, dann in Anbetracht von Freuds Kinderjahren. Hier noch mal anzusetzen und an Freuds Selbstaussagen das Rüstzeug des Philologen anzulegen, bliebe ein Desiderat.
Doch nur magere elf von rund tausend Seiten widmet Alt den Kindes- und Jugendjahren jenes Forschers, der mit der Entdeckung der infantilen Sexualität das Bild der Kindheit revolutioniert hatte, indem er den Eindrücken, Erfahrungen und auch Wunden der ersten vier oder fünf Lebensjahre die Prägung tiefer Spuren im Seelenleben noch des Erwachsenen beimaß. Indem Alt die Bedeutung von Freuds Kindheit und Jugend marginalisiert, tritt er in sämtliche Fallen, die sein Held schon in jungen Jahren ausgelegt hatte, als er seiner Verlobten, Martha Bernays, mit vorauseilender Schadenfreude schrieb: „Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ‚Entwicklung des Helden‘ recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden.“
Dies war Freuds Kommentar zu einem ersten mehrerer Autodafés, die er jenem Teil seiner Schriften, Notate und Briefe bereitete, die er neugierigen Augen für immer entzogen wissen wollte.
Als Schicksal so vieler Gelehrtenbiografien betritt mit dem Freud, wie Alt ihn sieht, ein beinahe Fertiger und vorzeitig Gereifter die Bühne, ein Büchermensch, der niemals jung und leichtsinnig, sondern schon immer altklug war: Wie die vergilbte Ikone eines Patriarchen mit grauem Vollbart und phallokratisch gespreizter Zigarre ziert er den Einband. Als wollten Autor und Verlag ein Hausbuch in der Nachfolge von Axel Munthes „Der Arzt von San Michele“ stiften, trägt das Buch den privatpatiententauglichen Untertitel „Der Arzt der Moderne“. Genitivus obiectivus oder subiectivus? Freud, ein Mann des 19. Jahrhunderts, taugt weder zum Sanitäter von Modernitätsschäden noch zum Notarzt einer entgleisten Moderne.
Dabei kommt die heute gut erforschte Praxis des Seelenarztes in Alts Darstellung viel zu kurz. Für die Wiener Ringstraßenbaronesse Anna von Lieben, alias „Cäcilie M.“, die Freud seine „Lehrmeisterin“ nannte und mit der er die klassische „Liegekur“ erprobte, hat Alt beispielsweise acht dürftige Zeilen übrig. Und fatalerweise hat er sich in Freuds Selbstzeugnissen verfangen: Mit der Fülle von Selbstäußerungen in Briefen, autobiografischen Schriften und über die achtzehn Bände seiner Gesammelten Werke verstreuten Reminiszenzen, deren er sich gerne als Fallbeispiele bedient, kontrastiert Freuds ebenfalls überlieferte Verschwiegenheit, seine gerade im kollegialen Umgang geübte Verweigerung von Auskünften aus dem Intimleben, dessen Preisgabe der Meister von seinen Schülern hingegen verlangte.
Den Zwischenraum der widerstrebenden Pole wusste Freud mit dem hochgradig kontrollierten Selbstbild eines Gelehrten zu füllen, der sein Leben ausschließlich der Wissenschaft verschrieben und dafür jede Entbehrung auf sich genommen hat. Dieses Selbstbild, entworfen von einem Meister der Enträtselung – folglich auch Verrätselung – und Experten für die „sekundäre Bearbeitung“ psychischen Materials, scheint nahtlos – und schon deshalb allzu plakativ – zu Freuds Kulturtheorie der Triebsublimierung zu passen; nur lässt es alle zugehörigen Dramen und Konflikte außen vor, weil diese weder die Mit- noch die Nachwelt etwas angehen sollen.
Dieses Freud’sche Selbstbild geht frühzeitig – schon aus Gründen der nackten Existenzsicherung – an die Adresse der akademischen Welt, die dem Neuerer und Juden gegenüber nie sonderlich zugeneigt war. Freud war dies zeitlebens eine Kränkung, gegen die er vergeblich ankämpfte.
Wenn Alt seinen Freud nunmehr posthum akademisch eingemeindet, als wolle er ihn habilitieren, so geht er jenem Bild eines allzeit Entsagenden auf den Leim. Unter Verzicht auf jede Quellenkritik, die dem Philologen anstünde, nimmt er Freuds Selbstaussagen für bare Münze und minimiert von vornherein die Bedeutung jenes anderen Freud, der sich in seiner Jugend einer „Fülle von Erregungen“ ausgesetzt sah. Seiner Schülerin Lou Andreas-Salomé schreibt Freud in einem Brief, dass alles, „was allgemein erregt, auch Sexualerregung“ hervorbringe. Alt verkennt, dass Freud hier einen weit umfassenderen Begriff von „Psycho-Sexualität“ im Sinn hat.
Für Freud, der sich auch zu Hause in Wien gerne für „geistesverreist“ erklärte, blieb es auch nicht bei bloß „gelegentlich(en)“ Ausflügen aus der Sesshaftigkeit; noch weniger betrachtet er seine Italienreisen wie ein geplagter deutscher Ordinarius als „Urlaub“: Es waren Ferien im altlateinischen Sinn, weswegen das Reisen an Freuds Seite – den Stiefel der Apenninenhalbinsel hinab und wieder hinauf – für seine Begleiter ein eher strapaziöses Geschäft gewesen sein muss.
Schwerer noch fällt ins Gewicht, dass Alt seinen Freud einer vermeintlich selbstgewählten „Diktatur der Enthaltsamkeit“ unterwirft. Was Freud an einem Punkt seines Lebens eine womöglich persönliche Option war – wir wissen es nicht und wollen es so genau auch nicht wissen –, dehnt Alt zur Direktive an die übrige Menschheit aus: Von der Freud unterstellten Verabscheuung der Masturbation und jedweder Empfängnisverhütung bis hin zur angeblich vollständigen Ablehnung allen Sexualverhaltens, welches nicht der Fortpflanzung diene, entwirft Alt das freudlose Bild eines Mannes, päpstlicher, strenger, lustfeindlicher noch als weiland Papst Paul VI., der immerhin „natürliche“ Methoden der Empfängnisverhütung guthieß. Ganz peinlich wird es, wenn Alt, über die unphilosophische Hintertreppe der Berggasse 19, in Freuds Privatgemächer steigt, um dort die Schubladen, Kleiderschränke und sogar die Betten zu durchstöbern – wie der allwissende Erzähler eines Familienromans.
Da, wo im Lichte gesteigerter Aufmerksamkeit für sexuelle Gewalt gegenüber Kindern eine nähere Betrachtung gefragt gewesen wäre, stiehlt Alt sich im Blick auf Freuds umstrittene „Verführungstheorie“ verlegen aus der Affäre: Der Legende, Freud habe aus nacktem Opportunismus die Entdeckung zurückgenommen, wonach Kindeserfahrungen von Verführung und Missbrauch als traumatische Quellen späterer psychischer Leiden anzusehen seien, setzt Alt eine neue Dogmatik entgegen. Dabei hatte Freud lediglich die apodiktische Behauptung zurückgenommen, Kindesmissbrauch ginge einem jeden Fall – nach damaligem Sprachgebrauch – „hysterischer“ Symptombildung voraus.
Verdienstvoll ist die stupende Belesenheit des Biografen, auch kommen Alt manch kluge Gedanken, die zu geschliffenen Formulierungen führen, so am Eingang gleich diese, wonach „die Netze der neuen Theorie aus dem intimsten persönlichen Erfahrungsmaterial ihres Begründers gewebt“ wurden, was sie „in die Nähe der Kunst“ rücke. Hätte Alt dies doch ernst genommen, statt dem Leser einen altbackenen Doktor Freud aufzutischen, der sich unter Ausschluss von Literatur und Kunst, von Poesie und Sinnlichkeit zur trockenen Wissenschaft als der – wie er tatsächlich einmal schrieb – „vollkommenste(n) Lossagung vom Lustprinzip“ bekannt habe. Kein Wunder, dass der andere, der abenteuerlustige Freud so oft auf Reisen ging oder einfach „geistesverreist“ war, weshalb wir ihm ein Werk verdanken, das zur besten und schönsten deutschsprachigen Prosa gehört, die im vergangenen Jahrhundert geschrieben worden ist.
VOLKER BREIDECKER
Als Meister der Enträtselung war
Sigmund Freud natürlich auch
ein Meister der Verrätselung
Alt unterwirft seinen Freud einer
vermeintlich selbstgewählten
„Diktatur der Enthaltsamkeit“
Peter-André Alt: Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne. Eine Biographie. C. H. Beck Verlag, München 2016. 1036 Seiten, 34,95 Euro. E-Book 29,99 Euro.
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"Großartige Biografie."
Joachim Koch, Deutsches Ärzteblatt, Heft 3, März 2017
"Die sorgfältige Verortung Freuds in der Geschichte der Literatur, der Philosophie und der Psychiatrie macht die Stärke dieses Buches aus."
Manfred Koch, NZZ am Sonntag, 29. Januar 2017
"Grandiose Biographie."
Dr. med. Mabuse, 13. November 2016
"Spannende Biografie."
Für Sie, 26. September 2016
Joachim Koch, Deutsches Ärzteblatt, Heft 3, März 2017
"Die sorgfältige Verortung Freuds in der Geschichte der Literatur, der Philosophie und der Psychiatrie macht die Stärke dieses Buches aus."
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Dr. med. Mabuse, 13. November 2016
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Für Sie, 26. September 2016