Feinfühlig und genau erzählt Ricarda Junge von Menschen, die sich in der Widersprüchlichkeit der Welt nur ebenso widersprüchlich einzurichten verstehen. In einer klaren Sprache fertigt sie Momentaufnahmen von großer Tiefenschärfe, die jedes beschauliche Postkartenformat sprengen, weil sie unserer Gegenwart zu nah sind.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.01.2003Nach dem Pop
Ausweitung der Raucherecke:
Ricarda Junges Erzählungen
„Ich habe Barenberg das Rauchen beigebracht, dass man Alkohol trinkt und mit Frauen schläft, ohne sie zu lieben.” Die Erzählerinnen in Ricarda Junges Debütband „Silberfaden” geben sich ordentlich Mühe mit dem Verruchtsein. Neben den traditionellen Accessoires – Zigaretten, Whisky, Männer – verlieben sie sich auch in Frauen und haben dann manchmal Sex mit deren Freunden. Vor allem arbeiten sie an einer abgeklärten Sicht der Dinge: Sie studiere BWL, weil man keine Politiker mehr brauche, erklärt die Protagonistin der zweiten Erzählung dem Teetrinker Barenberg. Und eine Geschichte weiter: „Jede Frau ist Konkurrenz”, sagt Lila zu ihrer Freundin Mareile, die es auf denselben Mann abgesehen hat. Und noch ein paar Geschichten weiter: Eine junge Frau igelt sich mit ihrer Smith and Wesson ein, so lange, bis ein junger Mann auftaucht, der noch autistischer zu sein scheint als sie selbst. Die Welt ist ein gemeiner Ort, voll von Verrat, klumpigem Schnee, Eltern, die im Haus verbrennen, oder Gefriertruhen, die angefüllt sind mit Hühnerleichen – Schlüsselmobiliar, das nichts Gutes erhoffen lässt.
Das Misstrauen gegenüber Idealismus, Ironie und Blümchensex wiederholt sich auf der formalen Ebene: Hauptsatz reiht sich an Hauptsatz, so lakonisch, dass nur für das Allernötigste Platz bleibt. „Wir hatten sehr viel Zeit und sehr viel Strand. Der Atlantik war ein Silberfaden zwischen Norden und Süden. Im Süden steht die amerikanische Flagge auf einer Sandzunge. Wir schauten zu ihr auf und rauchten Zigaretten. Kate sagte, wir lieben dieses Land. Ich sagte, ich liebe dich.” Ricarda Junge verzichtet auf das popliterarische Wir-Gefühl, das den Wiedererkennungsreflex der Zwanzig- bis Dreißigjährigen mit Kleidermarken oder Musikstilen bedient. Ihre Figuren sind bitterernste Einzelgängerinnen, weibliche Steppenwölfe, die etwas suchen, das nicht mit einem Gemeinschaftserlebnis verrechenbar ist.
Ganz nah dran
Dennoch ist der Gestus der Erzählungen geprägt vom Authentizitätstrend der letzten Jahre: Was andere mit der Inventarisierung der Gegenwart erreichen wollten, versucht Ricarda Junge, Jahrgang 1979 und Studentin des Leipziger Literaturinstituts, mit Hilfe eines reduktionistischen Stils, der scheinbar ganz nah dran ist am Leben. Aber diese Gier nach echten Gefühlen – „man soll saufen und rauchen und koksen” – lässt sich nur schlecht durch die Nachahmung ihrer typischen Handbewegungen einfangen. Das betont geradlinige Erzählen gerät zur Pose, weil es dem Alltag, gegen den die wütenden Heldinnen ankämpfen, nichts hinzufügen kann. Je einsilbiger von den Ausbruchsversuchen berichtet wird, desto weniger gelingt die Distanzierung von den Grautönen: Die Erzählungen gehen auf in der Wirklichkeit, die sie beschreiben, und die jungen Frauen sind stocknüchtern, obwohl sie sich nach dem Rausch als Lebensprinzip sehnen.
Auffällig ist, dass „Silberfaden” zu einem Zeitpunkt veröffentlicht wird, in dem das Ende der Spaßgesellschaft, der Popliteratur, der New Economy und anderer Lifestyleprodukte längst verkündet ist. Aber es wäre zu einfach, den Ernst dieser Erzählungen als Aufbruch in eine Post-Pop-Ära zu verstehen. Diese Ichs sind keine Antipoden zum Wir der Generation Golf, sondern ihre Ergänzung. Zwar ist Schluss mit lustig, aber der „Silberfaden” am Horizont lässt nicht auf eine neue Erzählhaltung hoffen, die dem Gestus des Authentischen etwas entgegensetzen könnte. Das unmittelbare Sichtfeld wird in genauen Beobachtungen festgehalten, nicht weniger, aber auch nicht mehr. JUTTA PERSON
RICARDA JUNGE: Silberfaden. Erzählungen. Collection S. Fischer, Frankfurt am Main 2002. 188 Seiten, 12 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ausweitung der Raucherecke:
Ricarda Junges Erzählungen
„Ich habe Barenberg das Rauchen beigebracht, dass man Alkohol trinkt und mit Frauen schläft, ohne sie zu lieben.” Die Erzählerinnen in Ricarda Junges Debütband „Silberfaden” geben sich ordentlich Mühe mit dem Verruchtsein. Neben den traditionellen Accessoires – Zigaretten, Whisky, Männer – verlieben sie sich auch in Frauen und haben dann manchmal Sex mit deren Freunden. Vor allem arbeiten sie an einer abgeklärten Sicht der Dinge: Sie studiere BWL, weil man keine Politiker mehr brauche, erklärt die Protagonistin der zweiten Erzählung dem Teetrinker Barenberg. Und eine Geschichte weiter: „Jede Frau ist Konkurrenz”, sagt Lila zu ihrer Freundin Mareile, die es auf denselben Mann abgesehen hat. Und noch ein paar Geschichten weiter: Eine junge Frau igelt sich mit ihrer Smith and Wesson ein, so lange, bis ein junger Mann auftaucht, der noch autistischer zu sein scheint als sie selbst. Die Welt ist ein gemeiner Ort, voll von Verrat, klumpigem Schnee, Eltern, die im Haus verbrennen, oder Gefriertruhen, die angefüllt sind mit Hühnerleichen – Schlüsselmobiliar, das nichts Gutes erhoffen lässt.
Das Misstrauen gegenüber Idealismus, Ironie und Blümchensex wiederholt sich auf der formalen Ebene: Hauptsatz reiht sich an Hauptsatz, so lakonisch, dass nur für das Allernötigste Platz bleibt. „Wir hatten sehr viel Zeit und sehr viel Strand. Der Atlantik war ein Silberfaden zwischen Norden und Süden. Im Süden steht die amerikanische Flagge auf einer Sandzunge. Wir schauten zu ihr auf und rauchten Zigaretten. Kate sagte, wir lieben dieses Land. Ich sagte, ich liebe dich.” Ricarda Junge verzichtet auf das popliterarische Wir-Gefühl, das den Wiedererkennungsreflex der Zwanzig- bis Dreißigjährigen mit Kleidermarken oder Musikstilen bedient. Ihre Figuren sind bitterernste Einzelgängerinnen, weibliche Steppenwölfe, die etwas suchen, das nicht mit einem Gemeinschaftserlebnis verrechenbar ist.
Ganz nah dran
Dennoch ist der Gestus der Erzählungen geprägt vom Authentizitätstrend der letzten Jahre: Was andere mit der Inventarisierung der Gegenwart erreichen wollten, versucht Ricarda Junge, Jahrgang 1979 und Studentin des Leipziger Literaturinstituts, mit Hilfe eines reduktionistischen Stils, der scheinbar ganz nah dran ist am Leben. Aber diese Gier nach echten Gefühlen – „man soll saufen und rauchen und koksen” – lässt sich nur schlecht durch die Nachahmung ihrer typischen Handbewegungen einfangen. Das betont geradlinige Erzählen gerät zur Pose, weil es dem Alltag, gegen den die wütenden Heldinnen ankämpfen, nichts hinzufügen kann. Je einsilbiger von den Ausbruchsversuchen berichtet wird, desto weniger gelingt die Distanzierung von den Grautönen: Die Erzählungen gehen auf in der Wirklichkeit, die sie beschreiben, und die jungen Frauen sind stocknüchtern, obwohl sie sich nach dem Rausch als Lebensprinzip sehnen.
Auffällig ist, dass „Silberfaden” zu einem Zeitpunkt veröffentlicht wird, in dem das Ende der Spaßgesellschaft, der Popliteratur, der New Economy und anderer Lifestyleprodukte längst verkündet ist. Aber es wäre zu einfach, den Ernst dieser Erzählungen als Aufbruch in eine Post-Pop-Ära zu verstehen. Diese Ichs sind keine Antipoden zum Wir der Generation Golf, sondern ihre Ergänzung. Zwar ist Schluss mit lustig, aber der „Silberfaden” am Horizont lässt nicht auf eine neue Erzählhaltung hoffen, die dem Gestus des Authentischen etwas entgegensetzen könnte. Das unmittelbare Sichtfeld wird in genauen Beobachtungen festgehalten, nicht weniger, aber auch nicht mehr. JUTTA PERSON
RICARDA JUNGE: Silberfaden. Erzählungen. Collection S. Fischer, Frankfurt am Main 2002. 188 Seiten, 12 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Susanne Messmer entdeckt das Thema Unklarheit als Leitmotiv in den Erzählungen von Ricarda Junge, einer erst 23-jährigen Autorin, die am Leipziger Literaturinstitut studiert. Diese Schwammigkeit und Verlorenheit in der Welt zieht sich durch die Erzählungen und macht die Gedanken- und Lebenswelt von Junges Protagonistinnen aus. Sie alle - um Frauen geht es in jeder der Geschichten - "befinden sich in einem Zustand des Dazwischen". Diese diffuse Atmosphäre wird von "sachlichen, schnörkellosen, einfachen und knappen Sätzen" kontrastiert. Das Zusammenspiel von Form und Inhalt findet die Rezensentin gelungen und fühlt sich "ins Erzählte gezogen". Im Zentrum steht nach Messmers Ansicht in allen Geschichten aus Junges Erzähldebüt die Frage, ob man seinen "Gefühlen trauen kann - oder ob diese nicht fremde Wunschvorstellungen sind".
© Perlentaucher Medien GmbH
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