In Silverview betrachtet John le Carré sein Lebensthema wie unter einem Brennglas - die Welt der Geheimdienste
"Heiter-ironischer Abschied eines ganz Großen." Tobias Gohlis, Krimibestenliste
"Der beste, weiseste Erzähler von allen." Richard Osman
Julian Lawndsley hat seinen Überflieger-Job in London drangegeben für ein einfacheres Leben als Buchhändler in einem kleinen englischen Küstenort. Kaum ist er ein paar Monate dort, stört ein abendlicher Besucher seine Ruhe. Edward, ein polnischer Emigrant, der auf Silverview lebt, dem großen Anwesen am Ortsrand, scheint viel über Julians Familie zu wissen und zeigt großes Interesse an den Details seines neuen kleinen Unternehmens.
Gleichzeitig erhält in London ein Agentenführer des britischen Geheimdienstes einen Brief, der ihn vor einer undichten Stelle im Dienst warnt, und die Ermittlungen führen ihn in einen kleinen Ort an der englischen Küste ...
Silverview ist die faszinierende Geschichteeiner Begegnung, Erfahrung trifft auf Unschuld, Integrität auf Loyalität. John le Carré, einer der großen Chronisten unserer Zeit, konfrontiert uns mit der Frage, was wir den Menschen, die wir lieben, wirklich schuldig sind.
Große TV-Doku "Der Taubentunnel" ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+
"Heiter-ironischer Abschied eines ganz Großen." Tobias Gohlis, Krimibestenliste
"Der beste, weiseste Erzähler von allen." Richard Osman
Julian Lawndsley hat seinen Überflieger-Job in London drangegeben für ein einfacheres Leben als Buchhändler in einem kleinen englischen Küstenort. Kaum ist er ein paar Monate dort, stört ein abendlicher Besucher seine Ruhe. Edward, ein polnischer Emigrant, der auf Silverview lebt, dem großen Anwesen am Ortsrand, scheint viel über Julians Familie zu wissen und zeigt großes Interesse an den Details seines neuen kleinen Unternehmens.
Gleichzeitig erhält in London ein Agentenführer des britischen Geheimdienstes einen Brief, der ihn vor einer undichten Stelle im Dienst warnt, und die Ermittlungen führen ihn in einen kleinen Ort an der englischen Küste ...
Silverview ist die faszinierende Geschichteeiner Begegnung, Erfahrung trifft auf Unschuld, Integrität auf Loyalität. John le Carré, einer der großen Chronisten unserer Zeit, konfrontiert uns mit der Frage, was wir den Menschen, die wir lieben, wirklich schuldig sind.
Große TV-Doku "Der Taubentunnel" ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Anstand und Hilfsbereitschaft sollte man den Alten entgegenbringen, aber von deren "Scheiß" doch besser die Hände lassen, lernt Rezensent Tobias Gohlis von John le Carré. Eben so, wie die jungen Leute es in dessen postum erschienenem Spionageroman tun oder zu tun lernen - einem Spionageroman, dem der Autor ganz bewusst, geschickt und selbstreflektiert ein entscheidendes Element entzieht: die Auflösung, das Lüften der Geheimnisse. So behält vieles in "Silverview" einen Rest an Rätselhaftigkeit, lesen wir. Vertraut und ganz klassisch für Carré dagegen - die herrlichen Dialoge und jene berühmte "ironische Heiterkeit", mit der der Autor den Rezensenten einmal mehr in seinen Bann zieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Die Legende bleibt gewahrt
Sein Leben lang erzählte John le Carré von Geheimagenten und Spionen. In Wahrheit aber ging es
ihm immer um die Liebe. Auch in seinem letzten Roman „Silverview“
VON FRITZ GÖTTLER
Die alten Kommunikationsweisen funktionieren erstaunlich gut in diesem Buch. Wenn’s sicher und diskret sein soll, greift man am besten zum Brief, und der wird auch nicht der Post anvertraut, sondern persönlich überbracht, durch einen individuellen, vertrauenswürdigen Boten. Vertrauen ist alles, in der täglichen Arbeit der Geheimagenten und Spione, von denen John le Carré sein Leben lang erzählte, auch in seinem neuen Roman „Silverview“, der gerade auf Deutsch erschienen ist. Es ist der sechsundzwanzigste, er wurde posthum veröffentlicht, der Autor ist im vorigen Dezember gestorben, im Alter von 89 Jahren.
Den ersten Brief in diesem Buch übermittelt, in strömendem Regen, eine Tochter im Auftrag ihrer Mutter. Sie sucht dafür ein sicheres Haus in London auf, wo Stewart Proctor sie empfängt, Chef der Inlandssicherheit des britischen Geheimdienstes. Proctor the doctor, oberster Hexenjäger. In dem Brief geht es um ein mögliches Loch in diesem System. Proctor ist ausgesprochen höflich, sagt aber kein einziges Wort, das unnötig wäre. Er fordert die Tochter auf, unbedingt die Vorschule für ihren kleinen Sohn zu besichtigen, den sie dabei hat. Eben dies hatte sie als Grund für die Fahrt nach London angegeben, und der Anschein des Normalen – die Legende, so heißt das im Geheimdienstjargon – sollte unbedingt gewahrt bleiben.
Es macht den diskreten Realismus und den Charme der Romane von John le Carré aus, dass er sein Business, die Arbeit der Agenten und Spione, als im Grunde sehr provinziell beschreibt. Die Leute sind gutbürgerlich und liberal, das Wort Establishment ist ihnen suspekt, sie sind gründlich und unaufgeregt, manchmal ein wenig kleinkrämerisch, und nehmen ihren Job sehr ernst, zu ernst manchmal. Proctors Nr. 2 im Außendienst in Buenos Aires war seine Ehefrau Ellen. „Wie alle Familien dieser Art, wussten auch alle Proctors von Geburt an, dass das spirituell Allerheiligste der herrschenden Klasse von Großbritannien in ihren Geheimdiensten verborgen lag. Diese Erkenntnis, über die man nie offen sprach, ging mit einem hohen Maß an Solidarität einher.“
Es gibt eine aberwitzige Heimeligkeit in diesem Business, das ultrasichere grüne Diensttelefon der Proctors steht in der alten Spülküche hinter dem Haus auf einem roten Sockel, und Ellen hat einen Teewärmer drüber gestülpt. Man unterhält sich in ironischer Doppeldeutigkeit, und natürlich weiß Stewart, dass es sich beim archäologischen Trip seiner Frau in die Türkei eigentlich um einen Seitensprung handelt.
„Silverview“ spielt in einem Küstenstädtchen von East Anglia. Dort hat ein gewisser Julian Lawndsley eben eine Buchhandlung übernommen. Er ist dreiunddreißig und hat die Nase voll von der großen Stadt London, wo er als Star im Bankgeschäft – ein „City-Mogul“, der „teuflische trader“ – einen Haufen Geld gemacht hat. Nun ist er genervt von zu vielen Stunden im Fitnessstudio und zu vielen One-Night-Stands. Was die Literatur angeht, hat er erhebliche Lücken, und das merkt auch der weißwuschelige Gentleman mit Regenschirm und Homburg sofort, der ihn am ersten Abend, kurz vor Ladenschluss, besucht. Er stellt sich als Edward Avon vor, hat offenbar Julians Vater gekannt, einen Vikar, der dem Glauben abschwor, und fordert Julian auf: „Trauern Sie um Sebald“. W. G. Sebald ist gemeint, der deutsche Autor von „Die Ringe des Saturn“, die Avon fürs Sortiment empfiehlt, ein „literarischer Taschenspielertrick“, der von einer Pilgerreise erzählt, die im Marschland von East Anglia beginnt.
Dann schlägt er Julian ein ambitioniertes Projekt vor, eine Bibliothek im Keller seiner Buchhandlung, die das europäische Geistesleben versammelt, eine Literarische Republik, für die er gern Bücher auswählen, bestellen, einordnen würde. Ich bin eine „britische Promenadenmischung, im Ruhestand“, erklärt er Julian, „einer von des Lebens Gelegenheitsarbeitern“. Dass er mal im Geheimdienst war, erwähnt er nicht, und bald gerät der naive Julian unter dessen Observation.
Edward lebt in einem alten Herrenhaus, das seiner Frau Deborah gehört, eine Topanalystin des Geheimdienstes, und das er umtaufte in Silverview, nach der Villa Silberblick, in der Nietzsche seine letzten Lebensjahre verbrachte – Nietzsche, Hitlers Lieblingsphilosoph, der historisch zu schlecht weggekommen sei. So suspekt wie die geplante Literarische Republik war dem Geheimdienst schon der Handel mit Stücken einer Kollektion von chinesischem Porzellan, an dem Edward auch beteiligt war, Ming blauweiß.
Als Agent war Edward, der auch unter dem Namen Teddy oder Florian auftritt oder mit Faustus unterzeichnet, ungemein effektiv. Der Vater war Pole, er lehrte vor seinem Umschwenken als Geschichtsprofessor in Danzig, hat sich dann quasi selber angeworben, ein Agent nicht des Geldes oder des Spaßes wegen, sondern aus Überzeugung. Im Bosnienkrieg geriet er dann in ein verstörendes Geschehen um ein kleines muslimisches Dorf und eine jordanische Arztfamilie dort und eine Frau. „Wir haben ihn ausgeweidet“, heißt es im Nachhinein über Edwards Aktivitäten. Seine Frau Deborah hat nun Krebs und nicht mehr lang zu leben, und sie hat Edward im Verdacht, zu seinen jugendlichen linken Idealen zurückgekehrt zu sein und in ihrem Geheimdienstmaterial herumgeschnüffelt zu haben. Was einen tollen Agenten auszeichnet, das persönliche Engagement, kann ihn plötzlich zum Verräter machen.
Der britische Geheimdienst ist ein altes Business, nicht nur weil John le Carré seit Jahrzehnten darüber schreibt – sein erster Roman, „Schatten von gestern“ erschien 1961 –, sondern weil die Leute in „Silverview“ nicht daran denken, auf ihre tradierten Hilfsmittel und bewährte Methoden zu verzichten – so angenehm old-fashioned ist das Milieu auch in den Romanen der nächsten oder übernächsten Generation, wie denen von Mick Herron um Jackson Lamb und seine ausgemusterte Truppe aus dem Slough House. Aggressive Methoden wie Spionage-Software und Hacking kommen nicht vor, und auch in die Bauten der Militärbasen des Kalten Kriegs findet man Zutritt, hundert Meter unter der Erde. Hier denkt man das Undenkbare.
Das Undenkbare denken, das ist aktueller denn je, seitdem Boris Johnson mit seinen Brexitvisionen alte britische imperiale Großmachtträume reaktivierte – John le Carré ist ein vehementer Brexit-Gegner gewesen. Deborah hatte, im Vorfeld des zweiten Irakkriegs, in ihrem Thinktank extreme Vorschläge: „Basierte auf bester Spionagearbeit, aber angetrieben von einer politischen Idee, hätte man den Eindruck haben können, nicht von einem zuverlässigen Sinn für die Realität. Simultanes Bombardement islamischer Hauptstädte, Überlassung des Gazastreifens und des Südlibanons an Israel, gezielte Attentatsprogramme auf Staatsoberhäupter, riesige Geheimarmeen aus internationalen Söldnern, die in der Region Chaos verbreiten, im Namen von Personen, die wir nicht mochten.“ Schon lange war Deborah nicht mehr die Frau in Edwards Leben gewesen.
John le Carrés Romane bezaubern, weil sie alle Liebesgeschichten sind, in der Tradition der großen Romane des 19. Jahrhunderts, der französischen mehr noch als der englischen. Den entscheidenden Brief dieses Buchs wird Julian in London übermitteln, im Auftrag Edwards. Er wird sie im Everyman Kino treffen und ihr Briefpapier kaufen und ein Klebeband, um ihre Antwort zu verschließen, all das Drumherum, das so wichtig ist für die Fragmente der Sprache der Liebe. Julian wird und will nicht wissen, was in den Briefen steht. Er berichtet Edward nach der Rückkehr: „Sie hat ihren Frieden gefunden. So ihre Worte. Und sie ist schön. Das hat sie natürlich nicht gesagt. Aber das sage ich.“ Ist eine schönere Liebesszene denkbar? Natürlich bleibt die Exkursion dem Geheimdienst nicht verborgen, und das ganze Drumherum. Das aber ist so wichtig für den Diskurs der Liebe, damit vieles dann ungesagt bleiben kann.
Zu viele Stunden Fitnessstudio,
zu viele One-Night-Stands,
zu wenig Literatur
Le Carré war Brexit-Gegner.
Und seine Figuren haben
extreme politische Einfälle
Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter und internationale Bestsellerautor John le Carré starb am 12. Dezember 2020.
Foto: Christian Charisius/dpa
John le Carré:
Silverview. Roman.
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Ullstein, Berlin 2021.
252 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sein Leben lang erzählte John le Carré von Geheimagenten und Spionen. In Wahrheit aber ging es
ihm immer um die Liebe. Auch in seinem letzten Roman „Silverview“
VON FRITZ GÖTTLER
Die alten Kommunikationsweisen funktionieren erstaunlich gut in diesem Buch. Wenn’s sicher und diskret sein soll, greift man am besten zum Brief, und der wird auch nicht der Post anvertraut, sondern persönlich überbracht, durch einen individuellen, vertrauenswürdigen Boten. Vertrauen ist alles, in der täglichen Arbeit der Geheimagenten und Spione, von denen John le Carré sein Leben lang erzählte, auch in seinem neuen Roman „Silverview“, der gerade auf Deutsch erschienen ist. Es ist der sechsundzwanzigste, er wurde posthum veröffentlicht, der Autor ist im vorigen Dezember gestorben, im Alter von 89 Jahren.
Den ersten Brief in diesem Buch übermittelt, in strömendem Regen, eine Tochter im Auftrag ihrer Mutter. Sie sucht dafür ein sicheres Haus in London auf, wo Stewart Proctor sie empfängt, Chef der Inlandssicherheit des britischen Geheimdienstes. Proctor the doctor, oberster Hexenjäger. In dem Brief geht es um ein mögliches Loch in diesem System. Proctor ist ausgesprochen höflich, sagt aber kein einziges Wort, das unnötig wäre. Er fordert die Tochter auf, unbedingt die Vorschule für ihren kleinen Sohn zu besichtigen, den sie dabei hat. Eben dies hatte sie als Grund für die Fahrt nach London angegeben, und der Anschein des Normalen – die Legende, so heißt das im Geheimdienstjargon – sollte unbedingt gewahrt bleiben.
Es macht den diskreten Realismus und den Charme der Romane von John le Carré aus, dass er sein Business, die Arbeit der Agenten und Spione, als im Grunde sehr provinziell beschreibt. Die Leute sind gutbürgerlich und liberal, das Wort Establishment ist ihnen suspekt, sie sind gründlich und unaufgeregt, manchmal ein wenig kleinkrämerisch, und nehmen ihren Job sehr ernst, zu ernst manchmal. Proctors Nr. 2 im Außendienst in Buenos Aires war seine Ehefrau Ellen. „Wie alle Familien dieser Art, wussten auch alle Proctors von Geburt an, dass das spirituell Allerheiligste der herrschenden Klasse von Großbritannien in ihren Geheimdiensten verborgen lag. Diese Erkenntnis, über die man nie offen sprach, ging mit einem hohen Maß an Solidarität einher.“
Es gibt eine aberwitzige Heimeligkeit in diesem Business, das ultrasichere grüne Diensttelefon der Proctors steht in der alten Spülküche hinter dem Haus auf einem roten Sockel, und Ellen hat einen Teewärmer drüber gestülpt. Man unterhält sich in ironischer Doppeldeutigkeit, und natürlich weiß Stewart, dass es sich beim archäologischen Trip seiner Frau in die Türkei eigentlich um einen Seitensprung handelt.
„Silverview“ spielt in einem Küstenstädtchen von East Anglia. Dort hat ein gewisser Julian Lawndsley eben eine Buchhandlung übernommen. Er ist dreiunddreißig und hat die Nase voll von der großen Stadt London, wo er als Star im Bankgeschäft – ein „City-Mogul“, der „teuflische trader“ – einen Haufen Geld gemacht hat. Nun ist er genervt von zu vielen Stunden im Fitnessstudio und zu vielen One-Night-Stands. Was die Literatur angeht, hat er erhebliche Lücken, und das merkt auch der weißwuschelige Gentleman mit Regenschirm und Homburg sofort, der ihn am ersten Abend, kurz vor Ladenschluss, besucht. Er stellt sich als Edward Avon vor, hat offenbar Julians Vater gekannt, einen Vikar, der dem Glauben abschwor, und fordert Julian auf: „Trauern Sie um Sebald“. W. G. Sebald ist gemeint, der deutsche Autor von „Die Ringe des Saturn“, die Avon fürs Sortiment empfiehlt, ein „literarischer Taschenspielertrick“, der von einer Pilgerreise erzählt, die im Marschland von East Anglia beginnt.
Dann schlägt er Julian ein ambitioniertes Projekt vor, eine Bibliothek im Keller seiner Buchhandlung, die das europäische Geistesleben versammelt, eine Literarische Republik, für die er gern Bücher auswählen, bestellen, einordnen würde. Ich bin eine „britische Promenadenmischung, im Ruhestand“, erklärt er Julian, „einer von des Lebens Gelegenheitsarbeitern“. Dass er mal im Geheimdienst war, erwähnt er nicht, und bald gerät der naive Julian unter dessen Observation.
Edward lebt in einem alten Herrenhaus, das seiner Frau Deborah gehört, eine Topanalystin des Geheimdienstes, und das er umtaufte in Silverview, nach der Villa Silberblick, in der Nietzsche seine letzten Lebensjahre verbrachte – Nietzsche, Hitlers Lieblingsphilosoph, der historisch zu schlecht weggekommen sei. So suspekt wie die geplante Literarische Republik war dem Geheimdienst schon der Handel mit Stücken einer Kollektion von chinesischem Porzellan, an dem Edward auch beteiligt war, Ming blauweiß.
Als Agent war Edward, der auch unter dem Namen Teddy oder Florian auftritt oder mit Faustus unterzeichnet, ungemein effektiv. Der Vater war Pole, er lehrte vor seinem Umschwenken als Geschichtsprofessor in Danzig, hat sich dann quasi selber angeworben, ein Agent nicht des Geldes oder des Spaßes wegen, sondern aus Überzeugung. Im Bosnienkrieg geriet er dann in ein verstörendes Geschehen um ein kleines muslimisches Dorf und eine jordanische Arztfamilie dort und eine Frau. „Wir haben ihn ausgeweidet“, heißt es im Nachhinein über Edwards Aktivitäten. Seine Frau Deborah hat nun Krebs und nicht mehr lang zu leben, und sie hat Edward im Verdacht, zu seinen jugendlichen linken Idealen zurückgekehrt zu sein und in ihrem Geheimdienstmaterial herumgeschnüffelt zu haben. Was einen tollen Agenten auszeichnet, das persönliche Engagement, kann ihn plötzlich zum Verräter machen.
Der britische Geheimdienst ist ein altes Business, nicht nur weil John le Carré seit Jahrzehnten darüber schreibt – sein erster Roman, „Schatten von gestern“ erschien 1961 –, sondern weil die Leute in „Silverview“ nicht daran denken, auf ihre tradierten Hilfsmittel und bewährte Methoden zu verzichten – so angenehm old-fashioned ist das Milieu auch in den Romanen der nächsten oder übernächsten Generation, wie denen von Mick Herron um Jackson Lamb und seine ausgemusterte Truppe aus dem Slough House. Aggressive Methoden wie Spionage-Software und Hacking kommen nicht vor, und auch in die Bauten der Militärbasen des Kalten Kriegs findet man Zutritt, hundert Meter unter der Erde. Hier denkt man das Undenkbare.
Das Undenkbare denken, das ist aktueller denn je, seitdem Boris Johnson mit seinen Brexitvisionen alte britische imperiale Großmachtträume reaktivierte – John le Carré ist ein vehementer Brexit-Gegner gewesen. Deborah hatte, im Vorfeld des zweiten Irakkriegs, in ihrem Thinktank extreme Vorschläge: „Basierte auf bester Spionagearbeit, aber angetrieben von einer politischen Idee, hätte man den Eindruck haben können, nicht von einem zuverlässigen Sinn für die Realität. Simultanes Bombardement islamischer Hauptstädte, Überlassung des Gazastreifens und des Südlibanons an Israel, gezielte Attentatsprogramme auf Staatsoberhäupter, riesige Geheimarmeen aus internationalen Söldnern, die in der Region Chaos verbreiten, im Namen von Personen, die wir nicht mochten.“ Schon lange war Deborah nicht mehr die Frau in Edwards Leben gewesen.
John le Carrés Romane bezaubern, weil sie alle Liebesgeschichten sind, in der Tradition der großen Romane des 19. Jahrhunderts, der französischen mehr noch als der englischen. Den entscheidenden Brief dieses Buchs wird Julian in London übermitteln, im Auftrag Edwards. Er wird sie im Everyman Kino treffen und ihr Briefpapier kaufen und ein Klebeband, um ihre Antwort zu verschließen, all das Drumherum, das so wichtig ist für die Fragmente der Sprache der Liebe. Julian wird und will nicht wissen, was in den Briefen steht. Er berichtet Edward nach der Rückkehr: „Sie hat ihren Frieden gefunden. So ihre Worte. Und sie ist schön. Das hat sie natürlich nicht gesagt. Aber das sage ich.“ Ist eine schönere Liebesszene denkbar? Natürlich bleibt die Exkursion dem Geheimdienst nicht verborgen, und das ganze Drumherum. Das aber ist so wichtig für den Diskurs der Liebe, damit vieles dann ungesagt bleiben kann.
Zu viele Stunden Fitnessstudio,
zu viele One-Night-Stands,
zu wenig Literatur
Le Carré war Brexit-Gegner.
Und seine Figuren haben
extreme politische Einfälle
Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter und internationale Bestsellerautor John le Carré starb am 12. Dezember 2020.
Foto: Christian Charisius/dpa
John le Carré:
Silverview. Roman.
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Ullstein, Berlin 2021.
252 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2021Tollerei der Meisterspione
Kein Vermächtnis und auch nicht sein letzter Roman: John le Carrés "Silverview" führt noch einmal ins Schlamassel der Geheimdienste.
Wenn nach dem Tod eines Schriftstellers ein Manuskript im Nachlass gefunden und als letzter Roman angepriesen wird, ist die Versuchung groß, darin ein literarisches Testament zu sehen. Es wäre jedoch falsch, John le Carrés zehn Monate nach seinem Tod erschienenen Roman "Silverview" als solches zu deuten, schon deswegen, weil es sich streng genommen nicht um einen letzten Roman handelt.
Le Carré scheint die Spionagegeschichte bereits vor mehreren Jahren verfasst zu haben. Danach sind von ihm noch ein Erinnerungsband und zwei Romane publiziert worden. Warum hat er den Roman zur Seite gelegt? Sein Agent behauptet, der Autor sei durch die Arbeit an der 2015 unter seiner Mithilfe veröffentlichten Biographie von Adam Sisman derart aus der Bahn geworfen worden, dass er das Manuskript zu den Akten gelegt habe. Während der Biograph forschte, berichtete le Carré ironisch, Sisman foltere ihn. "Ich winde mich und tue so, als täte es nicht weh." Dabei hatte er das Projekt autorisiert.
Le Carrés Sohn Nick Cornwell mutmaßte in der Times, seinem Vater mochte unwohl dabei gewesen sein, im Roman eine unsympathische, an Krebs sterbende Figur erschaffen zu haben, in der manche vielleicht meinen würden, seine Frau zu erkennen, obwohl deren Krankheit erst später diagnostiziert worden sei. Womöglich habe sein Vater auch Bedenken gehabt wegen des negativen Bildes des Geheimdiensts in "Silverview". Dagegen spricht, dass le Carré sich in anderen Büchern weitaus schärfer über die Missstände des "Circus" geäußert hat, den er in seiner schäbigen Selbstgefälligkeit stets als Metapher für das postimperiale Britannien darstellte. Immer wieder sprach er davon, dass der Geheimdienst das Unterbewusstsein der Gesellschaft verkörpere.
"Silverview" führt auf bekanntes Terrain. Es geht um "ein noch nie dagewesenes Riesenschlamassel allererster Güte". Erneut greift der Autor das Motiv einer gammeligen Institution von zweifelhafter Moral auf. Da ist sarkastisch von "Großbritanniens Meisterspionen" die Rede, vom "feinen britischen Geheimdienst" und davon, dass "Teile des Geheimdienstes sich einer schwindelerregenden Tollerei durch die wilden Auswüchse kolonialer Fantasien hingegeben hatten". Es ist bezeichnend, dass le Carré sich in seinem an der englischen Ostküste angesiedelten Roman W. G. Sebalds Buch "Die Ringe des Saturn" bedient. Dessen Wanderung in dieser Gegend ist auch eine Wanderung durch zivilisatorische Selbstzerstörung. In "Silverview" legt der anglisierte Pole Edward Avon, eine der geschädigten Figuren, denen le Carré Züge seines eigenen zerrissenen Wesens einschreibt, einem neuen Bekannten "Die Ringe des Saturn" als "eine Pilgerreise" ans Herz, "die im Marschland von East Anglia beginnt und das gesamte kulturelle Erbe Europas einbezieht".
Die Jagd nach dem Verräter führt nach Orford, jener geheimen militärischen Forschungsstätte an einer kiesigen Landzunge, die im Kalten Krieg zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen genutzt und dann der Natur überlassen wurde. Sebald sah in den Ruinen der Betoneinrichtungen "die Überreste unserer eigenen, in einer zukünftigen Katastrophe zugrundegegangenen Zivilisation". Dieser Gedanke beschleicht auch Stewart Proctor, Chef der Inlandssicherheit und "oberster Hexenjäger" des Dienstes, als er im Zuge seiner Ermittlungen durch eine noch aktive geheime Atomwaffenanlage nahe Orford geführt wird. "In ein paar Jahren, so Proctors Prognose, würde eine gut informierte Dame von National Trust oder von English Heritage denselben, einer strengen Zensur unterzogenen Vortrag zur Erbauung von Touristen präsentieren."
Gelegentlich liest sich das kurzweilige Buch sogar wie eine Le-Carré-Persiflage mit vertrauten Leitmotiven, die Authentizität vortäuschen sollen: Unzuverlässige Väter, untreue Frauen, englische Privatschulen und auch die Liebe zur deutschen Kultur. Der Titel bezieht sich auf Nietzsches Villa Silberblick in Weimar, deren anglisierter Name der hochgebildete Avon als Hommage an "den Fürsprecher der individuellen Freiheit" für sein Haus übernommen hat.
Von E. M. Forster stammt der viel zitierte Satz, dass er hoffe, bei der Wahl, entweder sein Vaterland oder seinen Freund verraten zu müssen, den Mut zu haben, sein Vaterland zu verraten. Le Carré formuliert die Frage etwas anders. Seine Antihelden entscheiden sich zwischen ihren Idealen und ihrem Vaterland meist dann, wenn sie ihre Ideale vom Vaterland verraten sehen. GINA THOMAS
John le Carré: "Silverview". Roman.
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Ullstein Verlag, Berlin 2021. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kein Vermächtnis und auch nicht sein letzter Roman: John le Carrés "Silverview" führt noch einmal ins Schlamassel der Geheimdienste.
Wenn nach dem Tod eines Schriftstellers ein Manuskript im Nachlass gefunden und als letzter Roman angepriesen wird, ist die Versuchung groß, darin ein literarisches Testament zu sehen. Es wäre jedoch falsch, John le Carrés zehn Monate nach seinem Tod erschienenen Roman "Silverview" als solches zu deuten, schon deswegen, weil es sich streng genommen nicht um einen letzten Roman handelt.
Le Carré scheint die Spionagegeschichte bereits vor mehreren Jahren verfasst zu haben. Danach sind von ihm noch ein Erinnerungsband und zwei Romane publiziert worden. Warum hat er den Roman zur Seite gelegt? Sein Agent behauptet, der Autor sei durch die Arbeit an der 2015 unter seiner Mithilfe veröffentlichten Biographie von Adam Sisman derart aus der Bahn geworfen worden, dass er das Manuskript zu den Akten gelegt habe. Während der Biograph forschte, berichtete le Carré ironisch, Sisman foltere ihn. "Ich winde mich und tue so, als täte es nicht weh." Dabei hatte er das Projekt autorisiert.
Le Carrés Sohn Nick Cornwell mutmaßte in der Times, seinem Vater mochte unwohl dabei gewesen sein, im Roman eine unsympathische, an Krebs sterbende Figur erschaffen zu haben, in der manche vielleicht meinen würden, seine Frau zu erkennen, obwohl deren Krankheit erst später diagnostiziert worden sei. Womöglich habe sein Vater auch Bedenken gehabt wegen des negativen Bildes des Geheimdiensts in "Silverview". Dagegen spricht, dass le Carré sich in anderen Büchern weitaus schärfer über die Missstände des "Circus" geäußert hat, den er in seiner schäbigen Selbstgefälligkeit stets als Metapher für das postimperiale Britannien darstellte. Immer wieder sprach er davon, dass der Geheimdienst das Unterbewusstsein der Gesellschaft verkörpere.
"Silverview" führt auf bekanntes Terrain. Es geht um "ein noch nie dagewesenes Riesenschlamassel allererster Güte". Erneut greift der Autor das Motiv einer gammeligen Institution von zweifelhafter Moral auf. Da ist sarkastisch von "Großbritanniens Meisterspionen" die Rede, vom "feinen britischen Geheimdienst" und davon, dass "Teile des Geheimdienstes sich einer schwindelerregenden Tollerei durch die wilden Auswüchse kolonialer Fantasien hingegeben hatten". Es ist bezeichnend, dass le Carré sich in seinem an der englischen Ostküste angesiedelten Roman W. G. Sebalds Buch "Die Ringe des Saturn" bedient. Dessen Wanderung in dieser Gegend ist auch eine Wanderung durch zivilisatorische Selbstzerstörung. In "Silverview" legt der anglisierte Pole Edward Avon, eine der geschädigten Figuren, denen le Carré Züge seines eigenen zerrissenen Wesens einschreibt, einem neuen Bekannten "Die Ringe des Saturn" als "eine Pilgerreise" ans Herz, "die im Marschland von East Anglia beginnt und das gesamte kulturelle Erbe Europas einbezieht".
Die Jagd nach dem Verräter führt nach Orford, jener geheimen militärischen Forschungsstätte an einer kiesigen Landzunge, die im Kalten Krieg zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen genutzt und dann der Natur überlassen wurde. Sebald sah in den Ruinen der Betoneinrichtungen "die Überreste unserer eigenen, in einer zukünftigen Katastrophe zugrundegegangenen Zivilisation". Dieser Gedanke beschleicht auch Stewart Proctor, Chef der Inlandssicherheit und "oberster Hexenjäger" des Dienstes, als er im Zuge seiner Ermittlungen durch eine noch aktive geheime Atomwaffenanlage nahe Orford geführt wird. "In ein paar Jahren, so Proctors Prognose, würde eine gut informierte Dame von National Trust oder von English Heritage denselben, einer strengen Zensur unterzogenen Vortrag zur Erbauung von Touristen präsentieren."
Gelegentlich liest sich das kurzweilige Buch sogar wie eine Le-Carré-Persiflage mit vertrauten Leitmotiven, die Authentizität vortäuschen sollen: Unzuverlässige Väter, untreue Frauen, englische Privatschulen und auch die Liebe zur deutschen Kultur. Der Titel bezieht sich auf Nietzsches Villa Silberblick in Weimar, deren anglisierter Name der hochgebildete Avon als Hommage an "den Fürsprecher der individuellen Freiheit" für sein Haus übernommen hat.
Von E. M. Forster stammt der viel zitierte Satz, dass er hoffe, bei der Wahl, entweder sein Vaterland oder seinen Freund verraten zu müssen, den Mut zu haben, sein Vaterland zu verraten. Le Carré formuliert die Frage etwas anders. Seine Antihelden entscheiden sich zwischen ihren Idealen und ihrem Vaterland meist dann, wenn sie ihre Ideale vom Vaterland verraten sehen. GINA THOMAS
John le Carré: "Silverview". Roman.
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Ullstein Verlag, Berlin 2021. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
John le Carrés Romane bezaubern, weil sie alle Liebesgeschichten sind, in der Tradition der großen Romane des 19. Jahrhunderts, der französischen mehr noch als der englischen. Fritz Göttler Süddeutsche Zeitung