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Gibt es heute noch Wunder? Auf einem Nachtspaziergang wird Otto Jakob Zeuge, wie ein Mensch sich vom Dach seines Hauses in die Luft erhebt: Simon fliegt. Otto Jakob zweifelt keinen Augenblick am Unerklärlichen. Aber er will es verstehen, um selber fliegen zu können. Sein Freund Peter Fischer hilft ihm. Der arbeitet als Rundfunkredakteur und erhält von einem verschrobenen Autor eine Bearbeitung frühchristlicher Apostelgeschichten. Auch darin ereignet sich Unerklärliches, auch darin können Menschen fliegen. Aber Peter Fischer kommt es nicht in den Sinn, Vergleiche mit den unglaublichen Vorgängen…mehr

Produktbeschreibung
Gibt es heute noch Wunder? Auf einem Nachtspaziergang wird Otto Jakob Zeuge, wie ein Mensch sich vom Dach seines Hauses in die Luft erhebt: Simon fliegt. Otto Jakob zweifelt keinen Augenblick am Unerklärlichen. Aber er will es verstehen, um selber fliegen zu können. Sein Freund Peter Fischer hilft ihm. Der arbeitet als Rundfunkredakteur und erhält von einem verschrobenen Autor eine Bearbeitung frühchristlicher Apostelgeschichten. Auch darin ereignet sich Unerklärliches, auch darin können Menschen fliegen. Aber Peter Fischer kommt es nicht in den Sinn, Vergleiche mit den unglaublichen Vorgängen in seiner Umgebung anzustellen. Er ist zu mitgenommen vom Seitensprung seiner Frau, die ausgerechnet mit dem fliegenden Simon ein Verhältnis beginnt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.12.1998

Stille Nacht
Christian Mähr hat Ahnung · Von Heinrich Detering

Stille Nacht ist es, als Otto beim Spaziergang Zeuge eines erstaunlichen Vorfalls wird: In stillem Gleitflug segelt sein Nachbar vom Flachdach himmelwärts wie ein Engel des Herrn. Nur ein paar Meter bloß und nur zum Spaß, aber es gibt keinen Zweifel: Simon fliegt. Das ist ein Riß in der Welt, hinter dem man allerhand erwarten kann. Und der Beginn eines Romans, in dem man sich auf alles gefaßt machen muß.

Ob die stille Nacht auch eine heilige ist, das wird sich im Laufe der folgenden Weihnachtstage als eine höchst vertrackte Frage erweisen. Durch einen unerforschlichen und zweifellos himmlischen Gnadenakt mit der Gabe der Levitation ausgestattet, dreht der Nachbar seine heimlichen Runden nämlich zu durchaus profanen Zwecken: Er will eine Frau betören, die es bei ihrem Mann nicht mehr aushält und neue Abenteuer sucht. Was beide nicht wissen, ist, daß der selbst scheidungserfahrene Otto sowohl das Wunder als auch den Ehebruch beobachtet und zum Zweck heimlicher Fotoaufnahmen einen dritten Mann heranziehen wird, der nicht nur ein aufnahmetechnisch versierter Fernsehjournalist ist, sondern auch der noch ahnungslose Ehemann ebenjener Umworbenen. Im Dunkel der Weihnacht erkennt der Gefoppte zwar noch nicht seine Gattin, wohl aber die Chance für den noch fehlenden Knalleffekt eines geplanten Dokumentarfilms. Daß er außerdem und nebenbei das Manuskript eines sonderbaren Mysterienspiels über die Wundertaten des heiligen Petrus liest, hat nur so lange nichts mit dem übrigen zu tun, wie man nicht weiß, daß in den apokryphen "Acta Petri" nicht nur die Levitation eine besondere Rolle spielt, sondern auch ein teufelsbündnerischer Magier, der Simon heißt. Und wenn dann überdies der Gehörnte selbst den Namen Peter trägt, dann ist bereits auf den ersten Seiten des Romans eine Fülle von Fäden ausgelegt, deren Verknüpfung entweder in einem wirren Knäuel enden muß oder in einem überirdischen Webmuster. Wie sich zeigt, geschieht hier das letztere; und daß dem Leser dabei das Wort "Wunder" nicht aus dem Kopf will, liegt keineswegs bloß am Stoff.

Das Verwunderlichste an dieser Geschichte ist ihr unbeirrbarer Realismus. Schauplatz ist eine Kleinstadt in Vorarlberg in den neunziger Jahren. Simons Flug startet vom Boden jener Alltagswirklichkeit, in der sich vor dem abendlichen Vorstadtflaneur die Lampen über den Hauseingängen derart prompt ein- und ausschalten, daß der Angestrahlte sich unverhofft wie ein Ehrengast fühlt, in der alte Achtundsechziger neue Vorlieben für katholische Riten entwickeln und natürlich auch David Copperfields Zaubershows längst zum Bildungskanon gehören. Es ist die Welt der "Nebenerwerbslandwirte" und "Fahrdienstleiter", in der ein Trinker wie Otto sich mit den "pharmakologischen Parametern" genauso auskennt wie mit dem "kulturellen Umfeld" und in der Besserverdienende eine "hochwärmegedämmte Reihenhausanlage" bewohnen, deren Sprößlinge bald selbst in das kommen werden, was hier das "Bauplatzalter" heißt; eine Welt zwischen "Pornographie und Gartentips", in der man einander beziehungsmäßig "auf den Geist geht". Wer hier an die Hölle denkt, stellt sie sich als den Ort vor, an dem "die Gescheiterten meiner Generation die Beziehungsgespräche der siebziger Jahre führen müssen - bis ans Ende aller Tage".

In dieser Welt also geschieht das Wunder, leise und fast unbemerkt, und schneidet allen Beziehungsgesprächen sanft das Wort ab. Ist aber erst einmal ein Wunder geschehen, zieht es leicht andere nach sich. Und sie alle werden mit ebendemselben lapidaren Realismus erzählt wie Simons erster Flugversuch überm Flachdach seines Einfamilienhauses. Die Strapazen eines Fernflugs etwa, bei dem es keine anderen Hilfsmittel gibt als einen Rucksack, werden so anschaulich und plausibel geschildert, als habe der Erzähler selbst dergleichen schon oft erlebt und als sei das eine auch dem Leser nicht unvertraute Vorstellung. Tatsächlich beginnt man lesend nachzufühlen, wie das sein muß, wenn man abhebt, wenn man zur fliegenden Verrichtung der Notdurft, gegen den Luftwiderstand, in eine senkrechte Position schwenken muß oder bei Ermüdung langsam zu sinken beginnt.

Um dergleichen so schlüssig erzählen zu können, orientiert sich der Erzähler ausdrücklich an den Genreregeln von Boulevardkomödie und Kinofilm. Eben weil es dem Leben so jämmerlich an Dramaturgie fehlt, weil es in der alltäglich erfahrenen Wirklichkeit "keine äußere Handlung gibt, die diesen Namen verdient", deshalb sind wir, wie der Erzähler messerscharf schließt, "alle auf Transzendenz angewiesen". Die Vorschriften der pièce bien faite sind die formale Entsprechung der wunderbaren Fügung. Daß das wirkliche Leben spannender sei als jedes Drama, behaupten nur Leute, die "keine Ahnung vom Drama haben". Mähr aber hat. Und deshalb entwickelt sich seine Geschichte von Ehebruch und Freundschaftsverrat mit der absurden Folgerichtigkeit einer Noel-Coward-Komödie oder eben der "Acta Petri". Völlig einleuchtend vereinigen sich darum in dieser Komödie die Szenen einer Ehe mit der Heiligenlegende, das Märchen mit der Reisereportage, der auktoriale Erzähler mit dem antiken Chor. Im Wechsel der Stimmen und Genres kommt es immer anders, als man denkt, und gerade deshalb am Ende doch immer so, wie es kommen mußte.

Als Regisseur dieses Dramas muß man sich folglich einen Augustinus vorstellen, der die Bibel, Shakespeare und David Lodge gelesen hätte und sich in Kintopp- und Theatertricks von niemandem etwas vormachen ließe. Mährs Wintermärchen ist, mit anderen Worten, ein Vorarlberger Woody Allen in Hochform: eine Midwinter Night's Sex Comedy unter dem Nachthimmel einer so unerforschlich-heiligen wie kapriziösen Transzendenz, komisch, spannend und unsentimental rührend. Zwischen den drohenden Strudeln der Kauzigkeit und der Frömmelei, des Slapsticks und des Tiefsinns segelt der Erzähler so sicher dahin wie ein erfahrener und nur darum etwas übermütiger Luftschiffer. Über Zufall und Fügung, Comedy und Caritas hält seine verblüffende Dramaturgie bis zur Schlußwendung ihre beträchtliche Flughöhe durch. Und die wenigen Luftlöcher, in denen der Flieger etwas absackt, sind klein und gleich vergessen.

Wie bei Woody Allen wäre auch diese Komödie freilich nur das halbe Vergnügen ohne ihren Sprachwitz. Mähr beherrscht sehr unterschiedliche Tonfälle und Stilregister, ohne auszurutschen oder sich im Wortspiel zu verhaken. Daß ein alter Pullover weder kuschlig noch schlampig ist, sondern "schlumprig", ist seine (wie immer beiläufige) Entdeckung. Und wie klingt es, wenn die Silvesterraketen in einem Winterhimmel verschwinden, der "verborgen ist hinter strukturlosem Grau"? Natürlich so: "Gedämpftes Rumpeln, das war's dann schon." Die realistische Detailmalerei gelingt ihm so ungezwungen wie die romantische Selbstreflexion, die das eigene Erzählen ironisch kommentierend unterläuft. In dieser Sprachenwelt fallen dann auch Begriffe wie "Gnade" und "Bekehrung" ganz zwanglos; und die wunderbare Krankenheilung, die Bestrafung der Hoffart, das gerettete Eheglück, die wieder ins Lot gekommene Welt ergeben sich fast wie von selbst.

Christian Mähr hat über das Dunkel der Welt und das Licht des Wunders ein wunderbares Prosastück geschrieben, das so leicht durch die Heilige Nacht schwebt wie der zwielichtige Simon und - denn natürlich läuft es darauf hinaus - bald darauf auch der coole Otto und schließlich sogar der unheilige Peter, der sich am Ende himmelwärts aus seiner eigenen Erzählung entfernen wird. Dies ist ein in mehrfacher Hinsicht zauberhaftes Buch. Man kann mit ihm nicht nur einen Heiligen Abend, sondern auch gleich die ganze stille Nacht verbringen, glücklich und eine Handbreit über dem Boden.

Christian Mähr: "Simon fliegt". Roman. DuMont Buchverlag, Köln 1998, 266 S., geb., 39,90 Mark.

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