Produktdetails
  • Philo Bücherei
  • Verlag: Philo Verlagsges.
  • Seitenzahl: 180
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 232g
  • ISBN-13: 9783825700980
  • Artikelnr.: 24622013
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.1999

Kein Wasser für den Chef
Die bewegte Familiengeschichte des Boris Schumatsky unter Stalin

Stalin benutzte das Telefon als Einschüchterungsapparat, als Instrument seiner Unberechenbarkeit. Die überrumpelten Zeitgenossen erschraken sehr: Die Stimme des Führers klang immer schon wie aus dem Jenseits. Den 31. Dezember 1937 verbrachte der Altbolschewik Boris Schumatsky mit seiner Familie auf einer Datscha für Parteifunktionäre in Morosowka. Da klingelte das Telefon. Nicht die Stimme eines Herrn, nur jene von Stalins Privatsekretär Proskrjobyschew kam aus dem Apparat: "Genosse Stalin bittet Sie zur Silvesterfeier in den Kreml." Doch Schumatsky, der Leiter der Hauptverwaltung "Sojus-Kino", mithin der gesamten Filmproduktion des Landes, hatte Besseres vor. Als Grund für seine Absage führte er an, das Fest im Kreis seiner Familie feiern zu wollen, und legte auf. Das Telefon klingelte gleich noch einmal. Wieder der Sekretär, der verkündete: "Der Chef ärgert sich." Der Wagen war bereits unterwegs, um Schumatsky abzuholen.

Im Kreml fügt Schumatsky dem ersten Fehltritt einen zweiten hinzu. Er liebt die russischen Besäufnisse nicht, trinkt nie Alkohol, und als man auf das vergangene Jahr 1937 anstößt, hat er nur ein Glas Mineralwasser in der Hand. In Stalins trinkseligem Heimatland Georgien ist das eine Beleidigung und ein böses Omen. Der "geniale Führer der Werktätigen" war in solchen Dingen sehr sensibel. Zwanzig Jahre waren seit der Oktoberrevolution vergangen, 1937 war "Stalins Jahr" in mehrfacher Hinsicht (auch der Höhepunkt der "Tschistka", des Säuberungsterrors). Stalin zu Schumatsky: "Du hast anscheinend keine Lust, auf mein Wohl zu trinken."

Am 2. Januar 1938 wird der renitente Nichttrinker seines Amtes enthoben und am 18. Januar vom NKWD abgeholt und inhaftiert. Die zeitliche Differenz war Stalins "Gnadenfrist", die dem Altbolschewiken erlauben sollte, sich selbst zu erschießen. Doch nicht die geschilderten Fehltritte waren die wahre Ursache für die Verhaftung. Stalin hatte bekanntlich ein Elefantengedächtnis und war überaus rachsüchtig. Ausschlaggebend war ein Vorfall im Jahre 1921, als Stalin Volkskommissar für nationale Angelegenheiten war und es ablehnte, dem sibirischen Volk der Burjäten Autonomie zu gewähren. Schumatsky aber, der schon ab 1903 für die Bolschewiki agitiert hatte und einer der wichtigsten Revolutionsführer in Sibirien war, überzeugte Lenin von der Notwendigkeit der Autonomie. Stalin mußte klein beigeben. Doch er vergaß keine seiner Niederlagen.

Der 1965 geborene Urenkel des Altbolschewiken Schumatsky, an der FU Berlin promovierender Politologe mit demselben Vornamen wie sein Urgroßvater, legt nun die bewegte Geschichte seiner Familie vor. Sein Buch gehört zu den notwendigen Zeugnissen, die seit dem Untergang der Sowjetunion entstanden und als Beiträge zu einer russischen Vergangenheitsbewältigung zu verstehen sind. Es bietet die Innenansicht einer altbolschewikischen Familie, unprätentiös geschildert, um Nüchternheit bemüht, und ist dennoch ein spannender Bericht. Einige wenige sprachliche Ungenauigkeiten wird man dem Autor nachsehen: Der als Ort der Schauprozesse und Aufbahrungsstätte Stalins berüchtigte Säulensaal des ehemaligen Moskauer Adelsklubs und späteren "Hauses der Gewerkschaften" etwa wird beharrlich als "Kolonnensaal des Hauses der Sowjets" verballhornt.

Schumatskys Familiengeschichte ist ein Zeugnis von hohem dokumentarischem Wert. Der Autor durchforstete KGB-Archive, befragte Zeitgenossen, konsultierte in der Familie kursierende Notizbücher und Tonbandaufzeichnungen. Der Urenkel klagt nicht an, enthält sich aber auch jeder Beschönigung oder Verklärung seiner bolschewikischen Vorfahren, für die es völlig selbstverständlich war, Stalins "Liquidierung des Kulakentums als Klasse" mit den Millionen Menschenopfern gutzuheißen. Die Frage, ob die Familienmitglieder Opfer oder Täter waren, bleibt unbeantwortet - oder dem Leser überlassen, was dem Buch zum Vorteil gereicht.

Nach dem Konflikt mit Stalin von 1921 war Schumatskys Parteikarriere nicht am Ende, aber doch angeschlagen. Zunächst wurde er als sowjetischer Botschafter nach Teheran geschickt, konnte später aber immerhin zum Leiter von "Sojus-Kino" aufsteigen und die Filmproduktion der dreißiger Jahre maßgeblich bestimmen. Die sowjetische Filmindustrie sollte Hollywoods Produktion überflügeln, und Schumatsky reiste einmal selbst dorthin, um sich ein bisschen umzusehen. Ein Foto zeigt ihn an der Seite Charlie Chaplins. In dem Buch gibt es auch interessante Details zur Karriere Eisensteins. Der Filmminister Schumatsky mochte den großen Experimentator Eisenstein nicht - er war mehr für simpel gefügte Agitprop-Schwänke - und wollte ihn sogar ganz vom sowjetischen Film entfernen. Sein Verdikt scheiterte an Molotow, der für Eisensteins weitere "Verwendung" plädierte. Tatsächlich erwies sich Eisenstein noch als nützlich, nach der geschmähten "Beschin-Wiese" lieferte er wieder Linientreues: Mit dem Film "Alexander Newski" war Stalin durchaus zufrieden. Auch die peinlichen Pannen um Michail Romms Jubiläumsfilm "Lenin im Oktober" von 1937 werden in dem Buch sehr anschaulich geschildert.

Der noch 1935 mit dem Leninorden ausgezeichnete Schumatsky gestand nach seiner Verhaftung im Januar 1938 - gewiß nach schlimmen Folterungen - alles, was der Untersuchungsrichter hören wollte. Sämtliche Anklageklischees, mit denen Stalins "Organe" die Altbolschewiki überhäuften, finden sich im Verhörprotokoll wieder: Sabotage, Spionage, Trotzkismus, ein geplantes Attentat auf Stalin im Film-Vorführsaal des Kreml mit Quecksilberdämpfen, die aus den Projektoren hätten strömen sollen, und so weiter. Das Giftmärchen steht exemplarisch für die absurden Anschuldigungen zur Zeit des "Großen Terrors", als Stalin sich der Revolutionäre der ersten Stunde entledigte. Schumatsky wurde als Volksfeind am 1. August 1938 erschossen.

Auch das Schicksal der Töchter des prinzipientreuen Bolschewiken wird nüchtern geschildert, der Autor braucht kein Pathos, die Ereignisse sorgen selbst für Dramatik. Vor allem der Lebensweg der Tochter Katja von der "sowjetischen Prinzessin" zur unsicheren Existenz eines Volksfeind-Kindes ist bemerkenswert. Nach ihrem Einsatz im Zweiten Weltkrieg, als Lastwagenfahrerin in Frontnähe, wird die junge Frau 1951 noch einmal für ihre Eltern bestraft und nach Kasachstan verbannt. Stalin hatte verkündet, der Sohn sei für die Fehler des Vaters nicht verantwortlich: Mit diesem Trick rief der "besondere Beschützer der Jugend" Kinder dazu auf, nach dem Propagandabeispiel des Pawlik Morosow die eigenen Eltern zu denunzieren. Der NKWD aber praktizierte nicht nur zur Zeit des großen Terrors Sippenhaftung.

Kurz vor Stalins Tod bekommt der Vater des Autors auch noch die Wucht des sowjetischen Antisemitismus zu spüren. Nach der Pressekampagne gegen die "Mörder in weißen Kitteln", die jüdischen Kremlärzte, die angeblich ein Attentat auf den Führer geplant hatten, herrschte in der Sowjetunion wieder Pogromstimmung. Der späte Stalin fand auch auf diesem Gebiet den Anschluß an die trüben Machenschaften der zaristischen Ochrana-Geheimpolizei.

Alle Generationen überstrahlt die Urgroßmutter Lija, die als Berufsrevolutionärin an der Seite ihres Ehemannes jahrelang in Sibirien im Untergrund agitierte, 1938 gleichzeitig mit Boris Schumatsky verhaftet wurde, während des Verhörs einen Herzinfarkt erlitt und vom NKWD zum Sterben nach Hause geschickt wurde. Von ihrer Tochter Nora gepflegt, sollte sie Stalin um vier Jahre überleben. Bis zu ihrem Tod 1957 hing ein Stalin-Porträt über dem Esstisch (dahinter versteckte sie allerdings ein Porträt ihres erschossenen Ehemannes). Die alte Bolschewikin träumte oft von Stalin. Auch 1951, in der Nacht vor der Verhaftung ihrer Tochter Katja. Ihre Stalin-Träume kommentierte sie stets mit den Worten: "Ich habe Iossif Wissarionowitsch im Traum gesehen. Das bedeutet, etwas sehr Angenehmes wird heute passieren."

RALPH DUTLI

Boris Schumatsky: "Silvester bei Stalin". Die Geschichte einer Familie. Philo Verlag, Bodenheim bei Mainz 1999. 180 S., br., 28,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2000

Mord im Projektor
Er war Stalins Filmchef: Eine
Chronik der Familie Schumatsky
Was ist politisch, was ist persönlich. Was ist stärker, die private Rede oder der kollektive Diskurs . . . Als Ende der Achtziger das politische System der Sowjetunion am Ende war, setzte die Erinnerungsarbeit ein, der Versuch, eine Ordnung zu finden in der Überlagerung der gesellschaftlichen Diskurse.
Boris Sacharowitsch Schumatsky, der Sohn eines jüdischen Buchbinders, war ein Bolschewik der ersten Stunde. In der ersten Revolution kämpfte er mit seiner Frau Lija Issajewna in Sibirien, nach der Oktoberrevolution 1917 war er bevollmächtigter Minister in Persien, dann wurde er in Moskau zum Leiter der sowjetischen Filmindustrie. Im Jahr 1938 wurde er von den Männern des NKWD abgeholt und verschwand für immer. „Tschistka” hießen die gefürchteten willkürlichen Verhaftungen im offiziellen Jargon, Säuberung. Die Familie hörte nie wieder von Boris Sacharowitsch. Als mit der Perestrojka auch der KGB seine Archive öffnet, erfährt Schumatskys Urenkel Abenteuerliches – die Pläne für ein Komplott: Mit giftigem Quecksilberdampf aus den Filmprojektoren des Vorführraums im Kreml habe sein Urgroßvater Stalin zu ermorden versucht.
„In der Familie erzählt man eine andere Geschichte” – programmatisch zieht sich dieser Satz durch die Chronik der Familie Schumatsky, recherchiert und aufgeschrieben vom Urenkel, der wie sein Ahnherr Boris heißt. Ein bewegendes Dokument an der Schnittstelle offizieller und privater Geschichtsdeutung. Bereits der Vater, Boris Lasarewitsch, zeigte ein intensives Interesse an der Familienarchäologie, hat wichtige Vorarbeit geleistet. Mit einem Kasettenrecorder von Philips – eine Rarität in der Sowjetunion – zeichnete er seit den achtziger Jahren die Erinnerungen der Angehörigen und Bekannten auf. Dabei verwendete er Bänder mit patriotischen Parteiliedern, die von den privaten Geschichten nach und nach überlagert und gelöscht wurden – eine demonstrative Geste, die unter Stalin nach Subversion roch wie alles Private.
Doch erst als das Ende der Sowjetunion besiegelt war, vertraute auch Katja Borissowna Schumatskaja, die Großtante des Autors, sich dem Recorder an – zu tief saß die Angst, sie könnte Verbotenes, „nicht für die Öffentlichkeit Bestimmtes” preisgeben. Ihre Erklärung für das Verschwinden des Vaters ist simpel: „Stalin konnte Boris Sacharowitsch nicht leiden und dieser konnte Stalin auch nicht ausstehen. ” So wenig mochte er den großen Parteiführer, dass er am Silvesterabend 1937/38 seine Familie dem Kreml vorzog – ein tödlicher Fehler.
Von Katja Borissowna, die ihr ganzes Leben eine überzeugte Kommunistin blieb und für ihr Vaterland freiwillig in den Krieg gegen Hitler gezogen ist, erfährt man, was es bedeutete, Tochter eines Volksfeindes zu sein: Verhaftung der Eltern, Ächtung von Seiten der Freunde und Bekannten, Beschlagnahmung der Möbel und der Bücher, Ausquartierung aus der Wohnung. Bleibt nur ein Hilferuf an Stalin: „Ich bin Schülerin der 10 A Klasse der Schule Nr.  19 und Mitglied des Komsomol seit 1937. Ich bin 16 Jahre alt . . . Nach der Verhaftung meiner Eltern musste ich aus unserer Wohnung Nr. 383 im Ersten Wohnhaus der Sowjets in ein sechs oder acht Quadratmeter großes Zimmer umziehen. Bald werde ich auch aus diesem Zimmer ausquartiert . . . Bitte helfen Sie mir, lieber Iossif Wissarionaowitsch, bald muss ich wieder zur Schule, ich habe aber keinen Platz, wo ich wohnen kann. Antworten Sie mir bitte möglichst schnell. Mit Komsomolzen-Gruß Schumatskaja”. Schreibt sie verzweifelt an den „besten Freund der sowjetischen Jugend”.
Im Gegenzug wurde auch der Mann ihrer Schwester Nora, Lasar Matwejewitsch Schapiro, selbst NKWD-Mitarbeiter, verhaftet. „Am ersten Tag meiner Verhaftung wurde ich ins Gefängnis Lefortowo gebracht und dreieinhalb Tage lang unter Anwendung aller Formen physischer Gewalt ununterbrochen verhört, ohne essen oder schlafen zu dürfen, (bis) ich im Zustand völliger Erschöpfung zugab, dass ich die konterrevolutionären Aktivitäten aller vor mir verhafteten Mitarbeiter der Feuerwehr gelenkt hatte. ”
Im privaten Gedächtnis ist vor allem Platz für Anekdoten. Zum Beispiel über die ständigen Querelen des Volkskommissars für Film mit Sergej Eisenstein, der sich hartnäckig weigerte, Schumatskys Forderungen nach Unterhaltungsfilmen nachzukommen. Von der Stoffpuppe der Großmutter Nora wird erzählt, in deren Bauch während der ersten revolutionären Jahre konspirative Botschaften versteckt wurden. Auch die „wahre” Entstehungsgeschichte der Liebesgedichte „Persische Motive” von Sergej Jessenin erfährt man auf diese Weise, und warum sie den Volksdichter beinahe das Leben gekostet haben.
Doch auch das kollektive Gedächtnis ist weiter virulent, mit seinen patriotischen Momenten. Drei Jahre alt war Boris Lasarewitsch, als sein Vater im Krieg starb. In der Erinnerung verschmolz dessen Bild mit den Propagandabildern auf den Umschlägen der Frontbriefe: Ein mutiger Sowjetsoldat, der ein kleines Mädchen aus den Händen der deutschen Faschisten befreit. Ein Held, gestorben in einem gerechten Krieg. Vierzig Jahre später erfährt er von einem Augenzeugen die wahren Umstände vom Tod des Vaters: Fehlbeschuss durch eine russische Katjuscha. Der Philips-Recorder musste an dieser Stelle stillstehen: Angesichts der Unfassbarkeit dieses sinnlosen Todes trugen die Parteilieder den Sieg davon.
SYLVIA SCHÜTZ
BORIS SCHUMATSKY: Silvester bei Stalin. Philo Verlagsgesellschaft, Berlin und Bodenheim bei Mainz 1999. 180 Seiten, 28 Mark.
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