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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2002

Ingo Schulze: Simple Storys
1998 - Die Untergeher der DDR verpassen das Leben

Die Deutschen sind anders. Sie warten nicht auf den Frühling, die Sonne oder das Glück, nein, sie warten auf Bücher: auf Den Großen Gegenwartsroman etwa oder auf Den Wenderoman. Und wenn sie ihn endlich haben, dann wundern sie sich nicht mal mehr, daß der Mann, der ihn gebracht hat, aussieht wie ein Sozialkundelehrer mit einem Frisurproblem.

Die Deutschen haben, mit anderen Worten, Ingo Schulzes "Simple Storys" gar nicht verdient - diesen sanften Mann mit seiner schaufenstergroßen Brille, der sein Prosa-Personal freundlich lächelnd über die Kante rutschen läßt. Mit den Menschen der DDR ist es dabei ein bißchen wie mit dem Dachs, der wie ein Untoter durch einige der 29 zu einem Roman verschachtelten Geschichten wandert: Erst werden sie überfahren, und wenn man zurückkommt, um nachzuschauen, ist nichts mehr da. Es sind Menschen mit Vergangenheit, und wenn Ingo Schulze beschreibt, wie diese Menschen sich durch das Vakuum einer neuen Zeit bewegen, dann wird daraus meisterlich präzise Millimeterprosa.

Schulze erzählt von Schuld und Verstrickung, er untersucht das Gift der Lüge und der Feigheit und wie es in den Menschen entsteht, und seine Geschichten sind moralisch: nicht weil sie Antworten wissen, sondern weil sie voller Empathie sind - die Ambivalenz ist das Terrain dieser Prosa. In Momenten ist dieser "Roman aus der ostdeutschen Provinz", wie es im Untertitel heißt, von albtraumhafter Traurigkeit: wenn etwa gleich zu Beginn ein Spitzelopfer namens Zeus im verschneiten Perugia an der Fassade der Kathedrale emporklettert, und unten steht der "rote Meurer", der ihn jahrelang schikaniert hat; oder ganz am Ende, wenn Meurers Sohn und seine Kollegin in Taucherkostümen durch die verregnete Innenstadt von Altenburg watscheln, um für die "Nordsee"-Filiale Werbung zu machen - da hebt Schulze die Realität ein Stück an und läßt sie schweben. Daß dieser Trick gelingt, weil Schulze so genau kennt, wovon er berichtet, das ist der große Erfolg dieses Buches.

Schreiben ist Handwerk, die Quelle die Beobachtung, der Ton geliehen und gerade darum so eigen. Selten war deutsche Literatur so kunstvoll kunstlos wie in diesen Verlustgeschichten ohne jede Larmoyanz. Das Schwierigste ist dabei das Einfachste: zu zeigen, wie sich die Lebenstaumler jeder für sich selbst die Luft zum Atmen abschnüren. Schulze hat ein genaues Gespür für die brutale Psychologie dieser Gesellschaft, für das Kräftemessen zwischen Männern und Frauen, für das Ringen mit den Lebenslügen: Da stirbt deine Frau bei einem Fahrradunfall, und du sagst: Ich habe mir gewünscht, daß Andrea stirbt, und dann ist es passiert. "Ich starrte in meine Tasse und war fassungslos, wie ich etwas Derartiges von mir geben konnte, noch dazu ihm gegenüber, der uns verlassen hatte und glaubte, für jede Gelegenheit die passende Karte zu besitzen. Sie stürzen sich selbst in den Verkehr, der ihnen entgegenkommt."

gdi

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"Einen wenig tröstlichen deutschen Gegenwartsstoff erzählt Ingo Schulze mit vitalen amerikanischen Stilmitteln. Ein Schelmenroman in 23 short stories. Wie er aber darüber hinaus seine einzelnen Momentaufnahmen des Alltags zu einem Handlungsgeflecht verbindet, ist hohe Erzählkunst." Hajo Steinert in ›FOCUS‹

"Hier, im kleinen, zeigt sich die Virtuosität dieses Autors. Es gibt keine aufgesetzten Gefühlsfarben. Was gesprochen wird, ist dem banalen Alltag so kongenial abgewonnen, daß es ungeheuer verdichtet erscheint. Dieses genaue Hinschauen, dieses bis zur Schmerzgrenze exakte Hinhören und Wiedergeben gaukelt nichts vor. Aber es hat etwas Unerhörtes.

Die List des Autors ist dabei, sich bis zur Unkenntlichkeit zurückzuziehen. Wie bei seinem ersten Buch splittert sich der Erzählton in die verschiedensten Sprechhaltungen auf, und die eigene Sprache des Autors ist nur durch dieses Paradoxon zu fassen: sie existiert dadurch, daß sie alle möglichen Sprechweisen einnehmen kann. Ob es das übliche Beziehungskrisen-Gespräch ist oder ob sich Männer in der Kneipe über eine Frau unterhalten, ob zwei Kollegen einen ebenfalls wartenden Konkurrenten im Vorzimmer des potentiellen Auftraggebers hochnehmen, ob ein Besoffener sich in einen lyrisch-assoziativen Monolog hineinsteigert, der bis in das Platzen letzter Badeschaumbläschen hineinreicht - alle O-Töne stimmen, ohne Kunstgriffe und Stilisierungen. … Mit diesem Buch hat Ingo Schulze unter Beweis gestellt, daß er tatsächlich zu den wesentlichen zeitgenössischen Autoren in Deutschland gehört. Damit muß er nun leben."

Helmut Böttiger in der ›Frankfurter Rundschau‹

"Befreit von der Pflicht, für die Lage der Nation eine literarische Form zu finden, hat hier ein junger, überraschend souveräner Schriftsteller seinen Gegenstand und seine Sprache gefunden. Altenburg, die kleine Stadt in der ostdeutschen Provinz, hat große Chancen, zu einem Ort zu werden wie Uwe Johnsons Jerichow oder Martin Walsers Phillippsburg. Etwas Besseres konnte der deutschen Literatur nicht passieren."

Thomas Steinfeld in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹

"Für ›33 Augenblicke des Glücks‹ wurde Ingo Schulze beim Bachmann-Wettbewerb prämiert - da schrieb er wie ein Russe. In ›Simple Storys‹ versammelt er brillant-lakonische Geschichten - und plötzlich klingt die ostdeutsche Provinz wie Los Angeles." ›Der Spiegel‹, Kultur Extra
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»Immer noch einer der besten Nachwenderomane ist Ingo Schulz' >Simple Storys<, das in der thüringischen Kleinstadt Altenburg spielt.« Der Tagesspiegel 11.09.2008